LG Hannover

Merkliste
Zitieren als:
LG Hannover, Beschluss vom 06.09.2010 - 8 T 17/10 - asyl.net: M17877
https://www.asyl.net/rsdb/M17877
Leitsatz:

Rechtswidrige Fortdauer der Abschiebungshaft wegen Verstoßes gegen den Beschleunigungsgrundsatz, da die Ausländerbehörde nicht innerhalb von vier Werktagen ab dem Tag des Sicherungshaftantrags erste organisatorische Maßnahmen wie die Festlegung eines sehr zeitnahen Termins zur Aufnahme eines Passersatzantrags getroffen hat.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Drei-Monats-Frist, Beschleunigungsgebot, Haftgründe, Untertauchen, Passersatz, Türkei
Normen: AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Auszüge:

[...]

1. Der angefochtene Beschluss ist nicht von Anfang an rechtswidrig gewesen.

a) Die Haftanordnung beruht auf einem Haftantrag der für den Betroffenen zuständigen Ausländerbehörde, die den inhaltlichen Anforderungen an die Antragsbegründung nach § 417 FamFG bei Berücksichtigung des Antragszeitpunkts noch genügt hat. Im Haftantrag finden sich zumindest stichwortartige Angaben zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, den Abschiebungsvoraussetzungen, der Erforderlichkeit der Haft, der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer. Wäre einer dieser Punkte überhaupt nicht in der Antragsschrift aufgeführt, wäre der Haftantrag als unzulässig anzusehen (BGH, 29.04.2010 - V ZB 218/09) und könnte keine hinreichende Grundlage für die angeordnete Haft sein. Es reicht nicht aus, das die materiellen Voraussetzungen für eine Haftanordnung vorliegen (BGH, 22.07.2010 - V ZB 28/10, juris-Rn. 17). Die Beifügung von Unterlagen, aus denen sich wichtige Daten ergeben, würde alleine nicht ausreichen, um dem gesetzlichen Begründungszwang zu genügen, denn die maßgeblichen Tatsachen müssen in der Antragsschrift selbst bezeichnet oder im Anhörungstermin mitgeteilt und protokolliert werden, damit dem Betroffenen hinreichend rechtliches Gehör gewährt wird (BGH, 22.07.2010 - V ZB 28/10).

Im Hinblick auf die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürften künftig die Anforderungen an den Inhalt einer Haftantragsschrift allerdings steigen, soweit es um die Angabe von Details geht. So hat der Bundesgerichtshof unter anderem nunmehr ausdrücklich erklärt, dass sich der Tatrichter im Zusammenhang mit der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können, beschränken darf. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (BGH, 06.05.2010 - V ZB 193/09). Allerdings kann der Haftrichter seiner Entscheidung gerichtsbekannte Erfahrungswerte zugrunde legen. So ist der Kammer bekannt, dass das türkische Generalkonsulat vergleichsweise zügig tätig wird und deshalb trotz der Notwendigkeit der Beschaffung von türkischen Passersatzpapieren eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten vielfach möglich ist, wenn bereits Fotokopien von (nicht mehr gültigen) Ausweispapieren vorliegen.

b) Das Amtsgericht hat die materiellen Voraussetzungen für die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung (§ 62 Abs. 2 AufenthG) zutreffend bejaht, denn der Betroffene ist seit der rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrags ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG) und es besteht wegen des Untertauchens ein Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG.

2. Wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot seitens der Ausländerbehörde war die Freiheitsentziehung allerdings ab dem 26.02.2010 nicht mehr gerechtfertigt.

Die Beteiligte wusste bereits bei Antragstellung am 22.02.2010, dass für den Betroffenen, ein Passersatzpapier beschafft werden musste. Zugleich hatte sie - wie der Antrag zeigt, der sonst entbehrlich gewesen wäre - keinen Anlass, mit einer mehrmonatigen Untersuchungs- und Strafhaftdauer zu rechnen. Unter diesen Umständen war die Beteiligte gehalten, bereits ab dem 22.02.2010 alle Maßnahmen zu ergreifen, die für eine schnelle Beschaffung eines Passersatzpapiers erforderlich waren. Denn das aus Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot beginnt nicht erst dann, wenn die Inhaftierung des Ausländers auf der Sicherungshaftanordnung beruht. Vielmehr muss die Ausländerbehörde auch die Zeit, während der sich der passlose Betroffene in Untersuchungs- oder Strafhaft befindet, sachgerecht nutzen, um seine Abschiebung in die Wege zu leiten (vgl. OLG München, 09.07.2009 - 34 Wx 57/09: OLGR München 2009, 714). Das hat die Beteiligte verkannt.

Nach Ansicht der Kammer darf ein inhaftierter Ausländer im Regelfall erwarten, dass die Ausländerbehörde und die sie unterstützenden Behörden innerhalb von vier Werktagen ab dem Tag des (ersten) Sicherungshaftanträgs zumindest erste organisatorische Maßnahmen wie Festlegung eines - sehr zeitnahen - Termins zur Aufnähme eines Antrags des Betroffenen auf Ausstellung eines Passersatzpapiers und ggf. Beauftragung eines Dolmetschers trifft. Bleibt die Ausländerbehörde in dieser Zeit jedoch ohne triftigen Grund völlig untätig und entfaltet sie auch in den Folgetagen keine besonderen Aktivitäten, die zu einem "Aufholen" der Verzögerung führen, ist das Beschleunigungsgebot regelmäßig derart verletzt, dass eine Fortdauer der Inhaftierung nicht mehr zu rechtfertigen und der Betroffene aus der Haft zu entlassen ist. Ein solcher Fall liegt hier vor. Besonderheiten, beispielsweise dass die Zeitpunkte des Einreichens des Antrags beim türkischen Generalkonsulat und der Vorführung des Betroffenen für den Zeitpunkt der schnellstmöglichen Abschiebung unerheblich waren, sind nicht ersichtlich und erscheinen bei einer mehrwöchigen Verzögerung auch lebensfern. [...]