1. Kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG wegen einer Jugendstrafe, sondern nur bei Verurteilungen nach Erwachsenenstrafrecht.
2. Auch kein Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung, weil der Kläger als 11-Jähriger in der Türkei Parolen zu Gunsten der PKK oder Bilder von Öcalan an Wände gemalt hatte. Darin ist keine Unterstützung terroristischer Aktivitäten zu sehen (Art. 12 Abs. 2 QRL bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 3 AsylVfG). Andernfalls würde der Ausschlusstatbestand ins Uferlose ausgeweitet werden.
3. Kein einen Widerruf der Flüchtlingsanerkennung rechtfertigender "Wegfall der Umstände". In der Türkei finden unverändert, wenn nicht gar in größerem Umfang als im Jahr 2000 strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen einschließlich Inhaftierungen auch gegenüber zum Teil erst 13-Jährigen kurdischen Volkszugehörigen statt, die durch Aktivitäten zugunsten der PKK bzw. durch Maßnahmen bei Demonstrationen, die - wie Steinwürfe - als PKK-Unterstützung gewertet werden, aufgefallen sind.
4. Dem Widerruf steht jedenfalls auch § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen, da dem Kläger eine Rückkehr in die Türkei unzumutbar ist. Denn er ist im August 1998 als Minderjähriger auf einem Polizeirevier schwer misshandelt worden und hat dabei verfolgungsbedingt erhebliche Narben am ganzen Körper davongetragen. Er hat also einen physisch fortwirkenden Schaden erlitten.
[...]
Ist somit Streitgegenstand des Berufungsverfahrens der Widerruf der Asyl- und Flüchtlingsanerkennung des Klägers, so ist die so verstandene Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts auch begründet.
Denn die vorgenannten Anerkennungen des Klägers sind weder rechtmäßig zurückgenommen (1.) noch widerrufen (2.) worden.
1. a) Die Voraussetzungen für die vom Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung sinngemäß angesprochene Rücknahme der Anerkennungen nach § 73 Abs. 2 AsylVfG (vgl. zur grundsätzlichen Berücksichtigungsfähigkeit dieser Bestimmung auch bei einem - wie hier - auf § 73 Abs. 1 AsylVfG gestützten Widerruf: BVerwG, Urt. v. 24.11.1998 - 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30 ff.) sind nicht gegeben. Die Anerkennungen des Klägers beruhen weder auf "unrichtigen Angaben" noch darauf, dass er im Erstverfahren "wesentliche Tatsachen" verschwiegen hätte. Ob der Kläger auf der Grundlage seiner Angaben zu Recht als Asylberechtigter und als Flüchtling anerkannt worden ist oder dies bei zutreffender Würdigung der Sach- und Rechtslage nicht erfolgt wäre, ist insoweit unerheblich. Allenfalls wäre insoweit an eine Rücknahme nach § 48 VwVfG zu denken.
b) Wie sich aus § 73 Abs. 4 AsylVfG ergibt und auch in der Rechtsprechung anerkannt ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.9.2000 - 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80 ff.), kommt zwar - soweit die Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling bereits ursprünglich rechtswidrig war - über die speziellen Regelungen des § 73 Abs. 1 und 2 AsylVfG hinaus auch eine Rücknahme der Anerkennungen nach § 48 VwVfG grundsätzlich in Betracht. Dabei handelt es sich jedoch um eine Ermessensvorschrift, d.h. ein entsprechendes Ermessen muss ausgeübt worden sein. Hieran mangelt es vorliegend. Zudem dürfte einem auf § 48 VwVfG gestützten Widerruf vorliegend auch Vertrauensschutz entgegenstehen.
Der angefochtene Aufhebungsbescheid der Beklagten vorn 15. Juni 2006 kann damit auch im Wege der Umdeutung nach § 47 VwVfG nicht rechtmäßig auf § 48 VwVfG als Rechtsgrundlage gestützt werden.
2. Die Anerkennungen des Klägers konnten ferner nicht rechtmäßig nach § 73 Abs. 1 AsylVfG widerrufen werden, da weder die dafür erforderlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylVfG gegeben sind (a) noch sich die ursprüngliche Verfolgungslage für den Kläger erheblich und nicht nur vorübergehend geändert hat (b) und einem Widerruf zudem § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegenstehen würde (c).
