VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Beschluss vom 22.09.2010 - 7 L 1501/10 - asyl.net: M17844
https://www.asyl.net/rsdb/M17844
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz für drei Monate, um Integrationsleistungen nachzuweisen und Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu beantragen.

1. Dass mit dem an den Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit anknüpfenden Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit und damit zugleich der Unionsbürgerschaft Unionsrecht oder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden ist, ist nicht ersichtlich.

2. Nach der neueren Rechtsprechung der Kammer ist es für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht erforderlich, dass der langjährige Aufenthalt auch rechtmäßig gewesen ist. Unerheblich ist nach Auffassung der Kammer auch, dass die Antragsteller noch minderjährig sind und über diese den Eltern über Art. 6 GG ein Aufenthaltsrecht verschafft würde.

Schlagwörter: vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Verlust, Unionsbürger, türkische Staatsangehörige, Österreich, Verhältnismäßigkeit, Achtung des Privatlebens, faktischer Inländer, Integration, Zumutbarkeit, Entwurzelung, Duldung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Aufenthaltserlaubnis
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Anordnungsanspruch ergibt sich entgegen der Antragsbegründung allerdings nicht aus einem angeblich bestehenden unionsrechtlichen Freizügigkeitsrecht der Antragsteller aus Art. 21 AEUV, wonach jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Denn bei den Antragstellern handelt es sich nicht (mehr) um Unionsbürger. Sie haben ihre Unionsbürgerschaft zugleich mit dem Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit nach §§ 27 Abs. 1, 29 Abs. 1 Nr. 1 des österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes (vgl. auch die Ausführungen der Kammer in dem die Antragsteller betreffenden Beschluss vom 9. Januar 2009 - 7 L 4115/08) infolge des Erwerbs der türkischen Staatsangehörigkeit im 22. Oktober 1998 wieder verloren. Der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 2. März 2010 (C-235/08, Rottmann) lässt sich entgegen der Auffassung der Antragsteller nicht entnehmen, dass eine Unionsbürgerschaft losgelöst von einer nationalen Staatsangehörigkeit eines der Mitgliedstaaten existieren kann. Vielmehr hat der EuGH in dieser Entscheidung ausdrücklich nochmals ausgeführt, dass die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit zuständig sind, diese Entscheidungen jedoch, soweit sie zugleich auch die von der Rechtsordnung der Union verliehenen und geschützten Rechte berühren, der gerichtlichen Kontrolle im Hinblick auf das Unionsrecht unterliegen und dabei neben der Prüfung der Verhältnismäßigkeit nach nationalem Recht auch im Hinblick die Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Dass mit dem an den Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit anknüpfenden Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit und damit zugleich der Unionsbürgerschaft Unionsrecht oder der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden ist, ist nicht ersichtlich. Die Antragsteller werden durch den Verlust der österreichischen Staatsangehörigkeit - anders als der Kläger des Ausgangsverfahrens in dem vom EuGH entschiedenen Fall - nicht staatenlos, sondern sind aufgrund freiwilligen Erwerbs (wieder) Staatsangehörige der Türkei (vgl. auch Art. 7 Abs. 1a des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit) geworden.

Ein Anordnungsanspruch ergibt sich jedoch aus § 60a Abs. 2 Satz AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen unmöglich ist. Bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage spricht Überwiegendes dafür, dass die Abschiebung der Antragsteller aus rechtlichen Gründen unmöglich ist. Die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich für die Antragsteller zu 3. und 4. aus Art. 8 EMRK und für die übrigen Antragsteller aus Art. 6 Abs. 1 GG.

Es ist zunächst überwiegend wahrscheinlich, dass der Abschiebung der Antragsteller zu 3. und zu 4. das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens entgegensteht. Das Recht auf Achtung das Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach unter anderem das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln, und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen (vgl. OVG NRW Beschlüsse vom 6. Dezember - 18 A 2644/06 und 7. Februar 2006, a.a.O.).

