Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Dublin-Überstellung eines unbegleiteten Minderjährigen nach Italien. Der Antragsteller war 2008 über Italien in die EU eingereist, wurde 2009 in der Schweiz aufgegriffen und beantragte 2010 erstmals in Deutschland Asyl. Die Zustimmungsfiktion im Rahmen des Schweizer Überstellungsverfahrens wirkt sich mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO nicht gegenüber Deutschland aus. Sonstige Gründe für die Zustimmung Italiens zu dem Ersuchen Deutschlands sind nicht ersichtlich.
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Das Begehren ist im Hinblick auf § 80 Abs. 5 VwGO und die vom Antragsteller erhobene Klage gegen die Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin vom 12. August 2010 statthaft. Entgegen § 34a AsylVfG ist der Antrag zulässig. Auch nach Art. 15 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO), hat zwar ein gegen die Entscheidung über die Überstellung eines Asylantragstellers in einen anderen Mitgliedsstaat eingelegter Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung; eine Ausnahme gilt jedoch, soweit die Gerichte oder zuständigen Stellen im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders entscheiden, wenn es nach dem innerstaatlichen Recht zulässig ist. Dies ist hier der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass auch § 34a AsylVfG im Hinblick auf Fälle des § 27a AsylVfG - wie hier - verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass diese Vorschrift ungeachtet ihres Wortlauts die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Überstellungen in einen anderen Staat nicht generell verbietet, sondern dass derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Dazu muss es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängen, dass der Antragsteller von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GC und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist (BVerfG, Urt. v. 14. Mai 1996 - E 94, 49, 113 sowie Beschlüsse vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09, DVBl. 2009, 1304 f. und vom 22. Dezember 2009 - 2 BvR 2879/09, NVwZ 2010, 318). Aus dem Vortrag des Antragstellers ergibt sich, dass hier die Voraussetzungen für die Annahme eines derartigen Sonderfalls erfüllt sind.
Der Antrag ist auch begründet. Die Abschiebungsanordnung begegnet ernstlichen rechtlichen Zweifeln (entsprechend § 36 Abs. 4 AsylVfG). Die Antragsgegnerin kann sich für die beabsichtigte Überstellung des Antragstellers nach Italien nicht auf die genannte Verordnung stützen; eine sonstige Rechtsgrundlage dafür existiert nicht.
Die Bestimmungen der Dublin II-Verordnung bezwecken, sicher zu stellen, dass nur einem Signatarstaat des Abkommens die Prüfung des Asylantrages eines Drittstaatsangehörigen obliegt (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin-Verordnung, 3. Aufl. 2010, S. 24; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, Rn. 1885), und zwar in Fällen, in denen in zwei oder mehr Staaten ein solcher Antrag gestellt wurde. Dies ergibt sich auch aus Art. 4 Abs. 1, wonach das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates eingeleitet wird, sobald ein Asylantrag erstmals in einem Mitgliedsstaat gestellt wurde. Da der Antragsteller seinen Asylantrag erstmals in der Bundesrepublik Deutschland gestellt hat (Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 19. April 2010, Bl. 39 des Verwaltungsvorgangs) ist im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO die Bundesrepublik Deutschland für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständig; denn es handelt sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, der keiner Familienangehörigen hat, der sich in einem anderen Signatarstaat aufhält, so dass eine Zuständigkeit eines anderen Staates im Hinblick auf der Aufenthalt eines Familienangehörigen (Art. 6 Abs. 1 Dublin II-VO) nicht in Betracht kommt.
