VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 21.10.2010 - 11 S 1580/10 [ASYLMAGAZIN 2010, S. 430 f.] - asyl.net: M17778
https://www.asyl.net/rsdb/M17778
Leitsatz:

Der Aufenthalt des Vaters war jedenfalls seit dem erfolgreichen Eilbeschluss im Asylfolgeverfahren rechtmäßig (§ 55 Abs. 3 AsylVfG). Das Kind ausländischer Eltern hat daher die deutsche Staatsangehörigkeit (§ 4 Abs. 3 S. 1 StAG).

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Siehe hierzu auch das Urteil des BVerwG vom 19.10.2011, 5 C 28.10.

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Schlagwörter: Staatsangehörigkeitsrecht, Staatsangehörigkeitsausweis, deutsches Kind, rechtmäßiger Aufenthalt, Asylfolgeantrag, Duldung, gewöhnlicher Aufenthalt, vorläufiger Rechtsschutz
Normen: StAG § 30 Abs. 3 S. 1, StAG § 4 Abs. 3, AsylVfG § 55 Abs. 3, AsylVfG § 55 Abs. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1, AufenthG § 26 Abs. 4 S. 3, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123, VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Nach erfolgreichem Abschluss des Asylfolgeverfahrens sind Aufenthaltszeiten jedenfalls ab Ergehen eines stattgebenden Beschlusses im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in dem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausdrücklich bejaht wurde, gem. § 55 Abs. 3 AsylVfG anrechenbar.

(Amtlicher Leitsatz)

[...]

Der Senat kann offen lassen, ob ein Urteil im Asylfolgeverfahren, das zur Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet und für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abstellt (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) und dabei in der Sache durchentscheidet, (in jedem Fall) dazu führt, dass eine Aufenthaltsgestattung ex tunc ab Asylfolgeantragstellung entsteht (vgl. hierzu Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG 12/2007, § 71 Rn. 121; Hailbronner, AuslR, 08/2010, § 71 AsylVfG Rn. 97; offen lassend OVG Saarland, Urteil vom 13.09.2006 - 1 R 17/06 -, juris m.w.N.; ablehnend VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 05.08.2008 - 13 S 2117/08; s. a. VG Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 23.10.2008 - 8 K 1265/08). Im hier zu entscheidenden Fall sind jedenfalls ab dem 28.12.1999, als das Verwaltungsgericht Chemnitz den stattgebenden Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erlassen hat, in dem ausdrücklich ausgeführt wird, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vorliegen, die Aufenthaltszeiten des Vaters der Klägerin nach § 55 Abs. 3 AsylVfG anzurechnen.

Soweit der Erwerb oder die Ausübung eines Rechts oder einer Vergünstigung von der Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet abhängig ist, wird nach § 55 Abs. 3 AsylVfG in der Fassung vom 02.09.2008 (BGBl. I, 1798) die Zeit eines Aufenthalts nach Abs. 1 (Aufenthaltsgestattung) nur angerechnet, wenn der Ausländer unanfechtbar als Asylberechtigter anerkannt oder ihm unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist. Diese Bestimmung findet auf den abgeleiteten Erwerb der Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG Anwendung.

Nach § 55 Abs. 1 AsylVfG ist der Aufenthalt zur Durchführung eines Asylverfahrens gestattet. Die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ist indes erst das Ziel des Asylfolgeantragstellers (§ 71 Abs. 1 AsylVfG), so dass die Stellung des Asylfolgeantrags für sich genommen (noch) nicht zur Aufenthaltsgestattung führt. Die Aufenthaltsgestattung tritt bei Folgeanträgen grundsätzlich erst ein, wenn festgestellt wird, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen und ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist (vgl. BT-Drs. 12/2062, S. 36 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 13.10.1995 - 13 S 628/95 -, InfAuslR 1996, 205; Beschluss vom 12.04.1996 - 6 S 290/96 -, VBlBW 1996, 312).

Eine entsprechende Feststellung wurde hier erstmals im Beschluss des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 28.12.1999 getroffen. Das rechtfertigt es, jedenfalls ab diesem Zeitpunkt von einem nach § 55 Abs. 3 AsylVfG anzurechnenden Aufenthalt auszugehen. Der Schutzzweck des § 55 Abs. 3 AsylVfG geht dahin, dass die vom Asylbewerber nicht zu vertretende lange Dauer des letztlich erfolgreichen Asylverfahrens bei der Beurteilung der Verfestigung des Aufenthalts zu berücksichtigen ist. Dem Folgeantragsteller sollen die Rechtsvorteile, die er gehabt hätte, wenn das Bundesamt bzw. das Verwaltungsgericht (im Falle nachträglicher Entstehung von Nachfluchtgründen) seinen Folgeantrag richtigerweise nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG als zulässig erachtet und unverzüglich ein Asylverfahren durchgeführt hätte, nicht verloren gehen. § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StAG mit seinem Erfordernis des achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalts schließlich zielt darauf, auf der Grundlage der gelungenen Integration des maßgeblichen Elternteils die Integrationschancen seines im Inland geborenen Kindes zu verbessern und ist ungeachtet des Bedürfnisses nach klaren Erwerbsvoraussetzungen diesem Ziel entsprechend auszulegen (vgl. hierzu auch BVerwG, Urteil vom 18.11.2004 - 1 C 31.03 -, BVerwGE 122,199).

