VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 08.11.2010 - 11 S 1873/10 - asyl.net: M17887
https://www.asyl.net/rsdb/M17887
Leitsatz:

1. Die Verpflichtung der Ausländerbehörde, den beantragten Aufenthaltstitel rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder jedenfalls des Entstehens der Erteilungsvoraussetzungen zu gewähren bzw. zu verlängern, setzt das Bestehen eines konkreten Rechtsschutzbedürfnisses voraus (im Anschluss an BVerwG, U.v. 29.09.1998 - 1 C 14.97 - InfAuslR 1999, 69).

2. Ein solches Rechtsschutzbedürfnis besteht im Hinblick auf eine künftig in Betracht zu ziehende Aufenthaltsverfestigung dann, wenn der Antrag auf Erteilung des Aufenthaltstitel keine der Rechtsfolgen des § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG ausgelöst hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis, rückwirkende Erteilung, Rechtsschutzinteresse, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Ausweisungsgrund
Normen: AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 81 Abs. 4, AufenthG § 26 Abs. 4, AufenthG § 102 Abs. 2, AufenthG § 85, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 26 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hätte der Klage stattgeben und die Beklagte auch zur rückwirkenden Erteilung des Aufenthaltstitels verpflichten müssen.

Dem Kläger steht das in ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, U.v. 29.09.1998 - 1 C 14.97 - InfAuslR 1999, 69 m.w.N.) für die auch rückwirkende Erteilung (oder Verlängerung) geforderte Sachbescheidungs- bzw. Rechtsschutzbedürfnis zur Seite.

Die ergibt sich aus folgendem: Im Falle des Klägers war mit seinem am 19.08.2008 gestellten Antrag auf erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht die Rechtsfolge des § 81 Abs. 4 AufenthG verbunden, weil der Kläger nach den erfolglosen Asylverfahren nur geduldet war. Für eine später vom Kläger - nahe liegend - ins Auge gefasste Aufenthaltsverfestigung nach § 26 Abs. 4 AufenthG würde daher die Zeit zwischen dem 19.08.2008 bis 10.03.2010 ausfallen, da diese als Duldungszeit nicht nach § 102 Abs. 2 AufenthG anrechenbar wäre. Zwar könnte die Zeit - allerdings nur im Ermessenswege und auch nur teilweise - bis zu einem Jahr gem. § 85 AufenthG berücksichtigt werden (vgl. BVerwG, U.v. 10.11.2009 - 1 C 24.08 - AuAS 2010, 113). Abgesehen davon hat der Kläger aber auch ein beachtliches Interesse, dieses Maximum von einem Jahr noch nicht völlig auszuschöpfen, da auch in der Zukunft u.U. Lücken entstehen können. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 29.09.1998 (- 1 C 14.97 - InfAuslR 1999, 69; bestätigt durch U. v. 10.11.2009 - 1 C 24.08 - AuAS 2010, 113; vgl. auch U.v. 30.03.2010 - 1 C 6.09 - InfAuslR 2010, 343) überzeugend zum Ausdruck gebracht, dass für eine Aufenthaltsverfestigung (dort nach § 24 Abs. 1 AuslG 1990) Besitzzeiten auch solche Zeiten sein könnten, in denen ein Anspruch nur von Rechts wegen bestanden habe; die fehlende Titulierung sei unschädlich. In dem entschiedenen Fall waren jedoch die (verschiedenen und mehrfachen) Verlängerungsanträge sämtlich nicht unanfechtbar negativ beschieden, sondern im konkreten Verfahren ausdrücklich Gegenstand von Hilfsanträgen. Im Falle des Klägers würde infolge der Klageabweisung diese Offenheit des Verfahrens verloren gehen. Zwar wurde die Klage nur wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses durch Prozessurteil als unzulässig abgewiesen. Die Beklagte hatte jedoch, wie sich auch aus ihrer weiteren Einlassung im Verfahren ergibt, mit ihrer Entscheidung nach der anfänglichen Untätigkeit eine rückwirkende Erteilung nicht nur konkludent, sondern auch ausdrücklich abgelehnt. Da die Untätigkeitsklage zulässig war und das Verwaltungsgericht gerade keine Nachfrist nach § 75 Satz 3 VwGO gesetzt hatte, ist diese Ablehnung spätestens infolge der entsprechenden Antragstellung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in zulässiger Weise Gegenstand dieses Verfahrens geworden (vgl. Bader u.a., VwGO, 4. Aufl., § 75 Rdn. 21 und 22; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl., § 75 Rdn. 18 und 20). Wegen der Besonderheiten und der Fristgebundenheit der Verpflichtungsklage, würde dann spätestens mit Ablauf der Jahresfrist (vgl. § 58 Abs. 2 VwGO) diese Ablehnung unanfechtbar. Noch deutlicher wäre die Sachlage, wenn die Beklagte vor Erhebung der Untätigkeitsklage die Aufenthaltserlaubnis für die Zukunft erteilt, für die Zeit ab Antragstellung aber abgelehnt und der Kläger hiergegen erfolglos Widerspruch eingelegt und dann Klage erhoben hätte. In diesem Fall würde bei Abweisung der Klage als unzulässig die Ablehnung unanfechtbar, weil eine erneute Klageerhebung mit Rücksicht auf die regelmäßig bereits abgelaufene Klagefrist von einem Monat (vgl. § 74 Abs. 2 VwGO) nicht mehr möglich wäre. [...]

Da die Beklagte mithin ihr durch § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eingeräumtes Ermessen bereits zugunsten des Klägers ausgeübt und von der Berücksichtigung bestehender Ausweisungsgründe abgesehen hat, war die Beklagte zu verpflichten, die Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zu erteilen. Dass dieser Zeitraum die in § 26 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorgegebene Obergrenze überschreitet, steht dem nicht entgegen, weil diese nur die Geltungsdauer in die Zukunft hinein begrenzt. [...]