VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 16.09.2010 - 7 K 3373/09.F.A - asyl.net: M17621
https://www.asyl.net/rsdb/M17621
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen latenter Verfolgungsgefahr durch die Taliban in Afghanistan wegen beruflich herausgehobener Stellung der Eltern (Militär und Bildungswesen).

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Afghanistan, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, latente Gefährdungslage, Schutzfähigkeit, Kabul
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3, GG Art. 16a, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4c
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat aber Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen eines politischen Flüchtlings in seiner Person gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 AsylVfG, § 60 Abs. 1 AufenthG. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylVfG leitet sich daraus her, dass der Kläger gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 nicht nach Afghanistan abgeschoben werden darf, weil dort sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Er befand sich vor seiner Ausreise zumindest in einer Situation, in der angedrohte Handlungen jederzeit in eine gegen ihn gerichtete politische Verfolgung umschlagen konnten (sogenannte latente Verfolgungssituation). Eine politische Verfolgung kann gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4 nämlich ausgehend von a) dem Staat, b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder c) nicht staatlichen Akteuren, sofern sie unter dem Buchstaben a) und b) genannten Akteuren einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen in der Lage oder nicht Willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative.

Das Gericht geht davon aus, dass vorliegend eine Verfolgungshandlung von nicht staatlichen Akteuren i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG gegeben war bzw. unmittelbar den Kläger bedrohte. Diese Verfolgungshandlung und die Verfolgungsmächtigkeit der handelnden Akteure schlussfolgert das Gericht aus einer Gesamtschau der allgemeinen Lage in Afghanistan und der persönlichen Situation des Klägers. Es geht unter Zugrundelegung des Lageberichtes des Auswärtigen Amtes vom 03.08.2010 davon aus, dass die zentralstaatliche Regierung Karsai allenfalls im Großraum Kabul mit staatlicher Herrschaftsmacht ausgestattet ist, welche nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit in der Beherrschung des bestehenden Machtapparates voraussetzt (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.02.2001 - 9 C 20.00 - NVWZ 2001, 815 f.). Sie konkurriert aber auf dem gesamten Staatsgebiet mit regionalen und örtlichen Milizen, mit weiteren durch Stammeszugehörigkeit oder Clanzugehörigkeit einflussausübenden örtlichen Machthabern und islamistischen Kombattanten und hier insbesondere den Taliban, deren Macht und Einfluss trotz des im Jahre 2001 eingeleiteten Umschwungs in weiten Teilen des Staatsgebietes noch immer spürbar ist. Dieser Einfluss der Taliban oder der mit ihnen verbundenen islamistischen Gruppen erfordert zur Stabilisierung der Herrschaft der Zentralregierung enorme militärische Ressourcen durch die ISAF-Truppen, die über ein militärisches Potential von 150.000 Mann verfügen und regional - vor allem im Osten und im Westen - in regelrechte militärische Kämpfe mit den Taliban verwickelt sind. Auch im Großraum Kabul lässt sich die Herrschaft der Zentralregierung nur aufrecht erhalten, weil bedeutende Kontingente der internationalen Truppen in diesem Raum stationiert sind. Festzustellen ist, dass sich über einen Zeitraum von zwischenzeitlich neun Jahren die Lage zugunsten einer Stabilisierung Afghanistans und Ausstattung mit einer allgemein gebilligten Zentralregierung nicht verfestigt hat. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die verschiedenen Kombattanten, die bereits genannt wurden, in ihren jeweiligen Gebieten, aber auch darüber hinaus, Herrschaftsmacht errichtet haben und diese Herrschaftsmacht i.S.d. Rechtsprechung des BVerwG mit einer gewissen Stetigkeit und Stabilität ausgestattet ist und es unabsehbar ist, wie diese mit der zentralstaatlichen Regierungsgewalt konkurrierende Herrschaftsmacht gebrochen werden kann. Insoweit sind die von dem Kläger geltend gemachten Gefährdungen und befürchteten Verfolgungshandlungen Teil von Verfolgungshandlungen, die von verfolgungsfähigen und verfolgungsmächtigen nicht staatlichen Akteuren i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG begangen wurden, gegen die die staatliche Macht strukturell nicht Schutz vor Verfolgung bieten kann. Es ist auch nicht ersichtlich, auf welche innerstaatliche Fluchtalternative der Kläger, der noch als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist, außerhalb Kabuls, wo seine Familie und seine Verwandten wohnen, verwiesen werden kann.

Das Gericht hält die Ausführungen des Klägers im Kern für glaubhaft. Er hat dargelegt, dass er schon bei seiner Einreise in das Bundesgebiet beabsichtigt hatte, ein Schutzersuchen zu stellen, weil er in Kabul Angst um sein Leben haben musste. Dies hat er glaubhaft gemacht durch seine persönliche Schilderung und durch seine Lebensumstände, welche dahingehend zu beschreiben sind, dass seine Familie wegen der beruflich eingenommenen Stellung der Eltern des Klägers in den Institutionen des Staates - Militär und Bildungswesen - einer besonderen Gefahr unterliegt, von Talibankämpfern in Visier genommen zu werden. Das Gericht kann auch nachvollziehen, dass der Kläger wegen seiner Ausbildung durch das Erlernen der deutschen Sprache in das Raster dieser Organisation geraten ist, was ihm wegen dieses Ausbildungsinteresses und insgesamt der herausgehobenen beruflichen Stellung der Eltern des Klägers besonders heraushebt. Der Kläger hat hierzu eine schriftliche Botschaft in der mündlichen Verhandlung vorgelegt, welche diese Verfolgungsabsicht untermauert. Zwar konnte der Kläger keine konkreten Verfolgungshandlungen, die er schon erlitten hat, geltend machen, ihm kommt aber zugute, dass er sich in einer sogenannten latenten Verfolgungssituation befand und es ihm nicht zuzumuten war, abzuwarten, bis die Verfolgungshandlungen tatsächlich ins Werk gesetzt worden sind. Insgesamt erscheinen die Ausführungen des Klägers als glaubhaft, wobei sich das Gericht auf seine Angaben in der informatorischen Anhörung stützt und auch davon ausgeht, dass die von dem Kläger geschilderten Erfahrungen mit der allgemeinen Lage in Kabul übereinstimmen. Deshalb geht das Gericht auch davon aus, dass der Kläger sich nicht nur einer allgemeinen Gefahr stellen musste, die durch die unsichere Lage in Kabul generell gegeben ist, sondern als Mitglied seiner Familie wegen der herausgehobenen Stellung derselben besonders Gefahr lief, von Verfolgungshandlungen überzogen zu werden. Hiergegen kann aufgrund der Gesamtlage in Afghanistan, die bereits skizzenhaft umrissen wurde, die staatliche Gewalt nicht schützen. [...]