LG Göttingen

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Zitieren als:
LG Göttingen, Urteil vom 16.07.2010 - 12 Ns 9/10 - asyl.net: M17730
https://www.asyl.net/rsdb/M17730
Leitsatz:

Kein strafbares Verhalten einer geduldeten mazedonischen Staatsangehörigen, die sich weigert, zur Passbeschaffung nach Mazedonien zu reisen.

Schlagwörter: Ausländerstrafrecht, Passpflicht, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Zumutbarkeit, Mazedonien, Duldung, Visum, Freiwilligkeitserklärung, Straftat, Ordnungswidrigkeit, Verjährung, Verjährungsfrist
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 3 Abs. 1, AufenthG § 48 Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 5 S. 1, AufenthG § 98 Abs. 1, OWiG § 31 Abs. 2 Nr. 2, OWiG § 31 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Nach den getroffenen Feststellungen war die Angeklagte aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen freizusprechen. Gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG macht sich strafbar, wer sich vorsätzlich entgegen § 3 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält.

Zwar steht fest, dass sich die Angeklagte seit Jahren auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhält, ohne als Ausländerin im Besitz eines anerkannten und gültigen Passes oder Passersatzes zu sein, wobei sie spätestens seit Erhalt des Schreibens des Landkreises Northeim vom 24. Oktober 2007 wusste, dass sie eine entsprechende Mitwirkungspflicht trifft.

Gleichwohl hat sich die Angeklagte nicht eines Vergehens gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG schuldig gemacht, weil ihr entgegen § 48 Abs. 2 AufenthG die Erlangung eines Passes oder eines Passersatzes nicht in zumutbarer Weise möglich war. Dies folgt daraus, dass die Angeklagte zur Erlangung eines gültigen Nationalpasses in die Republik Makedonien einreisen müsste. Da ihre Abschiebung lediglich vorübergehend ausgesetzt ist, sie also lediglich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland geduldet wird, besteht für sie nach wie vor gemäß § 60a Abs. 3 AufenthG eine Ausreisepflicht. Dementsprechend würde die Duldung bzw. die Aussetzung der Abschiebung gemäß § 60a Abs.5 Satz 1 AufenthG mit ihrer Ausreise erlöschen.

Vor diesem Hintergrund könnte die Angeklagte nur dann wieder aus der Republik Makedonien in die Bundesrepublik Deutschland einreisen, wenn ihr dort ein Visum ausgestellt würde. Die Chancen für die Ausstellung dieses Visums sind indes - im Anschluss an die Angaben der Zeugin - als ungünstig anzusehen, so dass zugunsten der Angeklagten davon auszugehen ist, dass sie kein entsprechendes Visum erhielte. Dann aber wäre ihre Rückreise in die Bundesrepublik Deutschland nicht möglich.

In diesem Fall kann von der Angeklagten nicht verlangt werden, dass sie zur Erlangung eines Passes oder eines Passersatzes in die Republik Makedonien reist. Dies ergibt sich schon daraus, dass staatliches Handeln in diesem Falle als widersprüchlich angesehen werden müsste, wenn einerseits der Angeklagten über Jahre eine Duldung erteilt wird, sie aber andererseits - um sich nicht strafbar zu machen - gehalten sein soll, in ihr Herkunftsland zu reisen, ohne einen Anspruch auf Rückreise in die Bundesrepublik Deutschland zu haben.

Diese Erwägungen gelten umso mehr, als die Angeklagte seit mittlerweile annähernd 18 Jahren zusammen mit einem Großteil ihrer Familie in Deutschland lebt, fließend Deutsch spricht und zusammen mit ihrem Bruder eine Wohnung in Einbeck bewohnt. Dessen ungeachtet stellt sich die Frage der Zumutbarkeit auch vor dem Hintergrund, dass die Angeklagte mit den staatlichen Leistungen, die sie erhält, kaum einen Hin- und Rückflug in die Republik Makedonien sowie einen Aufenthalt dort - nebst der anfallenden Gebühren für die Austeilung eines Visums - finanzieren könnte.

