AG Wesel

Merkliste
Zitieren als:
AG Wesel, Urteil vom 11.06.2010 - 7 Ds-115 Js 110/09-538/09 - asyl.net: M17307
https://www.asyl.net/rsdb/M17307
Leitsatz:

Keine Strafbarkeit der Verweigerung einer sog. Freiwilligkeitserklärung bei der iranischen Auslandsvertretung. Abgrenzung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urt. v. 10.11.2009 - 1 C 19.08 - [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 134 f.]) einerseits und der Rechtsprechung der Strafsenate des OLG Nürnberg (Urt. v. 16.1.2007 - 2 St OLG Ss 242/06 [M9527]) und des OLG München (Urt. v. 9.3.2010 - 4 St RR 102/09- [M16740]) andererseits.

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, Mitwirkungspflicht, Freiwilligkeitserklärung, Iran, Zumutbarkeit, Passpflicht
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 5, AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 48 Abs. 2, AufenthG § 49 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Angeklagten sind vom Vorwurf der fehlenden Mitwirkung bei der Beschaffung des Passersatzes aus Rechtsgründen freizusprechen. Ein strafbarer Verstoß gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 5, §§ 3, 48, und 49 AufenthG liegt nicht vor, weil den Angeklagten eine Passersatzbeschaffung unzumutbar war und ist. Nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG macht sich ein Ausländer strafbar, wenn er sich, ohne im Besitz eines gültigen Passes oder Passersatzes zu sein, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhält (§ 3 Abs. 1 AufenthG), obwohl er einen Pass in zumutbarer Weise erlangen könnte (§ 48 Abs. 2 AufenthG). Grundsätzlich kommt ein Ausländer seiner Verpflichtung, sich einen Reisepass oder Passersatzpapiere zu beschaffen, nur dann nach, wenn er zumindest einen entsprechenden Antrag bei der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates stellt. Denn im Regelfall ist es jedem Ausländer zuzumuten, bei dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er vor der Einreise in das Bundesgebiet seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, einen Pass zu beantragen, soweit kein Rechtsanspruch auf einen deutschen Passersatz besteht. Da die Angeklagten keinen entsprechenden Antrag auf Erteilung eines Passes gestellt haben, verbietet sich zwar grundsätzlich die Annahme, ein solcher sei in zumutbarer Weise nicht zu erlangen gewesen. Hierauf kommt es jedoch vorliegend nicht an, weil der Heimatstaat der Angeklagten, wie die von dem Gericht eingeholte Auskunft des Generalkonsulats der Islamischen Republik Iran ergeben hat, so hohe, im Prinzip nicht erfüllbare Hürden für eine Passersatzerteilung aufgebaut hat, so dass dies einer Passverweigerung gleichkommt. Denn das iranische Generalkonsulat verlangt die persönliche Antragstellung im Generalkonsulat und die schriftliche Erklärung des Einverständnisses. Die von dem iranischen Konsulat verlangte Freiwilligkeitserklärung ist den Angeklagten nicht zumutbar. Nach der Entscheidung des OLG Nürnberg vom 16.01.2007 (2 St OLG Ss 242/06) ist die Passbeschaffung unter dem Gesichtspunkt der geforderten Freiwilligkeitserklärung unzumutbar. Den Angeklagten kann jedenfalls nicht der strafrechtliche Vorwurf gemacht werden, ihrer Mitwirkungspflicht nicht genügt und damit vereitelt zu haben, dass ihnen ein ordnungsgemäßes Passersatzpapier ausgestellt werde. Die Passersatzbeschaffung war für die Angeklagten im Hinblick auf die geforderte Freiwilligkeitserklärung, die sie gegen ihren erklärten Willen, nicht in den Iran zurückkehren zu wollen, hätten abgeben müssen, unzumutbar. Denn mit der Freiwilligkeitserklärung des Inhalts: "Hiermit erkläre ich, dass ich freiwillig in die Islamische Republik Iran zurückkehren möchte", erschöpft sich nicht nur die Bereitschaft des Ausländers, der im Bundesgebiet bestehenden Ausreisepflicht ohne staatlichen Zwang Folge leisten zu wollen. Würde