VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 23.08.2010 - 11 B 1987/10 - asyl.net: M17437
https://www.asyl.net/rsdb/M17437
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Abschiebung des Vaters eines ungeborenen Kindes kurz vor der Geburt, da die Abschiebung zu einer psychischen Belastung der Schwangeren mit dem Risiko einer Frühgeburt und somit zur Gefährdung von Leib und Leben des Kindes führen würde. Die Abschiebung wurde daher bis zum Ablauf von zwei Wochen nach der Geburt vorläufig ausgesetzt.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Schutz von Leben und Gesundheit, Kindeswohl, ungeborenes Kind
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Der nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu beurteilende Antrag des Antragstellers, es dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, ihn vor Ablauf von acht Wochen nach der Geburt des Kindes von Frau ..., dessen Vater er ist, abzuschieben, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist er unbegründet.

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch, d.h. ein materielles Recht, vorläufig nicht abgeschoben zu werden, insoweit glaubhaft gemacht, als es um einen Zeitraum bis zwei Wochen nach der Geburt geht.

Dabei kann dahinstehen, ob der Schutz der Familie durch Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK schon vor der Geburt eines Kindes "Vorwirkungen" in dem Sinne entfalten kann, dass einem zukünftigen Vater, der nach der Geburt des Kindes von diesem ein Aufenthaltsrecht ableiten könnte, ein Anspruch auf Duldung bis zur Geburt zusteht (bejahend OVG Bautzen, Beschluss vom 2. Oktober 2009 - 3 B 482/09 -, NVwZ-RR 2010, 78 f.; OVG Hamburg, Beschluss vom 14, August 2008 - 4 Bs 84/08 -, NVwZ-RR 2009, 133; wohl auch VG Oldenburg, Beschluss vom 12. August 2003 - 12 B 2841/03 -, InfAuslR 2003, 433 435 f.>; verneinend OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Juni 2010 - 8 ME 159/10 -. juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 15. September 2008 - 10 ME 328/08 -, juris). Denn ein solcher Duldungsanspruch setzt jedenfalls voraus, dass sich nach der Geburt des Kindes für den Ausländer ein Aufenthaltsrecht ergeben kann. Angesichts des Umstandes, dass sowohl der Antragsteller als auch die Kindesmutter vollziehbar ausreisepflichtig sind, ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich, dass dem Kind nach der Geburt ein Anspruch auf einen Aufenthaltstitel zustehen könnte oder dass es die deutsche Staatsangehörigkeit mit der Geburt erwerben wird. Wenn aber das Kind des Antragstellers nach der Geburt kein Aufenthaltsrecht haben wird, wird der Antragsteller auch für sich kein solches Recht von dem Kind ableiten können.

Ein Anspruch des Antragstellers, nicht vor Ablauf von zwei Wochen nach der Geburt des Kindes abgeschoben zu werden, ergibt sich aber aus dem Schutz von Leben und Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Dieses Grundrecht schützt auch das ungeborene Kind (vgl. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 7. Aufl., Art. 2 Rn. 64). Aus ihm entspringt eine besonders ernstzunehmende Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor das menschliche Leben als "Höchstwert" des Grundgesetzes zu stellen (BVerfG, Urteil vom 16. Oktober 1977 - 1 BvQ 5/77 - BVerfGE 46, 160 164>). Eine Abschiebung des werdenden Vaters hat daher zu unterbleiben, wenn sie im Einzelfall eine Verletzung der Rechtspositionen der Mutter oder des ungeborenen Kindes aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG konkret befürchten lässt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. Juni 2010 - 8 ME 159/10 -, juris m.w.N.). Dies ist hier der Fall. Aus dem vom Antragsteller vorgelegten Attest des Facharztes für Frauenheilkunde und Geburtshilfe Dr. ... vom 19. August 2010 geht hervor, dass die werdende Mutter der Unterstützung durch den Antragsteller bedarf und insbesondere psychische Belastungen zu vermeiden sind, da sie eine Frühgeburt herbeiführen würden. Dieses Attest ist zwar knapp gehalten, genügt aber den - im Vergleich zu den Beweisanforderungen im Hauptsacheverfahren herabgesetzten (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 123 Rn. 24) - Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Dabei ist für die Kammer auch von Bedeutung, dass der zeitliche Abstand zwischen dem errechneten Geburtstermin und dem vom Antragsgegner in Aussicht genommene Abschiebungstermin weniger als einen Monat beträgt. Bei einem so außerordentlich engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Geburt und Abschiebung erscheint es gut nachvollziehbar, dass die mit der Abschiebung des werdenden Vaters verbundene psychische Belastung der Schwangeren zu einer Frühgeburt führen wird und so Leib und Leben des Kindes gefährdet. Ein fachärztliches Attest, dass eine Lebens- und Gesundheitsgefahr für das ungeborene Kind im Falle der Abschiebung des Vaters bescheinigt, ist daher um so eher plausibel, je enger der zeitliche Zusammenhang von voraussichtlichem Abschiebungstermin und voraussichtlichem Geburtstermin ist.