Art. 3 Abs. 1 EMRK gewährt jedoch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Privat- und Familienleben aufzubauen (vgl. EGMR (III. Sektion) Entscheidung vom 7. Oktober 2004 (Dragan), NVwZ 2005, 1043 (1045).

Die Vorschrift des Art. 8 Abs. 1 EMRK darf auch nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen oder vermittle diesem ein Aufenthaltsrecht allein deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat (vgl. EGMR (III. Sektion), Entscheidung vom 16. September 2004, 11103/03 (Ghiban), NVwZ 2005, 1046 und vom 7. Oktober 2004, a.a.O.).

Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene im Aufenthaltsstaat über intensive persönliche und familiäre Bindungen verfügt (EGMR, Urteil vom 16. Juni 2005, 60645/09 (Sisoeva I), InfAuslR 2005, 349 = EuGRZ 2006, 554), aufgrund derer er in seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist, weshalb ihm bei einem Verlassen des Aufnahmestaates eine Entwurzelung droht. Dem ist regelmäßig gegenüber zu stellen, inwieweit ein Ausländer noch im Land seiner Staatsangehörigkeit verwurzelt ist. Überwiegt diese Verwurzelung - z.B. bei langjährigem Aufenthalt im Heimatstaat und relativ kurzer Aufenthaltsdauer in Deutschland -, so ist regelmäßig bereits der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht eröffnet.

Bei Eröffnung des Schutzbereichs ist im Rahmen der gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu ermitteln, ob dem Ausländer wegen der Besonderheiten seines Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit nicht zugemutet werden kann. In diesem Zusammenhang ist seine Rechtsposition gegen das Recht der Bundesrepublik auf Einwanderungskontrolle - insbesondere der Aufrechterhaltung der Ordnung im Fremdenwesen - in einer Weise abzuwägen, dass ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt ist (vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999, 34374/97, infAuslR 2000, 53 und Entscheidung vom 16. September 2004 a.a.O.).

Insoweit ist zum Einen in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Dabei sind als Gesichtspunkte seine wirtschaftliche und soziale Integration, sein rechtlicher Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland und seine Kenntnisse der deutschen Sprache von Bedeutung. Auf der anderen Seite ist - erneut - zu fragen, inwieweit der Ausländer - unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland - von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Dezember 2006 und 7. Februar 2006, a.a.O., OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 24. Februar 2006 - 7 B 10020/06 OVG - Asylmagazin 2006, 28).

Darüber hinaus ist für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK nach der neueren Rechtsprechung der Kammer (vgl. Urteile vom 11. Juni 2010 - 7 K 6165/09, 7 K 6148/09, 7 K 2676/09 und 7 K 1712/10) im Gegensatz zu der Auffassung, die der Einzelrichter in dem Beschluss vom 9. Januar 2009 - 7 L 915/08 - in dem Verfahren der Antragsteller gegen die Rücknahme und Versagung der Aufenthaltserlaubnis vertreten hatte, nicht erforderlich, dass der langjährige Aufenthalt auch rechtmäßig gewesen ist (so auch OVG NRW, Beschlüsse vom 26. September 2005, 18 B 1718/06 und vom 10. Juli 2009 - 16 B 352/09, VGH Baden-Württemberg vom 5. Februar 2009, 11 S 3244/08, InfAuslR 2009, 178, OVG Hamburg, Urteil vom 24. Februar 2009, 3 Bf 166/04, InfAuslR 2009, 279, VG Braunschweig, Urteil vom 19 September 2006, 6 A 474/04, VG Frankfurt, Urteil vom 15. Dezember 2009, 7 K 1121/08 F, AuAS 2010, a.A. möglicherweise BVerwG, Urteil vom 30. April 2009, 1 C 3.08, InfAuslR 2009, 333 = ZAR 2009, 389; vgl. zum Ganzen Urteil der Kammer vom heutigen Tage 7 K 6165/09).