man den Ausländer wegen der Verweigerung der Freiwilligkeitserklärung bestrafen, würde man die Pflicht sanktionieren, zur Erlangung einer ausländischen Identifizierungsurkunde bewusst falsche Erklärungen abgeben zu müssen. Eine solche Handhabung wäre dem deutschen Strafrecht fremd und dürfte verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht standhalten (so das OLG München in dem Urteil vom 09.03.2010, Az.: 4 St RR 102/09). Strafrechtliche Sanktionen können aus der Tatsache, dass ein Ausländer die eigenen Heimatbehörden bei der Antragstellung auf Ausstellung eines Ersatzpapieres nicht durch die Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen täuschen möchte, nicht erfolgen. Denn der Ausländer steht vor dem für ihn unlösbaren Problem, einerseits im deutschen Verwaltungsverfahren verpflichtet zu sein, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, andererseits aber von deutschen Behörden angehalten zu werden, gegenüber den Behörden seines Heimatstaates falsche Erklärungen abzugeben, was für ihn dort im Falle des Bekanntwerdens möglicherweise zu strafrechtlicher Verfolgung führen könnte. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.11.2009, Az.: BVerwGE 1 C 19.08. Denn auch in dieser Entscheidung, die von den Ausländern grundsätzlich auch die Abgabe der Freiwilligkeitserklärung verlangt, wird klargestellt, dass die deutsche Rechtsordnung es hinnimmt, wenn sich ein Ausländer zur Abgabe einer Freiwilligkeitserklärung gegenüber einer ausländischen Stelle außerstande sieht. Denn auch nach der Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung kann die Abgabe weder rechtlich erzwungen noch gegen den Willen des Ausländers durchgesetzt werden und auch können an diese verweigerte Abgabe keine strafrechtlichen Sanktionen geknüpft werden. Diese Differenzierung zwischen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung einerseits, das heißt Verlangen einer auch unwahren Freiwilligkeitserklärung und andererseits der Nichtsanktionierung bei Verweigerung der Freiwilligkeitserklärung ist nach Auffassung des Gerichts auch berechtigt, weil im Verwaltungsverfahren diese Mitwirkung zur Erlangung eines positiven Verwaltungsaktes gerechtfertigt sein mag. Allerdings dürfen strafrechtliche Sanktionen nicht daran geknüpft werden, dass ein Ausländer sich weigert, unwahre Erklärungen gegenüber einem Konsulat abzugeben. So sind auch die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu verstehen. Dort heißt es unter anderem: "Auch wenn die Erklärung nicht erzwungen werden kann, so wird die Weigerung, sie abzugeben, vom Aufenthaltsrecht allerdings nicht honoriert." Strafrechtliche Konsequenzen können aus der Tatsache, dass ein Ausländer die eigenen Heimatbehörden bei der Antragstellung auf Ausstellung eines Passersatzpapieres nicht durch die Abgabe wahrheitswidriger Erklärungen täuschen möchte, nicht gezogen werden. Denn der Ausländer steht vor dem für ihn unlösbaren Problem, einerseits im deutschen Verwaltungsverfahren verpflichtet zu sein, wahrheitsgemäße Angaben zu machen, andererseits aber von deutschen Behörden angehalten zu werden, gegenüber den Behörden seines Heimatstaates falsche Erklärungen abzugeben, was für ihn dort im Falle des Bekanntwerdens möglicherweise zu strafrechtlicher Verfolgung führen könnte. Zu Recht fordert das Ausländerstrafrecht von einem nach Deutschland gekommen Ausländer wahrheitsgemäße Angaben. Denn bereits das einfache Gesetz stellt ausdrücklich unrichtige Angaben eines Ausländers unter Strafe, wie sich aus § 95 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG und § 95 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 49 Abs. 1 AufenthG ergibt. Mithin kann das Nichtlügen eines Ausländers gegenüber seiner Heimatbehörde bei der Antragstellung des Passersatzes - wegen Unzumutbarkeit - strafrechtlich nicht sanktioniert werden. [...]