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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 16.09.2010 - 5394362-475 - asyl.net: M17599
https://www.asyl.net/rsdb/M17599
Leitsatz:

1. Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr für kurdische Yeziden bei Rückkehr nach Syrien. Keine Gruppenverfolgung mangels hinreichender Verfolgungsdichte. Der Zwang, sich (partiell) islamischen Regeln, Normen und Verhaltensmustern zu unterwerfen, bedeutet keine fundamentale Verletzung der Menschenrechte. Eingriffe sind auch weder im staatlich angeordneten Koranunterricht zu sehen, der nicht dem Bekenntnis zum Islam, sondern der Einübung der arabischen Tradition gilt, noch in der Änderung der in Dokumenten eingetragenen Religionszugehörigkeit von "yezidisch" in "muslimisch", die lediglich eine ordnungspolitische Maßnahme darstellt.

2. Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen nicht angemessener Behandelbarkeit der Erkrankungen (Hypertonie, Hypertensive Nephropathie, Poyarthrose und Totalendoprothese der rechten Hüfte).

Schlagwörter: Asylverfahren, Asylfolgeantrag, Syrien, Kurden, Yeziden, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgungsgefahr, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Deutsch-Syrisches Rückübernahmeabkommen, religiöse Verfolgung, Hypertonie, Hypertensive Nephropathie, Polyarthrose, Totalendoprothese der rechten Hüfte, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b
Auszüge:

[...] In seiner Antragsbegründung wird nur pauschal vorgetragen, dass er bei Rückkehr nach Syrien damit rechne, ins Gefängnis zu müssen.

Der Antragsteller muss im Falle einer Einreise nach Syrien keine asyl- oder flüchtlingsrechtliche Verfolgung befürchten. Zwar wurden in der jüngeren Vergangenheit Festnahmen bzw. Inhaftierungen von Rückkehrern bei oder kurz nach der Einreise nach Syrien bekannt, es bestehen jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von derartigen Maßnahmen bedroht sein könnte.

Nach Angaben des Auswärtigen Amtes (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.04.2010 an das BAMF, Gz.: 508-516.80/46306 sowie Ad-hoc Ergänzungsbericht zum Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 07.04.2010, Gz.: 508-516.80/3 SYR) wurden im Jahr 2009 38 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Deutschland nach Syrien zurückgeführt. In der Regel folgte nach der Einreise eine Befragung des Betroffenen durch die syrische Einwanderungsbehörde und die Sicherheitsdienste, wobei in Einzelfällen Personen für die Dauer von Identitätsprüfungen für mehrere Tage, selten länger als zwei Wochen, festgehalten wurden. In drei Fällen, über die in der Presse berichtet wurde, wurden Festnahmen bzw. Inhaftierungen von Rückkehrern bei oder kurz nach der Einreise nach Syrien bekannt, über deren Motive und Hintergründe keine Informationen vorliegen. In zwei der drei Fälle erfolgte eine Freilassung der Betroffenen nach drei bzw. 15 Tagen, in einem Fall ging die Inhaftierung über die übliche Befragung durch syrische Behörden hinaus. Es erfolgte nach einer Freilassung auf Kaution eine Anklageerhebung und eine Verurteilung nach Art. 287 des syrischen Strafgesetzbuches in Abwesenheit des zwischenzeitlich ausgereisten Betroffenen.

Die vom Auswärtigen Amt geschilderten Einzelfälle lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass jeder Antragsteller bei Rückkehr nach Syrien Gefahr läuft, von solchen Maßnahmen betroffen zu werden (vgl. zu der Problematik VG Minden, Beschluss vom 10.05.2010, Az.: 1 L 220/10.A). Nach den festgestellten Umständen kann nicht darauf geschlossen werden, dass sich diese staatlichen Maßnahmen allgemein gegen zurückgeführte oder zurückkehrende Personen richten, da sie auch im Zusammenhang mit kriminellen Handlungen gestanden haben könnten und sich nur auf einen kleinen Teil der Zurückgeführten bezogen (vgl. zu der Problematik VG Regensburg, Urteil vom 23.02.2010, Az.: RO 6 K 10.30017).