2. a) aa) Ein Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylVfG kann grundsätzlich auch darauf gestützt werden, dass der Asylberechtigte oder Flüchtling nachträglich einen Ausschlussgrund nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG verwirklicht hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 51 Abs. 3 (Satz 1) AuslG, der Vorgängervorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, setzt dieser Ausschlusstatbestand, soweit er nach seiner hier allein in Betracht kommenden zweiten Alternative die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren voraussetzt, jedoch eine Bestrafung nach Erwachsenenstrafrecht voraus; eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe ist unzureichend (vgl. Urt. v. 16.11.2000 - 9 C 4.00 -, BVerwGE 112, 180 ff.). In Kenntnis dieser Rechtsprechung hat der Gesetzgeber beim Erlass des Aufenthaltsgesetzes die vormals in § 51 Abs. 3 AuslG enthaltene Regelung in § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG übernommen, so dass davon auszugehen ist, dass er die Vorschrift damals im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verstanden hat. Es besteht auch kein Anlass, den unverändert übernommenen Begriff der "Freiheitsstrafe" nach Ablauf der Frist zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG weitergehend zu verstehen und nunmehr - jedenfalls hinsichtlich der Flüchtlingsanerkennung - auch eine Verurteilung zu einer Jugendstrafe als davon mitumfasst anzusehen, wie dies die Beklagte geltend macht. Der Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG kommt als gemeinschaftsrechtlicher Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV keine unmittelbare Wirkung zu Lasten von Privatpersonen zu, sie bedarf dazu vielmehr der Umsetzung in nationales Recht. Der insoweit allenfalls in Betracht kommende § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ist jedoch durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 215) unberührt geblieben. Auch das Bundesverwaltungsgericht geht in seiner neueren Rechtsprechung (vgl. Beschl. v. 12.10.2009 - 10 B 17.09 -, juris) deshalb davon aus, dass die zur Auslegung der wortgleichen Vorgängerregelung in § 51 Abs. 3 (Satz 1) Alt. 2 AuslG entwickelten Grundsätze allgemein fortgelten und keiner gemeinschaftsrechtlichen Modifikation bedürfen. Dass hinsichtlich der Auslegung des Begriffs "Freiheitsstrafe" etwas anderes gelten soll, ist nicht zu erkennen. Hierzu zwingt auch Gemeinschaftsrecht nicht. Denn nach Art. 14 Abs. 4 b) der Qualifikationsrichtlinie können die Mitgliedstaaten zwar einem Flüchtling die ihm ... zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt wurde, und nach Art. 14 Abs. 5 können die Mitgliedstaaten in den in Absatz 4 genannten Fällen auch entscheiden, einem Flüchtling eine Rechtsstellung nicht zuzuerkennen, solange noch keine Entscheidung darüber gefasst worden ist. Wie ein Vergleich mit den Regelungen in den vorhergehenden Absätzen des Artikel 14 ergibt, handelt es sich aber um eine fakultative Aberkennungsmöglichkeit, d.h. der Mitgliedstaat kann aus einem in Art. 14 Abs. 4 genannten Grund eine zuvor erfolgte Anerkennung aufheben, muss dies aber nicht tun. Damit steht dem Mitgliedstaat grundsätzlich auch die Möglichkeit offen, bei dem Personenkreis, dessen Bestrafung zum Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung führen kann, in der Weise zu differenzieren, wie dies in § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG geschehen ist, d.h. nur Personen von der Anerkennung auszunehmen, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt worden sind.
Dass der Kläger zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist, erfüllt somit den Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG nicht und rechtfertigt damit auch nicht den Widerruf seiner Asyl- und Flüchtlingsanerkennung. [...]