Gestützt wird die Auffassung der Kammer durch die zu § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ergangene Rechtsprechung. So hat das OLG München (Urteil vom 9. März 2010 - 4 St RR 102/09 -, Rn. 16 und Rn. 21 m.w.N., zitiert nach juris) entschieden, dass einem iranischen Staatsangehörigen, der sich weigert, bei seiner Auslandsvertretung eine so genannte Freiwilligkeitserklärung des Inhalts abzugeben, aus freien Stücken in die Islamische Republik Iran zurückkehren zu wollen, die Erlangung eines entsprechenden Passes bzw, Passersatzes bei seiner Auslandsvertretung unzumutbar im Sinne des § 48 Abs. 2 AufenthG ist. Wenn aber schon die Abgabe der (inhaltlich unrichtigen) Erklärung, wieder in das Herkunftsland zurückkehren zu wollen, für einen vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer unzumutbar ist, dann muss dies erst recht für den Fall gelten, dass von diesem verlangt wird, dass er tatsächlich in sein Herkunftsland zurückreist, obwohl er dies nicht vorhat und dort nicht dauerhaft bleiben will.

Soweit die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 154a Abs. 1 Nr. 1 StPO im Hinblick auf den Verdacht eines Vergehens gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor dem 20. Dezember 2007 vorläufig beschränkt hat, war der Freispruch aus den folgenden Gründen ohne förmliche Wiedereinbeziehung auch darauf zu erstrecken (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53. Auflage 2010, § 154a Rn. 24 m.w.N.).

Hinsichtlich des Tatzeitraums vom 10. März 2007 bis zum 19. Dezember 2007 gelten die Ausführungen zur Frage der Zumutbarkeit entsprechend.

Soweit darüber hinaus die Begehung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit im Raum steht, war zugunsten der Angeklagten für den Zeitraum vor dem 20. Dezember 2007 lediglich fahrlässiges Handeln anzunehmen ist. Demgemäß kommt für den Zeitraum vor dem 10. März 2007 allein die Begehung einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 98 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG in Betracht. Gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 2 OWiG verjährt die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten, die - wie § 98 Abs. 1 AufenthG - mit Geldbuße im Höchstmaß von mehr als 2.500,00 bis 15.000,00 Euro bedroht sind, in zwei Jahren. Gemäß § 31 Abs. 3 OWiG beginnt die Verjährung, sobald die Handlung beendet ist. Bei § 98 Abs. 1 AufenthG als Dauerdelikt war dies zum Zeitpunkt der Beseitigung des rechtswidrigen Zustandes (vgl. Fischer, StGB, 57. Auflage 2010, § 78a Rn. 12 m.w.N.; KK-Weller, OWiG, 3. Auflage 2006, § 31 Rn. 25 m.w.N.).

Dieser rechtswidrige Zustand wurde dadurch beendet, als es der Angeklagten unzumutbar wurde, ein nationales Passpapier zu erlangen. Dies war ab dem 10. März 2007 der Fall, als die Beschaffung von Nationalpässen für makedonische Staatsangehörige, die im Ausland leben, nur noch in der Republik Makedonien möglich war. Ab diesem Zeitpunkt konnte sie objektiv weder eine Ordnungswidrigkeit noch eine Straftat gemäß §§ 98 Abs. 1, 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG begehen.

Die erste gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 OWiG verjährungsunterbrechende Maßnahme ist in dem Schreiben des Landkreises Northeim vom 3. April 2009 zu sehen, mit dem die Bekanntgabe, dass gegen die Angeklagte ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, angeordnet worden ist. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch bereits zwei Jahre verstrichen, so dass die vor dem 9. März 2007 allein in Betracht kommende Ordnungswidrigkeit gemäß § 98 Abs. 1 AufenthG bereits zu diesem Zeitpunkt - 3. April 2009 - verjährt war.

Da dieses Prozesshindernis nur eine tateinheitlich begangene Ordnungswidrigkeit betrifft, scheidet dieser Tatteil ohne förmliche Einstellung - und entsprechende Tenorierung im Urteil - aus dem Verfahren aus (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 260 Rn. 43).

Die Angeklagte war daher aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen vom Vorwurf des vorsätzlichen (und fahrlässigen) Verstoßes gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG freizusprechen. [...]