VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 03.02.2010 - 20 K 3842/09.A - asyl.net: M17758
https://www.asyl.net/rsdb/M17758
Leitsatz:

Asylanerkennung aufgrund Folter und Verurteilung in der Türkei wegen PKK-Unterstützung. Verfolgungsgefahr im Falle einer Rückkehr, da es der türkischen Regierung bislang nicht gelungen ist, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Wegen der glaubhaften Abkehr von terroristischen Aktivitäten steht der sog. Terrorismusvorbehalt der Asylanerkennung nicht entgegen.

Schlagwörter: Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Asylverfahren, Türkei, PKK, Freiheitsstrafe, Terrorismusvorbehalt, Posttraumatische Belastungsstörung, Vorverfolgung, politische Verfolgung, Folter
Normen: GG Art. 16a Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5, 1 VwGO. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter sowie auf die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen.

Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Eine Verfolgung ist dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielte Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Die Rechtsverletzung, aus der der Asylbewerber eine Asylberechtigung herleitet, muss ihm gezielt, d.h. gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale zugefügt worden sein. Sie muss von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so dass der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und irr Ausland Schutz zu suchen.

Ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter besteht nur dann, wenn der Asylsuchende geltend machen kann, dass er im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer Rückkehr in sein Heimatland von politischer Verfolgung bedroht wäre. Für die danach anzustellende Prognose gelten unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob der Asylsuchende in seinem Heimatland bereits Verfolgung erlitten hat oder nicht. Im erstgenannten Fall ist Asyl schon dann zu gewähren, wenn der Asylsuchende bei einer Rückkehr vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher ist. Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, so kann sein Asylbegehren nach Art. 16a Abs. 1 GG nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Bei Anwendung der vorgenannten Grundsätze ist der Kläger als Asylberechtigter anzuerkennen, weil er vor seiner Ausreise politische Verfolgung erlitten hat und nicht feststellbar ist, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland vor erneuter politischer Verfolgung hinreichend sicher ist.

Aufgrund des Strafurteils der 3. Strafkammer des Strafgerichts in Malatya, welches nach einer vom Bundesamt in dem Asylverfahren des Onkels des Klägers eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 18. Juli 2008 echt ist, steht zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger am 20. Dezember 2005 wegen Unterstützung der PKK/Kongra-Gel zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden ist. Ausweislich des Urteils soll der Kläger in den Jahren 2001 bis 2004 für die Terrororganisation PKK/Kongra-Gel als Miliz gearbeitet und dabei Gelder eingesammelt sowie Material und Ausrüstungsgegenstände besorgt haben. Im Juni 2004 soll er eine Bergziege gejagt und diese den Mitgliedern der Organisation überlassen haben. Obwohl der Kläger sein bei der türkischen Polizei abgelegtes Geständnis am 4. November 2004 widerrufen hat, hat er anlässlich seiner Anhörung vor dem Bundesamt erklärt, dass er die abgeurteilten Taten im Wesentlichen auch begangen hat. Er habe zu dem Verlangen der PKK aus Angst niemals "Nein" sagen können.

Ob die Verurteilung für sich genommen bereits politische Verfolgung bedeutet, weil das Strafmaß von dem legitimen Interesse des türkischen Staates an einer wirksamen Terrorismusbekämpfung nicht mehr gedeckt ist, kann offen bleiben. Denn der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, im Zusammenhang mit den strafrechtlichen Ermittlungen wiederholt misshandelt und gefoltert worden zu sein. Während seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger dazu vorgetragen, er sei im Jahre 2001 nach einer Verhaftung durch die Polizei gefoltert und unmenschlich behandelt worden. Man habe ihn mit dem Tode bedroht. Nach der Verhaftung im Jahre 2004 sei er psychisch fertig gemacht worden. Er habe sich auf einen Stuhl setzen müssen und zwei Leute hätten ihn von hinten mit dem Nacken auf den Boden gepresst und getreten, gestoßen, gehauen und geboxt. Die Angaben des Klägers zu diesen Geschehnissen sind in Ermangelung weiterer Nachfragen des Bundesamtes zwar oberflächlich geblieben. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 22. Januar 2010 aber einen aussagekräftigen Bericht des Universitätsprofessors Dr. Dr. ... der Abteilung für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsklinik Düsseldorf vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass der Kläger dort seit dem 7. Juli 2009 wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung in Behandlung ist und unter Einschaltung eines Dolmetschers glaubhafte Angaben zu Folterungen gemacht hat.

Nach dem Arztbericht vom 19. Januar 2010 hat der Kläger während der Behandlungstermine erklärt; während der Haft regelmäßig nachts geweckt und misshandelt worden zu sein. Er sei geschlagen, seine Hände und Hoden eingequetscht worden und man habe ihm Elektroschocks an den Hoden verabreicht. Auch seien ihm Verletzungen an den Oberarmen zugefügt worden, von denen er bis heute sichtbare Narben davon getragen habe.