bb) Zur nationalen Umsetzung gemeinschaftsrechtlich zwingender Vorgaben erkennt das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Vorlagebeschl. v. 25. 11.2008 - 10 C 46.07 -, NVwZ 2009, 592 ff.) darüber hinaus auch eine bloße Änderung der Rechtslage, also eine nachträgliche Verschärfung der Anerkennungsvoraussetzungen, als hinreichenden Grund für den Widerruf nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hinsichtlich einer ursprünglich rechtmäßigen Anerkennung jedenfalls als Flüchtling an, nämlich konkret bezogen auf die Verwirklichung eines Ausschlussgrundes nach dem der Umsetzung des Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2004/83/EG dienenden § 3 Abs. 2 AsylVfG (auch) bereits vor der Anerkennung des betroffenen Ausländers. Ob dieser Rechtsprechung zu folgen ist, kann hier offen bleiben. Denn der Kläger hat vor seiner Anerkennung keinen Ausschlussgrund nach § 3 Abs. 2 AsylVfG verwirklicht, wie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung unter Aufgabe ihres vorhergehenden gegenteiligen, auf nur auszugsweiser Kenntnis des Sachverhaltes beruhenden schriftsätzlichen Vorbringens zutreffend selbst erkannt hat. Denn der Ausschluss von der Flüchtlingsanerkennung erstreckt sich nach § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG zwar auch auf diejenigen Ausländer, die die in Satz 1 benannten Taten nicht selbst begehen, sondern dazu anstiften oder "sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben". Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. den Vorlagebeschluss v. 14.10.2008 - 10 C 48.07 -, BVerwGE 132, 79 ff.) "muss der betroffene Ausländer die schwere nichtpolitische Straftat" (i.S.d. Art. 12 Abs. 2 b der Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1. Nr. 2 AsylVfG) "damit nicht selbst begangen haben, er muss für sie aber persönlich verantwortlich sein. Hiervon ist im Allgemeinen auszugehen, wenn eine Person die Straftat persönlich begangen hat oder in dem Bewusstsein, dass ihre Handlung oder Unterlassung die Ausübung des Verbrechens erleichtern würde, wesentlich zu ihrer Durchführung beigetragen hat (vgl. Abs. 18 der UNHCR-Richtlinien). Erfasst werden damit nicht nur aktive Terroristen und Teilnehmer im strafrechtlichen Sinne, sondern auch Personen, die im Vorfeld Unterstützungshandlungen zugunsten terroristischer Aktivitäten vornehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 a.a.O. zu den Grenzen des Asylgrundrechts)". Diese Grundsätze für die Auslegung des Art. 12 Abs. 2 b, 3 der Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 AsylVfG gelten sinngemäß auch für das Verständnis der anderen in Art. 12 Abs. 2.(a und c) der Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 und 3 AsylVfG bezeichneten Handlungen und schließen es aus, die vom Kläger begangenen Taten noch als Unterstützung i.S.d. Art. 12 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 3 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG anzusehen. Denn dass von ihm und anderen Kindern oder Jugendlichen Parolen zu Gunsten der PKK oder Bilder von Öcalan an Wände "geschmiert" worden sind, erleichterte weder die Begehung von Verbrechen durch die PKK noch lag darin ein wesentlicher Durchführungsbeitrag. Andernfalls würde der Ausschlusstatbestand ins Uferlose ausgeweitet und weite Teile der kurdischen Bevölkerung in der Türkei treffen, die beispielsweise in den früheren Notstandsprovinzen auf Druck der PKK deren Mitgliedern Lebensmittel gegeben oder sich auf Demonstrationen für Öcalan eingesetzt haben. Ein solches extensives Verständnis der Ausschlussklausel ist jedoch nicht gewollt (vgl. GK-AsylVfG § 2, Rn. 60, wonach die Leistung von Hilfsdiensten wie etwa das Verteilen von Flugblättern grundsätzlich nicht ausreichend ist). [...]
b) Kommt somit nur § 73 Abs. 1 AsylVfG unmittelbar als Rechtsgrundlage für den Widerruf in Betracht, so darf der betroffene Ausländer nach Satz 1 dieser Bestimmung heute nicht mehr die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter oder als Flüchtling erfüllen. Diese Voraussetzungen müssen nachträglich, d.h. nach dem für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Anerkennungsbescheides maßgeblichen Zeitpunkt weggefallen sein. Zudem muss die Veränderung der Umstände, aufgrund derer der Betroffene ursprünglich als Asylberechtigter oder als Flüchtling anerkannt worden ist, erheblich und nicht nur vorübergehend sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerWGE 124, 276 ff.). Jedenfalls an der letztgenannten Voraussetzung mangelt es hier.
Gemessen an diesen Kriterien kann hier nicht festgestellt werden, dass sich die Verhältnisse seit der Anerkennung des Klägers in der für einen Widerruf seiner Anerkennungen rechtfertigenden Weise, d.h. erheblich und nicht nur vorübergehend verbessert haben.