Vor diesem Hintergrund darf es dem Vater der Klägerin und damit der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen, dass das - im Ergebnis erfolgreiche - verwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren über den Asylfolgeantrag des Vaters aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen erhebliche Zeit in Anspruch genommen hat. Bereits der stattgebende Beschluss im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sichert - solange er nicht in (ggf. entsprechender) Anwendung des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO abgeändert wird - den Aufenthalt des Vaters der Klägerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren in vergleichbarer Weise wie der Aufenthalt eines Ausländers während des Hauptsacheverfahrens im Falle der Ablehnung seines Asylantrags als schlicht unbegründet gesichert ist (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 03.04.2001 = 9 C 22.00 -, BVerwGE 114, 122). Das rechtfertigt es, ab diesem Zeitpunkt die Bestimmung des § 55 Abs. 3 AsylVfG über die Anrechnung von Zeiten der Aufenthaltsgestattung heranzuziehen. Es fehlt jedenfalls ab dem Zeitpunkt der erfolgreichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes an einem sachlichen Grund, den Antragsteller im Asylfolgeverfahren gegenüber einem Erstantragsteller zu benachteiligen. In diesem Zusammenhang kann es nicht darauf ankommen, dass der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ergangene Beschluss keine rechtskräftige Feststellungswirkung dahingehend entfaltet, dass und ab wann die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG tatsächlich vorliegen, denn das Entstehen eines - ggf. vorübergehend - gestatteten Aufenthalts setzt eine entsprechende Feststellungswirkung nicht voraus. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Beschluss dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes aus Gründen stattgegeben hat, die das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft betreffen.

Dieser Auslegung des § 55 Abs. 3 AsylVfG steht nicht entgegen, dass § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG nur für bestimmte Aufenthaltstitel eine eng auszulegende Sonderregelung vorsieht, wonach Aufenthaltszeiten des vorangegangenen Asylverfahrens abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG angerechnet werden (vgl. zur insoweit gebotenen engen Auslegung: BVerwG, Urteil vom 29.03.2007 - 5 C 8.06 -, BVerwGE 128, 254). Die hier vorgenommene Auslegung bedeutet keine Abweichung von den gesetzlich normierten Tatbestandsvoraussetzungen des § 55 Abs. 3 AsylVfG, sondern vielmehr eine Konkretisierung der vom Gesetzgeber nicht näher geregelten Frage, wann im Asylfolgeverfahren von einem gestatteten und damit anrechenbaren Aufenthalt auszugehen ist.

Offen bleiben kann hier, ob von einem nach § 55 Abs. 3 AsylVfG anrechenbaren Aufenthalt auch dann auszugehen ist, wenn im Unterschied zum vorliegenden Fall im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht ausdrücklich bejaht wurde. Gründe der Rechtssicherheit dürften indes dafür sprechen, dass es in Fragen des Staatsangehörigkeitserwerbs letztlich nicht auf inhaltliche Ausführungen im asylrechtlichen Verfahren ankommen kann, sondern das Vorliegen eines stattgebenden Eilbeschlusses im Zusammenhang mit dem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter oder Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Annahme eines anrechenbaren Aufenthalts im Sinne des § 55 Abs. 3 AsylVfG genügt.

Die Tatsache, dass dem Vater der Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss seines Asylfolgeverfahrens lediglich Duldungen erteilt wurden, steht der vorgenommenen Auslegung ebenfalls nicht entgegen. Die Duldung begründet zwar ihrerseits keinen rechtmäßigen Aufenthalt, hindert aber die bereits aus anderen Gründen vorzunehmende Anrechnung der Aufenthaltszeiten als rechtmäßig nicht.

Beginnend mit dem 28.12.1999 war der Aufenthalt des Vaters der Klägerin zum Zeitpunkt ihrer Geburt am 20.12.2008 seit acht Jahren rechtmäßig bzw. als rechtmäßig anzurechnen. Nach Eintritt der Rechtskraft des stattgebenden Asylurteils des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 26.04.2002 bis zur Geburt der Klägerin wurden ihrem Vater, beginnend mit dem 08.07.2002, antragsgemäß fortlaufend befristete Aufenthaltsgenehmigungen bzw. Fiktionsbescheinigungen gern. § 81 Abs. 4 AufenthG und schließlich eine Niederlassungserlaubnis erteilt. Soweit der Vater der Klägerin erstmals am 04.06.2002 und damit vor Eintritt der Rechtskraft des asylgerichtlichen Urteils (13.06.2002) die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung beantragt hat, greift die gesetzliche Fiktionswirkung des § 69 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AuslG in der Fassung vom 09.01.2002 (BGBl. I, 361). [...]