Die behandelnden Ärzte stufen den Vortrag als glaubhaft ein, weil der Kläger während dieser Schilderungen unvermittelt angefangen habe zu zittern, seine Mundwinkel hätten sich nach unten verkrampft, Tränen seien ihm über das Gesicht gerollt und er habe gedroht vom Stuhl zu fallen. Seine Stimme habe einen alarmierend schrillen Ton angenommen. Aufgrund der "extremen dissoziativen Entgleisungen nur im Zusammenhang mit Schilderungen von Misshandlungen im Gefängnis" gehen die Ärzte von einer Erlebnisfundierung aus.

Die Aussagen decken sich mit den Angaben des Klägers vor dem Bundesamt. Sie stimmen außerdem mit der Erkenntnislage der Kammer über die Maßnahmen der türkischen Polizei zur Erzielung von Geständnissen im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten zum damaligen Zeitpunkt überein (vgl. H. Oberdiek, Gutachten für das VG Bremen vom 29. Dezember 2003).

Die körperlichen Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte, denen der Kläger ausgesetzt war, verlassen den Boden einer von rechtsstaatlichen Grundsätzen geprägten Terrorismusabwehr und bedeuten politische Verfolgung. Der Kläger hat seine Heimat aus diesen Gründen mit Hilfe eines Schleppers und falschen Papieren verlassen.

Der danach vorverfolgt eingereiste Kläger ist bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht vor einer weiteren politischen Verfolgung hinreichend sicher.

Das Gericht folgt der Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, wonach unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung auch gegenwärtig vorverfolgt ausgereiste Asylbewerber vor erneuter Verfolgung nicht hinreichend sicher sind. Auch solche Personen, die durch Nachfluchtaktivitäten als exponierte und ernst zu nehmende Gegner des türkischen Staates in Erscheinung getreten sind und sich dabei nach türkischem Recht strafbar gemacht haben, müssen im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit asylrelevanten Übergriffen rechnen (vgl. OVG Münster, Urteile vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A - und 27. März 2007 - 8 A 4728/05.A -, Beschluss vom 10. November 2008 - 8 A 2738/08.A -).

Die aktuelle Entwicklung in der Türkei gibt keinen Anlass, von dieser Bewertung abzurücken. Die Wahrscheinlichkeit von asylrelevanten Übergriffen, wozu auch Misshandlungen zählen, die nicht als Folter zu bezeichnen sind, hat zwar in den zurückliegenden Jahren abgenommen. Gleichwohl stellen körperliche Übergriffe durch die Sicherheitskräfte nach Auffassung aller Beobachter weiterhin in der Türkei ein nicht in befriedigender Weise gelöstes Problem dar. Es ist der türkischen Regierung bislang noch nicht gelungen, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 29. Juni 2009; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und Migration, Türkei, Sozialpolitischer Jahresbericht November 2009).

Bei dieser Sachlage kann nicht davon ausgegangen werden, dass weitere Übergriffe auf den Kläger im Falle seiner Rückkehr ausgeschlossen sind. Dafür spricht insbesondere, dass die gegen den Kläger verhängte Freiheitsstrafe weiter zur Vollstreckung aussteht und er deshalb zwangsläufig nach seiner Rückkehr wieder Kontakt zu Polizei und Strafverfolgungsorganen hätte. Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger bei dieser Gelegenheit erneut unter Zuhilfenahme asylrelevanter Methoden befragt werden würde, etwa zu seinen Erkenntnissen über exilpolitische Aktivitäten von in Deutschland lebenden Kurden.

Der sogenannte Terrorismusvorbehalt steht der Asylanerkennung des Klägers nicht entgegen.

Asyl kann nicht beanspruchen, wer im Heimatland unternommene terroristische Aktivitäten oder deren Unterstützung von der Bundesrepublik Deutschland aus in den hier möglichen Formen fortzuführen trachtet; er sucht nicht den Schutz und den Frieden, den das Asylrecht gewähren will. Das Asylrecht hat zu seinem Grundgedanken, demjenigen Zuflucht zu gewähren, der sich wegen politischer Verfolgung in einer für ihn ausweglosen Lage befindet. Der lebens- und existenzbedrohende politische Kampf soll ein Ende haben, der vor politischer Verfolgung Flüchtende soll den Schutz einer übergreifenden staatlichen Friedensordnung finden, aus der ihn der verfolgende Staat ausgegrenzt hat. Ein asylsuchender Flüchtling genießt den Schutz des Asylrechts also nicht, wenn er von deutschem Boden aus die Umsetzung politischer Ziele mit terroristischen Mitteln betreibt (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 20. Dezember 1989 - 2 BvR 958/86 -, zitiert nach Juris).

Es sprechen keinerlei Indizien dafür, dass der Kläger im Inland versucht, weiterhin terroristische Bestrebungen kurdischer Separatisten zu unterstützen. Er betätigt sich in der Bundesrepublik gar nicht politisch. Für seine Abkehr von terroristischen Aktivitäten spricht insbesondere, dass er schon in der Türkei nur deshalb zum Handlanger wurde. weil er sich vor den Konsequenzen einer Ablehnung der von der PKK/Kongra-Gel begehrten Hilfe fürchtete. Er hat insoweit überzeugend ausgeführt, er habe sich gar nicht weigern können, Hilfe zu leisten. [...]