Auch aufgrund des zwischenzeitlich zwischen Deutschland und Syrien abgeschlossenen Rückübernahmeabkommens können keine Änderungen festgestellt werden. Insbesondere gibt es keine Anzeichen einer verschärften Vorgehensweise der syrischen Sicherheitskräfte. Rückführungen nach Syrien fanden schon seit Jahren statt, auch vor Abschluss des genannten Vertrages. Dabei gab es vereinzelt Fälle, in denen aus Deutschland abgeschobene abgelehnte Asylbewerber bei der Einreise wegen politischer Aktivitäten verhaftet wurden, ohne dass damit eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung für alle unverfolgt ausgereisten Rückkehrer bestand (vgl. hierzu OVG Münster, Beschluss vom 15.04.2010, Az.: 14 A 729/10.A).

Allein aufgrund der geschilderten Vorfälle muss der Antragsteller daher noch keine asyl- oder flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen befürchten. Es wurden keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich, dass der Antragsteller zum besonders gefährdeten Personenkreis gehört.

Yeziden unterliegen aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung oder Manifestation dieser Überzeugung weder staatlichen Repressionen noch einer (an ihre Religionszugehörigkeit anknüpfenden) Verfolgung durch Dritte bzw. nichtstaatliche Akteure (vgl. hierzu Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 09.07.2009, Gz.: 508-516.80/3 SYR; siehe auch OVG Saarlouis, Beschluss vom 08.12.2009, Az.: 3 A 354/09; OVG Lüneburg, Urteil vom 24.03.2009, Az.: 2 LB 643/07; OVG Magdeburg, Urteil vom 30.01.2008, Az.: 3 L 74/06; VG Oldenburg, Beschluss vom 10.05.2010; Az.: 4 B 1236/10; VG Hannover, Urteil vom 28.02.2008, Az.: 2 A 2354/07; VG Münster, Urteil vom 22.02.2008, Az.: 10 K 1336/06.A).

Der yezidischen Religionsgemeinschaft gehört derjenige an, der sie durch Abstammung von yezidischen Eltern erworben und nicht durch unwiderrufliche Abwendung vom Glauben verloren hat (vgl. hierzu Lademann-Priemer, Gabriele: Die Yeziden. In Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, Internet: www.velkd.de/download/yeziden.pdf, abgerufen am 27.09.2007; Ackermann, Dr. Andreas: Yeziden in Deutschland - Von der Minderheit zur Diaspora. In Paideuma - Mitteilungen zur Kulturkunde, 49 (2003), S. 157ff., www.yeziden-colloquium.de/inhalt/wissenschaft/Yeziden_Deutschland.pdf, abgerufen am 27.09.2007; Spuler-Stegemann, Ursula: Der Engel Pfau. In Zeitschrift für Religionswissenschaft (ZfR) 1997, S. 3ff.; siehe auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 07.06.2007, Az.: 2 LA 416/07; VG Minden, Urteil vom 13.02.2007, Az.: 1 K 2123/06.A). Im Gegensatz zum Christentum und zum Islam missioniert das Yezidentum nicht nach außen (vgl. OVG Lüneburg, a.a.O.; VG Kassel, Urteil vom 04.10.2007, Az.: 3 E 1069/06.A).

Yeziden ist es erlaubt, sich im Notfall zum Selbstschutz durch Verbergen ihrer eigentlichen Religionsinhalte an die Umgebung anzupassen, soweit sie dadurch keine essentiellen Tabus verletzen (vgl. Hajo, Siamend; Savelsberg, Eva: Yezidische Kurden in Celle. In Kurdische Studien 1 (2001) 1: 17-52; Ackermann, Dr. Andreas: Yeziden in Deutschland - Von der Minderheit zur Diaspora. a.a.O.; Spuler-Stegemann, Ursula: Der Engel Pfau. a.a.O.; siehe auch OVG Lüneburg, a.a.O.; VG Minden, Urteil vom 13.02.2007, Az.: 1 K 2123/06.A). Aus diesem Grund berührt eine öffentliche Zurückhaltung bei der Praktizierung des Glaubens nicht den Kernbestand der Überzeugungen. Der syrische Staat schränkt weder die Glaubensüberzeugung der Yeziden ein, noch ihre Betätigung (vgl. VG Minden, a.a.O.; ähnlich VG Hannover, Urteil vom 02.10.2008, Az.: 2 A 3840/07).

