AG Cottbus

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Zitieren als:
AG Cottbus, Urteil vom 20.08.2010 - 86 Cs 1220 Js 32267/09 (113/09) - asyl.net: M17681
https://www.asyl.net/rsdb/M17681
Leitsatz:

Nach Ausweitung des Residenzpflichtbereichs zum 29.7.2010 in Brandenburg sind auch frühere Verstöße nicht mehr strafbar, sofern noch keine strafrechtliche Entscheidung ergangen ist (Rückwirkungsverbot nach § 2 Abs. 3 StGB).

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, räumliche Beschränkung, Verstoß gegen räumliche Beschränkung, Aufenthaltsgestattung, Duldung, Rückwirkung,
Normen: AsylVfG § 58 Abs. 6, AufenthG § 60a, AsylVfG § 85 Nr. 2, AsylVfG § 56 Abs. 1, StGB § 2 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Mit am 29.07.2010 in Kraft getretener Verordnung der Landesregierung des Landes Brandenburg, ergangen auf der Grundlage des § 58 Abs. 6 des Asylverfahrensgesetzes, lockerte die Landesregierung die Aufenthaltsbeschränkung dergestalt auf, dass sie in § 1 Abs. 1 der Verordnung folgendes festlegte:

"Asylbegehrende, die nicht oder nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung im Sinne des § 44 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes zu wohnen, dürfen sich ohne Erlaubnis vorübergehend im gesamten Gebiet des Landes Brandenburg aufhalten."

Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung war die Angeklagte nach Mitteilung des für sie zuständigen Landkreises Spree-Neiße nicht mehr Asylbewerberin, sondern vollziehbar ausreisepflichtig, wobei wie oben unter 1. benannte die Abschiebung ausgesetzt [sic] und eine Duldung gemäß § 60 a Abs. 2 Satz 1 Aufenthaltsgesetz mit Wirkung bis zum 07.09.2010 bestand. [...]

Die Angeklagte war vom Vorwurf des Verstoßes gegen das Asylverfahrensgesetz gemäß den §§ 85 Nr. 2, 56 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz aus rechtlichen Gründen freizusprechen.

Nach der genannten Vorschrift ist zu bestrafen mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe, wer nach § 85 Nr. 2 Asylverfahrensgesetz wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung nach § 56 Abs. 1 zuwiderhandelt.

Dies heißt konkret auf den hiesigen Fall, wer gegen die Aufenthaltsbeschränkung der Aufenthaltsgestattung, hier beschränkt auf den Landkreis Spree-Neiße und die Stadt Cottbus verstößt.

Dies hat zwar die Angeklagte getan und auch zugegeben. Der Angeklagten kommt aber aus rechtlichen Gründen zu Gute, dass diese Aufenthaltsbeschränkung durch die Landesregierung mit Wirkung zum 29.07.2010 aufgehoben wurde.

Dieses Straflosstellen der Verletzung der Aufenthaltsbeschränkung nach § 56 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz erfährt durch § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches eine Rückwirkung zu Gunsten der Angeklagten zur Tatzeit.

Denn in der genannten Vorschrift des Strafgesetzbuches heißt es:

"Wird das Gesetz, das bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden."

Zur Ermittlung des mildesten Gesetzes ist hierbei der gesamte Rechtszustand im Bereich des materiellen Rechts heranzuziehen, vgl. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch, 57. Auflage 2010, RN 8 § 2.

Dabei kommt es nicht darauf an, ob sich die Strafnorm selbst geändert hat, vielmehr ist der gesamte Rechtszustand im Bereich des materiellen Rechts hinsichtlich des in Betracht kommenden Tatbestandes zur Ermittlung des mildesten Gesetzes heranzuziehen, vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16.10.1990 (5 Ss 299/90-118/091), abgedruckt in NJW 1991 Seite 710 bzw. NStZ 1991, Seite 133.

Danach wirkt sich die nachträgliche Aufhebung der räumlichen Beschränkung zu Gunsten der Angeklagten aus mit dem Ergebnis eines Freispruchs aus rechtlichen Gründen, weil nunmehr das mildeste Gesetz angewendet werden muss. Das denkbar mildeste Gesetz ist ein Gesetz, das ein vorher strafbares Verhalten nunmehr straflos stellt. So liegt der Fall hier.

Das erkennende Gericht teilt ausdrücklich die von der Staatsanwaltschaft im Plädoyer angeführte Rechtsansicht nicht, das dieses mildere Gesetz zu Gunsten der Angeklagten deshalb keine Anwendung finden soll, weil zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung über das vorübergehende Verlassen des Bereiches der Aufenthaltsgestattung vom 23.07.2010, verkündet am 28.07.2010 und nach § 2 der Verordnung am Tag nach der Verkündung in Kraft tretend, deshalb keine Anwendung auf die Angeklagte finden soll, weil am Tag des Inkrafttretens die Angeklagte keine Asylbegehrende im Sinne des § 1 Abs. 1 der genannten Verordnung mehr gewesen ist.

Diese Tatsache ist zwar zutreffend, weil inzwischen das Asylbegehren der Angeklagten abgewiesen wurde und die Angeklagte zu diesem Zeitpunkt wie auch momentan nur noch geduldet war bzw. ist.

Nach Auffassung des Gerichts kann es jedoch im Sinne der eindeutigen Bestimmtheit von Straftatbeständen nur auf den Rechtszustand am Tattag, somit am 28.07.2009, ankommen, wo die Angeklagte unstreitig noch Asyslbegehrende gewesen war.

Auch der § 1 des Strafgesetzbuches stellt auf den Zeitpunkt kurz vor Begehung der Tat ab, wenn er formuliert, dass eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Somit ist die Rückwirkung des § 2 Abs. 3 des Strafgesetzbuches eine Rückwirkung zum Tatzeitpunkt. Der Status der Angeklagten bei Inkrafttreten des milderen Gesetzes im Sinne der vorgenannten Vorschrift, ist daher aus Sicht des Gerichts nicht beachtlich.

Dies muss auch schon deshalb gelten, weil sonst die Regelung des § 2 Abs.3 des Strafgesetzbuches hier im konkret vorliegenden Fall davon abhängen würde, wann es zu einer strafrechtlichen Hauptverhandlung, oder wie in diesem Fall einer Einspruchsverhandlung, kommt. Es hinge dann was diese Dinge angeht, von Zufälligkeiten der Terminierung ab. Dies kann vom Gesetzgeber nicht gemeint sein.

Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass es naturgemäß auch Zufälligkeiten sind, ob an dem Tag der Hauptverhandlung bereits das mildere Gesetz bereits in Kraft getreten ist. Dies liegt jedoch in der Natur der Sache und kann zur Begründung auf den von der Staatsanwaltschaft abgestellten Zeitpunkt nicht ernsthaft angeführt werden, zumal die Möglichkeit besteht, sollte z.B. eine politische Diskussion oder gar schon die Vorbereitung zu einem milderen Gesetz bereits laufen, mit der Einlegung entsprechender Rechtsmittel eine erneute Verhandlung zur Sache oder eine sonstige Überprüfung des Urteils zu erreichen. [...]