Auszugehen ist dabei von der Annahme, dass der Kläger wegen einer individuellen, auf eigenen politischen Aktivitäten beruhenden Verfolgung anerkannt worden ist. Hiervon geht auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts auch die Beklagte aus. Danach erfolgte die Anerkennung "im Wesentlichen wegen der politischen Aktivitäten des Klägers in einer Jugendgruppe der PKK" und beruhte "darauf, dass dem Kläger deswegen Verhaftung und Folter drohte". [...] Die vom beklagten Bundesamt damals bejahte Gefahr einer Verfolgung kann sich also nur auf eine Wiederholung der rechtswidrigen Übergriffe seitens der staatlichen Sicherheitsorgane zu Lasten des Klägers bezogen haben. Außerdem ist der Kläger zwar im August 1998 schwerwiegend misshandelt worden, hat danach aber seine politischen Aktivitäten in der Jugendgruppe eingestellt und ist bis zu der vom Bundesamt damals als glaubhaft angesehenen Ausreise im Dezember 1999 auf dem Luftweg in der Türkei unbehelligt geblieben. Dies soll aber seinen Angaben zufolge daran gelegen haben, dass er sich schon während dieser Zeit meistens bei Verwandten und Freunden "versteckt" habe. Seine Anerkennung beruht also auf der Annahme, dass auch ein lediglich im eingeschränkt strafmündigen Alter wegen Aktivitäten in einer die PKK unterstützenden Jugendgruppe den Sicherheitsbehörden auffällig gewordener kurdischer Volkszugehöriger, der deshalb anlassbezogen festgenommen und misshandelt worden ist, auch mit einem zeitlichen Abstand von über einem Jahr nach Beendigung der Misshandlung noch (unmittelbar) von erneuter Verfolgung bedroht ist. Ob diese Annahme tatsächlich zutraf und die Anerkennung rechtfertigte, ist nach den vorstehenden Ausführungen im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Entscheidend ist für die Rechtmäßigkeit des Widerrufs allein, ob sich insoweit zwischenzeitlich eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Änderung ergeben hat. Diese Frage ist zu verneinen.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in der Türkei unverändert, wenn nicht gar im höheren Umfang als im Jahr 2000 strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen einschließlich Inhaftierungen auch gegenüber zum Teil erst 13-jährigen, also minderjährigen kurdischen Volkszugehörigen stattfinden, die durch Aktivitäten zugunsten der PKK bzw. durch Maßnahmen bei Demonstrationen, die - wie Steinwürfe - als solche PKK-Unterstützung gewertet werden, aufgefallen sind (vgl. etwa Briefing Notes des beklagten Bundesamtes v. 26.4.2010; SZ v. 28.4.2010 sowie ergänzend NZZ v. 11.6.2010). Trotz massiver Kritik in der Öffentlichkeit und angekündigter Reformbestrebungen ist diese Praxis - soweit bekannt - bislang nicht umfassend eingestellt worden, wenn es auch nach den in der mündlichen Verhandlung zusammengefasst wiedergegebenen neuesten Erkenntnissen des Senats (vgl. FAZ v. 24.7.2010, wonach eine vom türkischen Parlament beschlossene Änderung des Antiterrorgesetzes dazu führen soll, dass "gewaltsam protestierende minderjährige Kurden nicht mehr so hart bestraft werden wie bisher", sowie zur darauf beruhenden Freilassung der im o.a. SZ-Bericht v. 28.4.2010 benannten Kurdin jetzt ANF v. 27.7.2010, zit. nach dem ISKU-Pressespiegel) zu ersten Freilassungen gekommen ist.
Damit ist noch nicht belegt, dass auch dem mittlerweile volljährigen Kläger wegen seiner früheren vergleichbaren Aktivitäten noch eine - zudem asyl- oder flüchtlingsrelevante - Verfolgung droht. Aber es wird doch deutlich, dass sich in der Türkei die allgemeine Bewertung selbst bei untergeordneten Unterstützungshandlungen zu Gunsten der PKK nicht grundlegend geändert hat, sondern solche Handlungen weiterhin selbst bei Minderjährigen als (straf-)verfolgungswürdig angesehen werden.