In Anwendung dieser Vorgaben spricht Überwiegendes dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers zu 3. zu einer Verletzung seiner in Art. 8 EMRK geschützten Rechte führen würde. Zwar ist der Antragsteller zu 3. nicht in Deutschland, sondern in Österreich geboren. Er hat aber sein gesamtes Leben bisher im deutschsprachigen Raum und hiesigen Kulturkreis geführt und zu keinem Zeitpunkt in der Türkei, dem Land seiner Staatsangehörigkeit, gelebt. Nach den Angaben ihres damaligen Prozessbevollmächtigten im Rahmen der Anhörung zur beabsichtigten Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis vom 4. April 2008 spricht der Antragsteller zu 3. wie die übrigen Kinder der Antragsteller zu 1. und zu 2. im Übrigen auch, kaum ein Wort Türkisch. Der Antragsteller zu 3. hat seine Schulbildung überwiegend in Deutschland erhalten. Er hatte ausweislich eines in den beigezogenen Verwaltungsvorgängen befindlichen Lebenslaufs zudem beabsichtigt, die Mittlere Reife abzulegen. Ob ihm dies gelungen ist, lässt sich den Verwaltungsvorgängen nicht sicher entnehmen. Er hat ausweislich seines Halbjahreszeugnisses der Klasse 10 B der ... Schule Duisburg überwiegend befriedigende, z.T. auch ausreichende oder gute Leistungen erbracht. Das Halbjahreszeugnis weist lediglich sechs unentschuldigt versäumte Stunden auf, das weitere in den Verwaltungsvorgängen enthaltene (Abgangs-?) Zeugnis keine unentschuldigt versäumten Stunden. Zudem hat sich der Antragsteller zu 3. außerhalb des Unterrichts an weiteren schulischen und außerschulischen Projekten beteiligt, etwa dem ... Workshop Projekt ... Kultur an der ... Hauptschule Duisburg und dem ... Projekt ...- Themenschwerpunkt Berufsfelder im Duisburger Norden. Des weiteren hat er seine Vereinsmitgliedschaft des ... e.V. durch eine Bescheinigung des Vereins vom 13. Oktober 2006 nachgewiesen, wonach er auch am dortigen Spielbetrieb aktiv teilnimmt. Allein dies spricht für eine gelungene soziale Integration des Antragstellers zu 3. Ob der Antragsteller zu 3. auch in wirtschaftlicher Hinsicht integriert ist, kann anhand der Aktenlage derzeit nicht abschießend beurteilt werden. Seit dem 1. März 2008 hatte der Antragsteller zu 3. jedenfalls eine Tätigkeit bei der Firma ... auf 400,00 Euro-Basis. Ob er über diese Stelle noch verfügt oder zwischenzeitlich eine andere Tätigkeit übernommen hat, oder sich in einer Aasbildung befindet, lässt sich den beigezogenen Verwaltungsvorgängen ebenfalls nicht entnehmen. Die seinerzeit aufgenommene Tätigkeit bei der Firma ... lässt jedenfalls den Willen zu einer auch wirtschaftlichen Integration erkennen.