Für eine Zuständigkeit von Italien zur Durchführung des Asylverfahrens ergibt sich aus der Dublin II-VO hingegen keine Rechtsgrundlage. Aus dem Verwaltungsvorgang geht zwar hervor, dass der Antragsteller am 7. September 2008 illegal die Grenze nach Italien überquerte und sich dann für kurze Zeit in Ragusa (Sizilien). aufgehalten haben muss; bereits im Oktober 2008 soll er jedoch untergetaucht sein. Über eine Asylantragstellung lässt sich dem Verwaltungsvorgang nichts entnehmen. Dokumente, die für eine primäre Zuständigkeit Italiens für die Bearbeitung eines solchen Antrags sprechen könnten, sind nicht vorhanden; dies hat der Vertreter der Antragsgegnerin in diesem Verfahren auch telefonisch gegenüber dem Einzelrichter bestätigt. Dementsprechend findet sich in den Unterlagen im Verwaltungsvorgang (Bl. 13 ff.) nur die Angabe, dass der Antragsteller seinerzeit weder in Italien noch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt hatte. Ebenso wenig ergibt sich aus dem Verwaltungsvorgang, dass dem Antragsteller seinerzeit ein Aufenthaltstitel für Italien ausgestellt worden wäre. Sodann wurde der Antragsteller im Jahr 2009 in der Schweiz aufgegriffen; die Schweiz leitete ein Überstellungsverfahren nach Italien ein, auf das die italienischen Behörden nicht reagierten. Das Überstellungsverfahren wurde im Hinblick auf das Untertauchen des Antragstellers zwar nicht weiter geführt; die italienischen Behörden haben das Ersuchen der Schweiz aber auch nicht beantwortet.
Die Antragsgegnerin stützt das Überstellungsbegehren indes allein auf den Umstand, dass Italien die Überstellung durch Schreiben vom 20. April 2010 akzeptiert hat. Dies geschah ohne Angabe von Gründen. Diese Bereitschaft dürfte sich nur im Hinblick auf die Fiktion des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erklären lassen, dass davon auszugehen ist, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, wenn innerhalb einer Frist von einem Monat bzw. zwei Monaten - je nach Fallgestaltung - keine Antwort erteilt worden ist. Dies allein kann jedoch im Verhältnis zur Antragsgegnerin die Zuständigkeit Italiens für die Bearbeitung des Asylantrags und für die Überstellung des Antragstellers aus Deutschland i.S.d. Dublin II-VO nicht begründen, da die Antragsgegnerin insoweit nicht Beteiligte des durch das Überstellungsersuchen der Schweiz eingeleiteten Verfahrens war. Insoweit gehen vielmehr die materiellen Regelungen in Art. 5 ff. Dublin II-VO vor, die hier, wie dargelegt, eindeutig eine Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland ergeben.
Fehlt es bereits an einer Asylantragstellung in Italien, kommt eine Überstellung des Antragstellers dorthin im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 Dublin II-VO schon aus diesem Grund nicht in Betracht. Im Übrigen steht einer Zuständigkeit Italiens für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers auch entgegen, dass der Antragsteller zwar seinerzeit die Grenze dieses Mitgliedstaats illegal überschritten hatte und im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO infolgedessen grundsätzlich eine Zuständigkeit Italiens für die Prüfung eines etwa gestellten Asylantrags gegeben war. Selbst wenn der Antragsteller jedoch einen solchen Antrag bereits in Italien gestellt hätte, was hier - wie bereits dargelegt - nicht erwiesen ist, endete jedoch die solchermaßen begründete Zuständigkeit Italiens 12 Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO). Dies war spätestens im September 2009 der Fall. Da auch die in Art. 10 Abs. 2 Dublin II-VO genannten Voraussetzungen für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats nicht vorliegen, bleibt es insoweit bei der durch Art. 6 begründeten Zuständigkeit der Antragsgegnerin.
Es kann folglich offen bleiben, ob der Antragsteller als unbegleiteter Minderjähriger in Italien überhaupt wirksam einen Asylantrag hätte stellen können; dies begegnet insofern erheblichen Zweifeln, als Italien keinen Vorbehalt zur Kinderschutzkonvention erklärt hat, so dass dort ein Minderjähriger nur durch einen gesetzlichen Vertreter einen Asylantrag stellen könnte. Der Antragsteller hat indessen weder angegeben, überhaupt einer Asylantrag in Italien gestellt zu haben, noch, dass er einen solchen gesetzlichen Vertreter zugeordnet bekommen habe. Die Antragsgegnerin hat hierzu nichts vorgetragen, was über die aus dem Verwaltungsvorgang sich ergebenden Erkenntnisse hinausginge. Die Antragsgegnerin hat diese Frage letztlich auch nicht aufklären können, was der Vertreter der Antragsgegnerin telefonisch bestätigt hat; eine verbleibende Ungewissheit geht zu ihren Lasten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). [...]