VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 15.01.2002 - 25 K 4285/01.A - asyl.net: M1757
https://www.asyl.net/rsdb/M1757
Leitsatz:

§ 51 Abs. 1 AuslG für tschetschenische Volkszugehörige wegen Gefahr willkürlicher Verhaftungen, ständiger Kontrollen und Beobachtung; keine inländische Fluchtalternative in anderen Teilen der Russischen Föderation.

Schlagwörter: Russland, Tschetschenien, Tschetschenen, Moskau, Kontrollen, Festnahme, Bestechung, latente Gefährdungslage, interne Fluchtalternative, Registrierung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben einen Anspruch auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, weil ihr Leben und ihre Freiheit bei einer Rückkehr in die Russische Föderation bedroht sind. [...]

Ausweislich der glaubhaften Bekundungen der Kläger zu 1) und 2) anlässlich ihrer Befragung durch das Bundesamt am 13. Februar 2001 sowie ihrer Angaben in der mündlichen Verhandlung vom 5. Januar 2002, die durch die vorgelegten Urkunden und anderweitige Einschätzungen bestätigt werden, sind die Kläger tschetschenischer Volkszugehörigkeit. [...]

In der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2002 hat der Kläger zu 1) glaubhaft ausgeführt, während des Aufenthalts in Moskau seit Ende (...) seien ständig Überprüfungen durch die russischen Sicherheitskräfte erfolgt, die erste direkt nach der Einreise in Moskau am Bahnhof. Er sei jede Woche mitgenommen worden, sie hätten unter Beobachtung der Abteilung für innere Angelegenheit gestanden, ständig seien Kontrollen erfolgt. Im (...) wurde der Kläger zu 1) festgenommen und für drei bis vier Stunden auf dem Milizrevier festgehalten. Er wurde bedroht, dass er als Tschetschene in nächster Zeit in Untersuchungshaft eingeliefert werden solle. Die Freilassung erfolgte nur deshalb, weil sich sein Chef für ihn einsetzte.

Diese von dem Kläger zu 1) beschriebenen Übergriffe sind nach Wertung der Einzelrichterin angesichts von Art und Ausmaß als asylerheblich zu qualifizieren. Geht es um Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit, so stellt generell jede derartige nicht ganz unerhebliche Maßnahme staatlicher Stellen, die an die politische Überzeugung, Betätigung oder Volkszugehörigkeit eines Betroffenen anknüpft, politische Verfolgung dar, ohne dass es insoweit noch auf eine besondere Intensität oder Schwere des Eingriffs ankommt (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 22. Januar 1999, NVwZ-Beilage Nr. 18/1999 zu Heft 8/1999 Seite 82 f.).

Nach vorstehender Festnahme besteht die Gefahr, dass der Kläger zu 1) bei Rückkehr in die russische Föderation Gleiches erleiden muss, wobei zugleich beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass Freilassungsbemühungen seines Chefs sodann scheitern. Der Kläger zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ausgeführt, das Vorgehen der Sicherheitskräfte sei darauf gerichtet gewesen, ihn in Untersuchungshaft zu nehmen.

Die Klägerin zu 2) hat in der mündlichen Verhandlung vom 15. Januar 2002 glaubhaft bekundet, auch sie sei in Moskau ständig von Sicherheitskräften überprüft worden. Tschetschenen wurden getrennt von den anderen überprüft; man werde auf Schritt und Tritt überprüft. Sie selbst sei nur deshalb nicht auf das Revier mitgenommen worden, weil sie vorsorglich immer 50 Rubel bezahlt habe. Einer Bekannten von ihr sei viel Schlimmeres geschehen. Die zusammengefasste Wertung und Würdigung der Ausführungen der Kläger ergibt nach Einschätzung der Einzelrichterin, dass der Klägerin zu 2) bedingt durch Zufall deshalb nicht mehr geschehen ist, weil sie an überprüfende Sicherheitskräfte geriet, die sich mit Geldzahlungen zufrieden gaben. Wie sich aus den zu Grunde liegenden Auskünften und Erkenntnissen ergibt und zur Frage, ob die Kläger in anderen Gebieten der Russischen Föderation Aufenthalt finden können, unten ausgeführt werden wird, kann nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die Klägerin zu 2) - gleiches gilt für die Klägerin zu 3) - Übergriffe jeweils mit Geldzahlungen abwehren und körperlichen Eingriffen in Leib oder Leben entgehen können.

Der Schutz nach § 51 Abs. 1 AuslG ist zuzuerkennen, wenn der Ausländer politische Verfolgung begründet befürchten muss, das heißt wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, so dass ihm eine Rückkehr in seinen Heimatstaat nicht zuzumuten ist. Ob eine derartige beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, ist durch eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu ermitteln. Maßgebend ist, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohl begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer quantitativen oder statistischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, BVerwGE 79, 143).

Eine Gefährdung in diesem Sinne ist für die Klägerinnen zu 2) und 3) zu bejahen; nach den zu Grunde liegenden Auskünften und Erkenntnissen ist es eher glücklichem Zufall zuzuschreiben, dass sie bislang von Übergriffen auf Leib und Leben verschont blieben.

Der Anspruch der Kläger auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG ist mithin begründet, weil sie in keinem Teil ihres Heimatlandes vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher wären. Die Möglichkeit, der Gefährdung durch Aufenthaltsnahme in einem anderen Teil der Russischen Föderation zu entgehen, besteht für die Kläger nicht: Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass die glaubhaft geschilderten Übergriffe auf die Kläger in Moskau, das heißt außerhalb Tschetscheniens erfolgt sind. Bei dieser Sachlage spricht wenig dafür, dass sich dies in anderen Teilen der Russischen Föderation nicht wiederholen würde.