Es spricht des weiteren auch Überwiegendes dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers zu 4. auch dessen durch Art. 8 EMRK geschützte Rechte verletzen würde. Auch der Antragsteller zu 4. ist in Österreich geboren und hat nie außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraumes gelebt. Der derzeit noch 16 Jahre alte Antragsteller zu 4. hat zudem neun Jahre und damit den überwiegenden Teil seines Lebens in Deutschland verbracht. Er soll ebenfalls kaum Türkisch sprechen. Seine Schulbildung hat er fast ausschließlich in Deutschland erhalten. Ausweislich des in der beigezogenen Ausländerakte enthaltenen Schulzeugnisse hat er in der Klasse 6 A überwiegend befriedigende Ergebnisse bei seinen schulischen Leistungen erzielt. Seine Zuverlässigkeit und Sorgfalt sind ebenso mit "gut" bewertet wurden wie seine Verantwortungsbereitschaft. Auch hat er sich außerschulisch als aktiver Spieler für den Verein TSV ... e.V. engagiert. Die beiden in den Verwaltungsvorgängen vorhandenen Zeugnisse der Klassen fünf und sechs der ... Gesamtschule Duisburg-... weisen zudem jeweils nur 7 unentschuldigt versäumte Stunden auf. Es spricht daher Überwiegendes dafür, dass auch der Antragsteller zu 4. sozial integriert ist. Dass der minderjährige Antragsteller zu 4. seinen Lebensunterhalt derzeit von öffentlichen Leistungen bestreitet, führt nicht zur Annahme fehlender wirtschaftlicher Integration, denn er erfüllt im Rahmen seiner persönlichen Befähigung die gesetzliche Schulpflicht (§ 34 Abs. 1, 2 und 6 SchulG NRW) und schafft damit die Grundlage für eine positive berufliche Perspektive, die in eine nachhaltige wirtschaftliche Integration (vgl. dazu auch OVG NRW, Beschluss vom 27. Juli 2006 - 18 B 1539/06) führen kann.

Letztlich gilt ähnliches für die derzeit 15-jährige Antragstellerin zu 5. Sie ist ebenso wie ihre beiden Brüder in Österreich geboren und im Alter von sechs Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Sie hat damit ebenfalls den weit überwiegenden Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht und noch nie außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraumes gelebt. Ihre Schulbildung hat sie ausschließlich in Deutschland erfahren. Ausweislich ihrer beiden in der Ausländerakte befindlichen Zeugnisse der ... Gesamtschule Duisburg-... hat sie in der Schule in den Klassen fünf und sechs (fast) durchgängig gute bis sehr gute Leistungen erzielt. Dazu gehören insbesondere auch ihre deutschen Sprachkenntnisse. Im Fach Deutsch hat sie im 2. Halbjahr der Klasse sechs die Note "gut" für ihre Leistungen erhalten. Gleiches gilt für die Fächer Englisch, Mathematik, Biologie, Physik, Kunst und Geschichte, in den Fächern Musik und Sport sind ihre Leistungen sogar mit sehr gut benotet worden. Lediglich im Wahlpflichtfach Französisch hat sie die Note befriedigend erzielt. Auch ihr Arbeits- und Sozialverhalten ist durchgängig mit gut bewertet worden.

Zwar sind die Antragsteller zu 4. und 5. mit 16 und 15 Jahren noch minderjährig. Nach Auffassung der Kammer steht der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK die Minderjährigkeit von Antragstellern jedoch grundsätzlich nicht entgegen. Die Kammer hat dazu in ihrem Urteil vom 11. Juni 2010 - 7 K 6165/09 ausgeführt:

"Dem steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin noch minderjährig ist. In der Rechtsprechung ist nicht abschließend geklärt, inwieweit ein Minderjähriger unter Berufung auf sein Recht auf Privatheit aus Art. 8 EMRK überhaupt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht begründen kann. Zwar lässt sich eine Beschränkung des begünstigten Personenkreises aus dem Wortlaut der EMRK nicht ableiten. Der Ableitbarkeit eines eigenständigen Aufenthaltsrechts wird entgegengehalten, das Ausländerrecht sei geprägt von dem Grundsatz, dass Kinder das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern teilen (vgl. BVerwG, Beschluss vom1 30. April 1997 - 1 B 74.97 -, juris, OVG NRW, Urteil vom 9. Februar 1999 - 18 A 5156/96 -, DVBl 1999 1222ff. (1225) und Beschluss vom 14. Juni 2005 - 18 B 963/05 - , juris).

