VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 28.10.2010 - 7 L 419/10.A - asyl.net: M17940
https://www.asyl.net/rsdb/M17940
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Ungarn. Für die Prüfung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse ist in Dublin-Verfahren nicht die Ausländerbehörde, sondern das BAMF zuständig. Offen bleiben kann, ob dem Antragsteller möglicherweise drohende Beeinträchtigungen aufgrund der derzeitigen Gestaltung des Asylverfahrens in Ungarn gleichfalls zum Erfolg des Antrags führen würden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Ungarn, einstweilige Anordnung, Krankheit, Reisefähigkeit, Traumatisierung, Suizidgefahr, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Konzept der normativen Vergewisserung, Abschiebungsanordnung
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 2
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist zulässig, Insbesondere steht § 34a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), wonach die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 2a AsylVfG) nicht im Wege einstweiligen Rechtsschutzes ausgesetzt werden darf, dem Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers nicht entgegen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 ris) ist § 34a Abs. 2 AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass einstweiliger Rechtsschutz in Ausnahmefällen zu gewähren ist. Der Antragsteller beruft sich hier im Hinblick auf die Ausgestaltung des Asylverfahrens in Ungarn sowie hinsichtlich seiner gesundheitlichen Verfassung in ausreichend substantiierter Form auf einen Ausnahmefall (vgl. für den Fall einer Abschiebungsanordnung nach Griechenland: OVG NRW, Beschluss vom 7. Oktober 2009 - 8 B 1433/09.A -; a.A. OVG NRW, Beschluss vom 31. August 2009 - 9 B 1198/09.A, Gegenstand der Verfassungsbeschwerde BVerfG - 2 BvR 2015/09 -, mündliche Verhandlung angekündigt für den 28. Oktober 2010, juris).

Nach der im gerichtlichen Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung lässt sich nicht beurteilen, ob das Hauptsacheverfahren Aussicht auf Erfolg hat. Die danach vorzunehmende Interessenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus.

Gemäß § 34a AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Die Abschiebung kann durchgeführt werden, wenn sie rechtlich zulässig und tatsächlich möglich ist (vgl. auch § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG), Vom Bundesamt ist in erster Linie die Übernahmebereitschaft des Zielstaates zu klären, die hier unstreitig vorliegt. Weitere Voraussetzung der Abschiebungsanordnung ist aber, dass die Abschiebung nicht aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen - auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Im Gegensatz zur Abschiebungsandrohung stellt die Abschiebungsanordnung nämlich fest, dass alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung erfüllt sind und die Abschiebung durchgeführt werden kann (Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Januar 2010, § 34a AsylVfG, Rdnr. 15).

Ist eine Abschiebung aus in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich nicht möglich (innerstaatliche Abschiebungshindemisse), ist die Abschiebungsanordnung rechtswidrig. Innerstaatliche Abschiebungshindernisse werden nicht von Art. 16a Abs. 2 GG berührt, da sie ihrer Eigenart nach nicht im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können; der Ausschluss vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG greift insoweit nicht (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris, Rdnr, 189; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, Stand Januar 2010, § 34a AsylVfG, Rdnr. 15; Müller in HK-AuslR, 1. Auflage 2008, § 34.3 AsylVfG, Rdnr. 18).

Aus diesem Verständnis des § 34a Abs. 1 AsylVfG folgt weiter, dass inlandsbezogene Abschiebungshindernisse im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsanordnung, für die ausschließlich das Bundesamt zuständig ist, ausnahmsweise vom Bundesamt und nicht - wie grundsätzlich im Asylverfahrens- und im Ausländerrecht geregelt - von der Ausländerbehörde zu prüfen sind. Dafür spricht auch der faktische Ablauf des Verfahrens nach § 34a Abs. 1 AsylVfG, bei dem in der Regel die Bekanntgabe der Abschiebungsanordnung und deren Vollzug zeitlich zusammenfallen (ebenso: Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; VG Würzburg, Urteil vom 26. Juli 2007 - W 5 K 07.30121 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Oktober 2007 - 21 K 3831/07.A -; VG Freiburg, Beschluss vom 30. Oktober 2006 - A 3 K 710/06 -; VG Oldenburg, Urteil vom 28. September 2005 - 11 A 3134/04 -, sämtlich juris; VG Aachen, Beschluss vom 21. Dezember 2006 - 8 L 247/06.A; Funke-Kaiser, a.a.O., § 34a AsylVfG, Rdnr. 15; Schaeffer, a.a.O,, § 34a AsyIVfG, Rdnr. 45: Klaudia Dolk, Das Dublin-Verfahren in Deutschland, S. 20, Beilage zum ASYLMAGAZIN 1-2/2008; a.A.: VG Düsseldorf, Urteil vom 30. Juli 2010 - 13 K 3075/10.A -, juris). [...]

Offen bleiben kann im Rahmen des Eilverfahrens, ob aufgrund der derzeitigen Gestaltung des Asylverfahrens in Ungarn dem Antragsteller möglicherweise drohende Beeinträchtigungen gleichfalls zum Erfolg seines Antrags führen würden. [...]