Auch unter Berücksichtigung des Gutachtens des Yezidischen Forums e.V. vom 03.07.2009 sind schwerwiegende Eingriffe in die nach Art. 10 Abs. 1 b der Qualifikationsrichtlinie vom Schutzbereich der Religionsfreiheit nunmehr auch erfasste öffentliche Glaubensbetätigung nicht feststellbar (vgl. hierzu: OVG Saarlouis, Beschluss vom 08.12.2009, Az.: 3 A 354/09). Der Zwang, sich (partiell) islamischen Regeln, Normen oder Verhaltensmustern zu unterwerfen, bedeutet keine Verletzung der Menschenrechte der Betroffenen in fundamentaler Weise, zumal die dem Wesen ihres Glaubens weitgehend gerecht werdende Freiheit der Religionsausübung innerhalb des Internums ihrer Gruppe davon unberührt bleibt. Hinzu kommt, dass die vorliegenden Erkenntnisse auch die Annahme zulassen, dass der Zwang nicht auf sie ausgeübt wird, um sie als Yeziden, also gerade wegen ihres Glaubens, zu treffen, sondern dass ihnen damit gleichsam ein Dispens von dem sozial- und kulturüblichen Mehrheitsverhalten in ihrem Lebensumfeld, d.h. aus der Perspektive der Mehrheitsbevölkerung, eine Vergünstigung verweigert wird. Nach asylrechtlicher Betrachtung kann einer Verweigerung einer Begünstigung grundsätzlich ein Eingriffscharakter nicht zukommen (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 06.07.2009, Az.: 3 B 1829/09).

Eingriffe sind insbesondere auch weder in dem staatlich angeordneten Koranunterricht zu sehen (vgl. auch VG Kassel, a.a.O.), der nicht der Bekehrung zum Islam, sondern der Einübung der arabischen Tradition gilt, noch in der Abänderung der yezidischen Religion in muslimische Religion in Dokumenten, die lediglich eine ordnungspolitische Maßnahme in der Außensphäre darstellt.

Yeziden leiden mitunter unter einer gesellschaftlichen Benachteiligung und einer offenen bzw. versteckten Diskriminierung (vgl. auch VG Münster, Urteil vom 22.02.2008, Az.: 10 K 1336/06.A; VG Kassel, a.a.O.).

Soweit in Nordostsyrien - Distrikt al-Hassake - religiös motivierte Übergriffe durch Dritte bzw. nichtstaatliche Akteure erfolgen, erreicht ihre Anzahl - bezogen auf die Gesamtzahl der dort lebenden Yeziden - weder in den letzten Jahren, noch gegenwärtig oder in absehbarer Zukunft die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Annahme einer Gruppenverfolgung geforderte Verfolgungsdichte (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.05.1990, Az.: 9 C 17.89; BVerwG, Beschlüsse vom 22. Mai 1996; BVerwG 9 B 136.96 und vom 23. Dezember 2002, 1 B 42.02; siehe auch OVG Magdeburg, Urteil vom 30.01.2008, Az.: 3 L 75/06; VGH Kassel, Urteil vom 22.06.2006, Az.: 3 UE 1678/03.A; VG Osnabrück, Urteil vom 23.03.2009, Az.: 5 A 17/09). Selbst unter Zugrundelegung der im Gutachten des Kulturforums der yezidischen Glaubensgemeinschaft zu der Situation der Yeziden in Nordostsyrien vom 19.11.2000 angegebenen Zahlen ergibt sich, setzt man die Zahl der Verfolgungsschläge in zehn Jahren (1990-1999: 77) mit der Größe der betroffenen Gruppe (1990: 12.232, 2000: 4.093) in Beziehung, bei einer quantitativen Relationsbetrachtung, dass - umgerechnet für ein Jahr - etwa 98-99% der im Nordosten Syriens lebenden Yeziden von den Verfolgungsschlägen nicht betroffen waren. Aus diesem Ergebnis lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass die Verfolgungsschläge so dicht und eng fallen, dass bei objektiver Betrachtung für jeden Yeziden eine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, selbst Opfer eines asylrechtlich relevanten Übergriffs zu werden (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 27.03.2001, Az.: 2 L 5117/97). Die in etwa vergleichbaren Zahlen der Übergriffe für den Zeitraum von 1990 bis 1999 lassen erkennen, dass es ein konstantes Maß an Gewaltbereitschaft in der muslimischen Mehrheitsbevölkerung gibt, jedoch ohne signifikante Ausschläge. Folgerichtig geht das OVG Magdeburg (in seinem Urteil vom 30.01.2008, Az.: 3 L 75/06) auch für absehbare Zukunft von einer Anzahl von 7,7 Verfolgungsschlägen pro Jahr als Arbeitsgrundlage aus und sieht für eine darüber hinausgehende negative Prognose keinen Anlass. Bei fortschreitender Abwanderungstendenz und gleich bleibender Kriminalitätsrate errechnet das Gericht ein Verfolgungsrisiko von 0,38% für jeden verbleibenden Yeziden, ausgehend von ca. 2.000 Yeziden in der Provinz al-Hassake. Das reicht für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit weiterhin nicht aus.