Nach ständiger Rechtsprechung des OVG NRW (Beschlüsse von 2. Februar 2010, - 18 B 1591/09 - juris, 11. Januar 2006 - 18 B 44/06 - NRWE) liegt die Untergrenze jedenfalls bei den unter 12-Jährigem. In diesem Alter sei die Verwurzelung schon altersbedingt nicht so tief wie bei jungen Erwachsenen, und es berühre erhebliche einwanderungspolitische Interessen, wenn das minderjährige Kind seinen nicht integrierten Eltern ein Aufenthaltsrecht verschaffe, was im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu würdigen sei.

Die Kammer hat bereits früher entschieden, dass der Grundsatz der aufenthaltsrechtlichen Ankoppelung jedenfalls für die über 16-Jährigen eine Ausnahme erfahren kann, weil diese nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausländerrechtlich selbst handlungsfähig sind und auch nach § 35 AufenthG ein eigenständiges Aufenthaltsrecht beanspruchen kennen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 6. Oktober 2006 - 7 L 1922/06 -).

Darüber hinausgehend könnte für den Bereich des humanitären Aufenthalts auch § 104b AufenthG als (neuere) gesetzgeberische Entscheidung heranzuziehen sein, nach der integrierten Kindern bereits ab dem 14. Lebensjahr ein eigenständiger Aufenthalt ermöglicht werden kann, wobei der Gesetzgeber das Konfliktfeld der Ableitbarkeit eines Aufenthaltsrechts für nicht integrierte Eltern sehr eindeutig ("im Falle ihrer Ausreise") gelöst hat .

Ob danach die Abschiebung der erst 15-jährigen Antragstellerin Art. 3 Abs. 1 EMRK verletzen würde, kann letztlich dahinstehen. Jedenfalls spricht Überwiegendes dafür, dass ihrem 16 Jahre alten Bruder, dem Antragsteller zu 4., eine Abschiebung in die Türkei nicht zuzumuten ist. Insoweit ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Art. 8 Abs. 2 EMRK einwanderungspoiltischen Interessen auch nicht deswegen der Vorrang einzuräumen, weil der minderjährige Antragsteller zu 4. seinen Eltern und damit auch seinen übrigen minderjährigen Geschwistern über Art. 6 GG wegen des Schutzes der familiären Lebensgemeinschaft durch Art. 6 Abs. 1 GG ein Aufenthaltsrecht verschaffen würde (vgl. zu diesem Aspekt der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Art. 8 EMRK OVG NRW, Beschluss vom 2. Februar 2010 - 18 B 1591/09 - a.a.O.).

Diesem einwanderungspolitischen Aspekt kommt nach dem zitierten Beschluss des OVG NRW gerade in den Fällen besondere Bedeutung zu, in denen die Eltern keine besonderen integrativen Leistungen erbracht haben. Davon kann im vorliegenden Fall jedoch keine Rede sein. [...]

Spricht nach allem Überwiegendes dafür, dass eine Abschiebung des Antragstellers zu 4. dessen Rechte auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK verletzt, haben auch die Eltern des Antragstellers zu 4. ebenso wie seine beiden jüngeren Geschwister, die Antragsteller zu 5. und 6., aus Art. 6 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG. Denn die unstreitig gelebte und damit von Art. 5 Abs. 1 GG geschützte Lebensgemeinschaft dieser Familie kann nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, da dem Antragsteller zu 4. nach obigen Ausführungen wegen seines durch Art. 8 EMRK geschützten Rechts auf Achtung des Privatlebens das Verlassen des Bundesgebietes nicht zumutbar sein dürfte, so dass die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange zurückdrängt.

Da nach Aktenlage Überwiegendes für eine gelungene Integration der Familie spricht, andererseits eine genaue Überprüfung der Integrationsleistungen der einzelnen Familienmitglieder mit Blick auf die damalige Entscheidung der Kammer in dem Beschluss vom 9. Januar 2009 - L 915/08 - unterblieben war, sieht die Kammer einen Zeitraum von drei Monaten als ausreichend an, um den Antragstellern Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu stellen und ihre Integrationsleistungen nachzuweisen. [...]