Zudem kommt es im Polizeigewahrsam bzw. durch Polizeikräfte weiterhin zu Misshandlungen, ohne dass hiergegen bislang effektiv in hinreichendem Umfang seitens des türkischen Staats eingeschritten würde (vgl. neben den Jahresberichten 2009 von IHD und TIHV auch Ziffer III. 2 ("Folter") des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes v. 11.4.2010). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass der von der türkischen Regierung eingeleitete Prozess der "demokratischen" bzw. "kurdischen Initiative" mit dem Ziel, den kurdischen Volkszugehörigen mehr Freiheiten einzuräumen, schon innerhalb des Staatsapparats nicht einhellig unterstützt wird (S. 12 des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes v. 11.4.2010), durch die Reaktion in der Opposition und in der kurdischen Bevölkerung auf die Rückkehr u.a. von ehemaligen Kämpfern der PKK aus dem Irak in die Türkei im Oktober 2009 einen Rückschlag erlitten hat und durch die seit dem Juni 2010 von der PKK wiederaufgenommenen bewaffneten Übergriffe zusätzlich gefährdet ist (vgl. SZ v. 21.6.2010 und lediglich ergänzend ANF v. 1.8.2010, zit. nach dem ISKU-Pressespiegel, wonach allein im Juli 2010 in Folge der bewaffneten Auseinandersetzungen 174 Soldaten, 9 Polizisten und 38 "Guerillas" gestorben sein sollen). In der Presse (vgl. FAZ v. 23.6.2010) ist die Entwicklung dahin zusammengefasst worden, dass sich die kurdische Initiative von einem Rückschlag im Oktober 2009 nicht erholt habe, es einstweilen keine weiteren (kurdischen) Rückkehrer geben werde und die Türkei "noch lange nicht das Land ist, in das Kurden ... sorglos zurückkehren könnten".
Auch wenn es im Fall des Klägers altersbedingt zu keiner Strafverfolgung gekommen ist, kann danach für den wegen vermeintlicher PKK-Unterstützung im (offiziellen) Alter von 11 Jahren in Polizeihaft schwer misshandelten Kläger eine erhebliche und nicht nur vorübergehende Verbesserung seiner Lage bei einer Rückkehr in die Türkei bislang nicht festgestellt werden.
Haben sich also insoweit die maßgeblichen Umstände nicht grundlegend geändert, so kann ein Wegfall der Verfolgungsgefahr für den Kläger auch nicht allein unter dem Gesichtspunkt bejaht werden, dass seit seinen letzten relevanten Aktivitäten nunmehr nicht lediglich - wie vor seiner Ausreise - gut ein Jahr, sondern über ein Jahrzehnt verstrichen und er auch im Bundesgebiet nicht exilpolitisch tätig geworden ist. Die Wahrscheinlichkeit einer erneuten asyl- bzw. flüchtlingsrelevanten Festnahme und/oder Misshandlung des Klägers ist dadurch zwar (weiter) vermindert. Allerdings liegt darin nur eine graduelle, nicht aber die für den Widerruf erforderliche erhebliche Änderung der Verhältnisse. Denn auch im Ausreisezeitpunkt war der Kläger nicht aktuell, sondern allenfalls in Abhängigkeit von Aktivitäten anderer Familienangehöriger oder anderer Angehöriger der Jugendgruppe, der er zuvor angehörte, gefährdet, Opfer rechtswidriger polizeilicher Übergriffe zu werden. Eine solche schwer quantifizierbare Gefahr kann in Abhängigkeit von den Aktivitäten der genannten oder sonstigen dem Kläger aus Sicht der Sicherheitskräfte nahestehenden Dritten aber auch heute noch nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
Soweit von dem beklagten Bundesamt zur Rechtfertigung des Widerrufsbescheides schließlich noch auf die Ausführungen in dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes (vgl. S. 28) verwiesen wird, wonach in jüngerer Zeit selbst bei exponierten Regimegegnern keine Misshandlungen bei der Rückkehrkontrolle am Flughafen in der Türkei festgestellt worden seien, steht diese Erkenntnis der vorherigen Bewertung ebenfalls nicht entgegen. Denn bei der Kontrolle an den Grenzstellen liegt das Hauptaugenmerk darauf, ob es sich bei dem Rückkehrer um jemanden handelt, der sich, insbesondere aktuell, strafrechtlich relevant verhalten hat. Das ist jedoch aus den dargelegten Gründen beim Kläger nicht der Fall und stellte auch nicht den Grund für seine ursprüngliche Anerkennung dar. Außerdem hat der Senat bereits in seinem Urteil vom 18. Juli 2006 (- 11 LB 75/06 -, juris, dort Rn. 60 f.) darauf hingewiesen, dass - soweit bekannt - unter den (bislang) in die Türkei Zurückgekehrten oder Abgeschobenen keine im Bundesgebiet anerkannten Asylberechtigten oder Flüchtlinge gewesen sind und daher für diesen hier betroffenen Personenkreis das Fehlen von Referenzfällen zu einer Misshandlung bei einer Rückkehr in die Türkei nur begrenzt aussagekräftig ist.
