VG Weimar

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Zitieren als:
VG Weimar, Beschluss vom 11.03.2010 - 5 E 20027/10 We [= ASYLMAGAZIN 2010, S. 311 ff.] - asyl.net: M17383
https://www.asyl.net/rsdb/M17383
Leitsatz:

Bei der qualifizierten Ablehnung eines Asylantrags (offensichtlich unbegründet, § 36 AsylVfG) ist es im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Asyl- und Abschiebungsschutzantrages unerheblich, ob im Eilverfahren die erforderlichen ernstlichen Zweifel des Gerichts an der Richtigkeit des Bescheids des BAMF die Ablehnung von Abschiebungsschutz (Art. 16a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG) oder nur das Vorliegen eines Abschiebungsverbots (hier § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG) betreffen. Es genügen bereits Zweifel an einem dieser Aspekte.

Da die unzureichende Sachaufklärung des BAMF (Ausmaß der Erkrankung, erforderliche Behandlung, Möglichkeit der erforderlichen medizinischen Versorgung in Armenien) nicht zu Lasten des Antragstellers gehen kann, ist vorliegend davon auszugehen, dass im Falle unzureichender ärztlicher Behandlung erhebliche Gesundheitsgefahren drohen und davon ausgegangen werden kann, dass die erforderliche ärztliche Versorgung in Armenien sichergestellt wäre.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Armenien, offensichtlich unbegründet, ernstliche Zweifel, Asylverfahrensrecht, medizinische Versorgung, Diabetes mellitus, Depression, Sachaufklärungspflicht, Abschiebungsandrohung
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 36 Abs. 4, GG Art. 16a Abs. 4 S. 1, AsylVfG § 30, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Februar 2010 wird insoweit angeordnet, als die Abschiebungsandrohung nicht dahingehend eingeschränkt ist, dass von einer Abschiebung nach Armenien abgesehen werden soll. [...]

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist dahingehend zu verstehen, dass der Antragsteller nicht nach Armenien abgeschoben werden möchte, die kraft Gesetzes vollziehbare Entscheidung über die Abschiebungsandrohung (§ 75 AsylVfG) daher ausgesetzt werden soll.

Der so verstandene Antrag ist zulässig gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, § 36 Abs. 4 AsylVfG und ist in der Sache begründet.

Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylVfG ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Da diese Regelung und die damit verbundene Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylVfG) die Folgerung aus der qualifizierten Asylablehnung sind, ist Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Überlegungen zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs die Prüfung, ob die für die Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes vorliegen. Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies bedeutet, dass die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme nur dann ausgesetzt werden darf, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG vom 14.5.1996, DVBl. 1996, S.729). Dabei muss das Verwaltungsgericht bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes diese Prüfung auch auf das Merkmal der Offensichtlichkeit erstrecken (vgl. BVerfG vom 5.2.2003, InfAuslR 2003, 244). [...]

Allerdings ist im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Asyl- und Abschiebungsschutzantrages unerheblich, ob die ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Bescheides des Bundesamtes über den Abschiebungsschutz aus Art. 16a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG oder nur das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG betreffen. Es genügen bereits Zweifel an einem dieser Aspekte, um zu Gunsten des Schutzsuchenden das vorläufige Bleiberecht des § 55 Abs. 1 AsylVfG - die Aufenthaltsgestattung - auszulösen. Auch die von Gesetzes wegen vorgesehene Ausreisefrist von einem Monat nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens (§ 37 Abs. 2 AsylVfG) ist eine einheitliche Frist. Sie differenziert nicht nach den Erfolgsaussichten des Antrages auf verfassungsrechtliches Asyl bzw. auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG einerseits oder dem Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 AufenthG andererseits (vgl. auch VG Augsburg, Beschluss vom 8.2.2006, Au 1 S 06.30044). [...]

Die Entscheidungen zu den Ziffern 1 und 2 aus dem Bescheid vom 9. Februar 2010 sind mit der unter dem 17. Februar 2010 erhobenen Klage - 5 K 20026/10 We - bereits nicht angefochten, so dass das gleichzeitig erhobene Eilverfahren auch nur auf den Rahmen der Ziffern 3 und 4 des Bescheids beschränkt ist.