An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts durch die in der Stellungnahme des Yezidischen Forums zur Situation der Yeziden in Syrien (unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung) vom 03.07.2009 vorgelegten Informationen (vgl. hierzu auch OVG Saarlouis, Beschluss vom 08.12.2009, Az.: 3 A 354/09; VG Oldenburg, Beschluss vom 10.05.2010, Az.: 4 B 1236/10). Das Forum geht davon aus, dass die Zahl der Yeziden in Syrien Ende 2008 bei 3.357 lag und legt eine Liste von Verfolgungsfällen (insgesamt 76) im Zeitraum von 2000 bis 2008 vor, die Raub und Enteignung (31 Vorfälle), Körperverletzungen (32 Vorfälle) und Morde (13 Personen) umfasst. Auch die Stellungnahme des Yezidischen Forums zeigt keine Daten, Ereignisse oder Entwicklungen auf, die die Beurteilung des OVG Magdeburg, was insbesondere die dafür maßgeblichen quantitativen Relationsbetrachtungen betrifft, in Frage stellen könnten (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 06.07.2009, Az.: 3 B 1829/09). Gleiches gilt für "Stellungnahme und Bericht zur Lage der Eziden aus Syrien" des Ezidischen Kultur-Zentrums in Celle und Umgebung e.V. vom 08.11.2009.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht, wenn man die yezidische Bevölkerung als "äußerst kleine Gruppe" im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.05.1996, Az.: 9 B 136/96) ansehen würde, da sich Gewalttaten an Yeziden als situationsgebundene Einzelaktionen darstellen und nicht als zentral gesteuerte, gleichsam flächendeckende Exzesse. Fundamental-islamische Tendenzen könnten zwar eine Änderung der momentanen Situation bewirken, jedoch ist bei besonnener Würdigung der derzeitigen Verhältnisse in Syrien nicht damit zu rechnen (vgl. OVG Magdeburg, Urteil vom 30.01.2008, Az.: 3 L 75/06). Insbesondere zielen die Verfolgungshandlungen nicht auf die Yeziden insgesamt und weiten sich nicht so aus bzw. wiederholen sich nicht in einer Art, dass hieraus für jeden Yeziden nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, a.a.O.). Keine staatliche Ordnungsmacht kann einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt garantieren (vgl. VG Minden, Urteil vom 13.02.2007, Az.: 1 K 2123/06.A).

Auch in Nordwestsyrien liegt mangels Verfolgungsdichte keine Gruppenverfolgung vor. Hinzu kommt in diesem Gebiet eine allgemein gute wirtschaftliche Situation der Yeziden und ein relativ problemloses Zusammenleben der Yeziden und Muslime. [...]

2. Es liegen jedoch Wiederaufgreifensgründe vor, die eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG rechtfertigen.

Die vorgetragenen Erkrankungen des Antragstellers, Hypertonie, Hypertensive Nephropathie, Polyarthrose und Z.n. Totalendoprothese der rechten Hüfte, sind nach hiesigem Erkenntnisstand nicht angemessen behandelbar. Dadurch ist jedoch zu besorgen, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers alsbald nach Rückkehr lebensbedrohlich verschlechtern würde. [...]