Für das vorliegend gegebene Abschiebungshindernis aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist es irrelevant, ob die werdende Mutter ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat bzw. das Kind nach seiner Geburt voraussichtlich ein solches haben wird. Denn es geht vorliegend nicht darum, einen Anspruch des Antragstellers, der Mutter und des Kindes aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK auf ein dauerhaftes familiäres Zusammenleben in Deutschland zu sichern, sondern einzig und allein darum, Schäden für Leben und Gesundheit des Kindes zu vermeiden. Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit steht aber allen Menschen - und auch dem Nasciturus - unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus zu.

Zu Unrecht wendet der Antragsgegner daher ein, dass die werdende Mutter und der Antragsteller sich wegen der jeweiligen räumlichen Beschränkungen ihrer Duldungen eigentlich auch in Deutschland nicht am selben Ort aufhalten und gegenseitig unterstützen dürften. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob im Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die Schwangere sich gemäß der räumlichen Beschränkung aufzuhalten hat, andere Verwandte leben, die ihr in Schwangerschaft und Geburt behilflich sein könnten. Mit beiden Argumenten verkennt der Antragsgegner die Bedeutung der Grundrechte der Beteiligten. Die vom Vater für Mutter und Kind tatsächlich erbrachte Lebenshilfe verliert ihren grundrechtlichen Schutz nicht deswegen, weil andere Verwandte sie theoretisch ebenfalls leisten könnten (vgl. BVerfG. Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682 683>). Der Antragsgegner wird sich daher im Hinblick auf die überragende Bedeutung des Schutzes von Leben und Gesundheit im Wertekanon des Grundgesetzes (vgl. BVerfG, Urteil vom 16. Oktober 1977 - 1 BvQ 5/17 - BVerfGE 46, 160 164>: "Höchstwert") auch einem Zusammenleben des Antragstellers und der Schwangeren in seinem Gebiet nicht verweigern können, wenn und solange dies im Interesse der Gesundheit von Mutter und Kind medizinisch erforderlich ist. Hinzu kommt, dass es im vorliegenden Fall nicht in erster Linie um physische Betreuungs- und Unterstützungsleistungen geht, bei denen die Person des Helfers quasi beliebig austauschbar ist, sondern um die Vermeidung der psychischen Belastung, die für die Schwangere aus der Abschiebung des werdenden Vaters kurz vor der Geburt resultiert.

Soweit der Antragsteller darüber hinaus begehrt, bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Geburt seines Kindes geduldet zu werden, ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Aus dem vorgelegten fachärztlichen Attest ergibt sich nur, dass psychische Belastungen der Mutter im Hinblick auf eine drohende Fehlgeburt zu vermeiden sind. Die Gefahr einer Fehlgeburt kann aber naturgemäß nur bis zum Zeitpunkt der Geburt bestehen. Nichts deutet darauf hin, dass der Gesundheitszustand von Mutter bzw. Kind nach der Geburt derart schlecht sein wird, dass eine weitere Anwesenheit des Antragstellers zur Vermeidung von Lebens- und Gesundheitsgefahren notwendig ist. Es ist daher im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausreichend, das Verbot der Abschiebung auf zwei Wochen nach der Geburt zu beschränken. [...]