Es sprechen jedoch gewichtige Gründe für das Bestehen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift soll ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht, wobei die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG einzustufen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, S. 712 ff.). Ob eine erhebliche konkrete Gefahr besteht, muss anhand des gleichen Wahrscheinlichkeitsmaßstabs wie im Asylrecht, nämlich demjenigen der "beachtlichen Wahrscheinlichkeit", beurteilt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 - BVerwGE 99, S. 324/ 330). Insoweit ist eine umfassende Bewertung der gesamten Gefährdungslage im Einzelfall vorzunehmen, ohne dabei in eine "mathematische" oder "statistische" Betrachtungsweise zu verfallen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Februar 2003 - 1 B 273.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 68). Eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG kann sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung tatsächlich nicht erlangen kann. [...]

Nach den vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen leidet er - wovon auch die Antragsgegnerin ausgeht - an diabetes mellitus, Angststörungen und Depressionen; zudem ist er nach ärztlichen Angaben nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, auch nicht mit den nötigen Medikamenten. Welches Ausmaß die Erkrankungen beim Antragsteller haben, ob in absehbarer Zeit mit schwerwiegenden Folgen zu rechnen ist und welche Therapie in seinem Fall zur Vermeidung solcher Folgen erforderlich ist, ist vom Bundesamt nicht hinreichend aufgeklärt worden und lässt sich aufgrund der derzeit vorhandenen Erkenntnisse nicht hinreichend zuverlässig beurteilen. Der Antragsteller befand sich ausweislich der von ihm vorgelegten Unterlagen bereits mehrfach und auch noch andauernd in ärztlicher Behandlung. [...]

Da die unzureichende Sachaufklärung durch das Bundesamt nicht zu Lasten des Antragstellers gehen kann, ist für die vorliegende Entscheidung davon auszugehen, dass ihm im Falle einer unzureichenden ärztlichen Behandlung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erhebliche Gesundheitsgefahren drohen. Ohne weitere, im vorliegenden Verfahren jedoch nicht zu leistende Sachverhaltsaufklärung kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die für den Antragsteller erforderliche ärztliche Versorgung im Falle seiner Rückkehr nach Armenien sichergestellt wäre.

Da das Bundesamt es unterlassen hat, in dem erforderlichen Umfang aufzuklären, ob der Antragsteller bei seiner Rückkehr nach Armenien eine erforderliche medizinische Behandlung erhalten könnte, geht auch die insoweit bestehende Unsicherheit der Prognose zu Lasten der Antragstellerin, so dass für die vorliegende Entscheidung davon auszugehen ist, dass dem Antragsteller bei seiner Abschiebung nach Armenien möglicherweise eine konkrete erhebliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands droht, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen würde (zum Umfang der Sachaufklärung vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118.05 -, NVwZ 2007, 345).

Ein solches Abschiebungsverbot wirkt sich auch auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung aus. Nach § 59 Abs. 3 AufenthG steht das Vorliegen von Abschiebungsverboten dem Erlass der Androhung zwar nicht entgegen (Satz 1), jedoch ist in der Androhung der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf (Satz 2). Stellt das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots fest, so bleibt die Rechtmäßigkeit der Androhung im Übrigen unberührt (Satz 3). Diese Regelung nimmt umfassend auf § 60 AufenthG Bezug und umfasst somit auch § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die Regelung weicht somit von der Vorgängerregelung des § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG ab, wonach in der Androhung der Staat zu bezeichnen war, in den der Ausländer nach den §§ 51 und 53 Abs. 1 bis 4 nicht abgeschoben werden durfte, so dass nach dieser Regelung davon auszugehen war, dass die Bejahung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, der Vorgängerregelung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AuslG, nicht dazu führte, dass eine Abschiebung in den betreffenden Staat in der Abschiebungsandrohung auszuschließen war.

Vor diesem Hintergrund erscheint es konsequent, § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG so zu verstehen, dass auch die Staaten in der Abschiebungsandrohung zu benennen sind, in die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG eine Abschiebung nicht erfolgen soll.

Das dargelegte Verständnis des § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erweist sich auch im Hinblick auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes als sachgerecht. Wenn der Staat, in den nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht abgeschoben werden soll, in der Abschiebungsandrohung zu benennen ist, so ist die Abschiebungsandrohung, die hiergegen verstößt, insoweit rechtswidrig. Dies führt dazu, dass vorläufiger Rechtsschutz auf der Grundlage des § 80 Abs. 5 VwGO durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu gewähren ist (im Ergebnis ebenso: VG Ansbach, Beschluss vom 30. August 2007 - AN 9 S 07.30546 -, GK-AsylVfG, § 36 AsylVfG, Rn. 20.1; Hailbronner, Ausländerrecht, § 60 Rn. 240). [...]