Eine inländische Fluchtalternative ist nur dann zu bejahen, wenn der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutverletzung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Heimatort so nicht bestünde (BVerfG, Bschluss vom 2.7.1980, BVerfGE 54, 341 f.; BVerwG, Urteil vom 9.9.1997, EZAR 203 Nr. 11).

Für die Annahme einer inländischen Fluchtalternative könnte die Größe des Landes sprechen; die Russische Föderation ist territorial betrachtet der größte Staat der Erde. Nach Auffassung der Einzelrichterin kann nicht darauf abgestellt werden, dass zwei Drittel aller Tschetschenen nicht in Tschetschenien, sondern in anderen russischen Regionen leben, denn dies erfasst nicht die Zuspitzung der Situation infolge des zweiten Tschetschenienkriegs. Auf Grund von Berichten der Menschenrechtsorganisationen muss davon ausgegangen werden - wie es durch das Vorbringen der Kläger bestätigt wird -, dass in Moskau und anderen Teil der Russischen Föderation Tschetschenen willkürlich festgenommen, gefoltert und misshandelt werden. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte bejaht in einem Gutachten für das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht vom 20. Dezember 2000 das Fehlen einer inländischen Fluchtalternative für Tschetschenen in der Russischen Föderation; es wird ausgeführt, es könnten keine Gebiete in Russland genannt werden, in denen Tschetschenen nicht benachteiligt werden. Es seien vor allem staatliche Stellen Russlands - das Innenministerium und der russische Sicherheitsdienst FSB -, die die meisten, die willkürlichsten und brutalsten Übergriffe verübten, Tschetschenen festnähmen, schlügen und folterten. Infolge der intensiven antitschetschenischen Regierungspropaganda verkörperten die Tschetschenen in den Augen der russischen Gesellschaft den inneren Feind Russlands, weswegen deren Verfolgung massenhaften Charakter trüge.

Ausweislich der Stellungnahme der Gesellschaft für bedrohte Völker zur Situation tschetschenischer Flüchtlinge in der Russischen Föderation vom Juli 2001 an das Bundesamt ist ebenfalls eine inländische Fluchtalternative nicht gegeben. Als Begründung wird ausgeführt, dass die russische Gesetzgebung sowohl eine Registrierung am Wohnort als auch am vorübergehenden Aufenthaltsort vorsehe. Hinzu komme die Option der einzelnen nationalen Gebietseinheiten der Russischen Föderation, zusätzlich eigene Verordnungen zu erlassen, die das Recht auf Freizügigkeit und das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes stark einschränken könnten. Speziell gegenüber Tschetschenen seien Befehle bzw. Regelungen erlassen worden - interner Befehl des russischen Innenministers vom 17.9.1999 und Verordnung Nr. 42 des Föderalen Migrationsdienstes vom Dezember 1993 -, die darauf abzielten, deren Registrierung außerhalb der Heimatregion zu erschweren oder zu verhindern. Die fehlende Registrierung führe dazu, dass Tschetschenen ihr Recht auf Arbeit, Wohnraum und medizinische Versorgung nicht wahrnehmen könnten. Massiv erschwert werde die Lage der Tschetschenen durch eine gezielte Hetzkampagne von Politikern und Medien, die sich pauschal gegen diese ethnische Gruppe richte und sie als Kriminelle und Terroristen bezeichne. Neben der gesellschaftlichen Diskriminierung und Ächtung würden Tschetschenen verstärkt Kontrollen durch die Sicherheitsbehörden ausgesetzt und aufgefordert, in ihre Heimat zurückzukehren. Nach Wertung der Gesellschaft für bedrohte Völker sind tschetschenische Volkszugehörige insgesamt betrachtet in der Russischen Föderation massiv verfolgt.

Ebenso verneint der UNHCR eine inländische Fluchtalternative für tschetschenische Volkszugehörige in der Russischen Föderation (UNHCR guidelines on asylum seekers from Chechnya (Russian Federation) vom 21. August 2000). [...]

Das Auswärtige Amt stellt in seinem ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 24. April 2001 fest: "Tschetschenen steht auch heute noch theoretisch die Möglichkeit einer Wohnsitznahme oder eines zeitweiligen Aufenthalts in der Russischen Föderation außerhalb von Tschetschenien offen. Dieses Recht ist in der Verfassung verankert. Die Weiterreise von tschetschenischen Flüchtlingen aus Inguschetien in andere Teile Russlands ist auch grundsätzlich möglich. Soweit dazu aber die Hilfe russischer Regierungsstellen in Anspruch genommen werden muss, kann die Weiterreise bürokratischen Hemmnissen und Behördenwillkür begegnen. An vielen Orten (u.a. in Moskau) wird der Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften erschwert bzw. verhindert."

Dies ist politisch vorsichtig zurückhaltend formuliert und stellt überwiegend auf theoretisch gegebene Möglichkeiten, nicht aber auf tatsächliche Lebensgegebenheiten ab. An anderer Stelle bestätigt das Auswärtige Amt, besonders in Moskau und anderen Großstädten seien Tschetschenen diskriminierenden Kontrollmaßnahmen und ungesetzlichen Übergriffen der Behörden und teilweise einem Misstrauen der Bevölkerung ausgesetzt. Bei abschließender Wertung ist diese Stellungnahme nicht geeignet, das Verneinen einer Inländischen Fluchtalternative, welches sich aus den übrigen Erkenntnissen überzeugend ergibt, zu widerlegen. [...]