Mit der vorgenannten Einschätzung befindet sich der Senat - soweit ersichtlich - in Übereinstimmung mit der überwiegenden Ansicht in der Rechtsprechung, in der - allerdings teilweise mit einem etwas anderen, mehr auf die allgemeinen und weniger auf die hier für ausschlaggebend erachteten individuellen Verhältnisse abstellenden Begründung - der Widerruf von Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennungen aufgehoben worden ist, soweit er Personen betraf, die in der Türkei wegen Unterstützung der PKK vorverfolgt und deshalb anerkannt worden sind (vgl. die Auswertung von Lange für den UNHCR: "Türkei - Verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu Widerrufen", Oktober 2008, sowie die Antwort der Bundesregierung vom 28.1.2009, BT-Drs. 16/11745, zu "Widerrufsverfahren gegen anerkannte kurdische Flüchtlinge"; ergänzend aus neuerer Zeit etwa VG München, Urt. v. 15.4.2010 - M 24 K 09.50122 und 50459 -, a.a.O., juris, m.w.N, sowie aus der obergerichtlichen Rechtsprechung: OVG Koblenz , Beschl. v. 5.11.2009 - 10 A 10817/09 -; OVG Schleswig, Urt v. 9.2.2010 - 4 LB 9/09 -). Nach den Angaben des beklagten Bundesamtes in dem Heft "Asyl in Zahlen 2009" (S. 61, Tabelle 19) hat es im vergangenen Jahr bei insgesamt 5.540 Widerrufsverfahren bezogen auf türkische Staatsangehörige in der weit überwiegenden Zahl von 4.084 Fällen auch selbst von einer Aufhebung, d.h. einem Widerruf oder einer Rücknahme, abgesehen.
Kann somit nicht festgestellt werden, dass diejenigen Umstände, die zur Anerkennung des Klägers geführt haben, im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylVfG nachträglich weggefallen sind, kann dahinstehen, ob eine (erneute) Verfolgung des Klägers mit der jeweils bezogen auf die Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung notwendigen Wahrscheinlichkeit (auch) wegen des bevorstehenden Wehrdienstes in Betracht kommt.
c) Selbst wenn man aber der vorherigen Bewertung nicht folgt, steht einem Widerruf doch jedenfalls § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG entgegen. Von einem Widerruf ist danach abzusehen, wenn sich aus dem konkreten Flüchtlingsschicksal besondere Gründe ergeben, die eine Rückkehr unzumutbar erscheinen lassen. Maßgeblich sind somit Nachwirkungen früherer Verfolgungsmaßnahmen, ungeachtet dessen, dass diese abgeschlossen sind und sich aus ihnen für die Zukunft keine Verfolgungsgefahr mehr ergibt. Der Rückkehr in den Heimatstaat müssen (gegenwärtige) zwingende Gründe entgegenstehen (d.h. eine Rückkehr muss unzumutbar sein). Diese Gründe müssen außerdem auf einer früheren Verfolgung beruhen. Zwischen der früheren Verfolgung und der Unzumutbarkeit der Rückkehr muss daher bereits nach dem Wortlaut der Bestimmung ein kausaler Zusammenhang bestehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.11.2005,- a.a.O.). Solche besonderen Gründe, die etwa auch bei ehemaligen Lager- oder Gefängnisinsassen gegeben sein können, die Opfer von Gewalt gewesen sind (vgl. Salomons/Hruschka, ZAR 2005, 1, 3, m.w.N.), sind beim Kläger zu bejahen. Denn er ist im August 1998 in der Türkei anlässlich seiner Festnahme als Minderjähriger auf einem Polizeirevier schwer misshandelt worden und hat dabei, also verfolgungsbedingt erhebliche Narben am ganzen Körper davongetragen. Er hat also jedenfalls einen physisch fortwirkenden Schaden erlitten, an den er bei jedem Blick in den Spiegel lebenslang erinnert wird. Unter Berücksichtigung des humanitären Schutzgehaltes des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG erscheint deshalb für ihn selbst bei Wegfall einer Verfolgungsgefahr eine Rückkehr in die Türkei als unzumutbar. [...]