VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 25.10.2010 - 5 K 704/10.TR [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 24] - asyl.net: M17972
https://www.asyl.net/rsdb/M17972
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinerziehende Frau mit minderjährigem Kind wegen Verfolgungsgefahr durch ihren gewalttätigen Ehemann und dessen Familie, nachdem sie zwangsverheiratet wurde. Die türkischen Behörden können keinen Schutz bieten; dies ergibt sich bereits aus dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes, in welchem von fortbestehenden traditionellen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorden gesprochen wird, sowie von Morden und Selbsttötungen im Zusammenhang mit verweigerten Zwangsehen.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Türkei, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, nichtstaatliche Verfolgung, Posttraumatische Belastungsstörung, alleinerziehend, interne Fluchtalternative, Existenzgrundlage
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen hat die Klägerin zu 1) zur Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht, dass sie die Türkei infolge geschlechtsspezifischer Verfolgung i.S.v. § 60 Abs. 1 Satz 1, 3, 4 Buchst. c AufenthG, die von ihrem Ehemann ausgegangen ist, verlassen hat und ihr eine entsprechende Verfolgung im Falle einer Rückkehr in die Türkei erneut drohen wird. Die Klägerin zu 1) hat glaubhaft dargelegt, dass sie vor ihrer Ausreise gegen ihren Willen in die Ehe mit einen gegen sie - und später auch gegen den Kläger zu 2) - gewalttätigen Mann gedrängt worden ist. Im Laufe der Beziehung ist die Klägerin bis zu ihrer Flucht aufs schlimmste körperlich misshandelt und erniedrigt worden, wodurch sie aktuell unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Die Klägerin zu 1) konnte sich den gewalttätigen Übergriffen nur durch ihre Flucht entziehen. Seither wird sie von ihrem Ehemann und dessen Familie gesucht und mit dem Tode bedroht, da sie durch ihre Flucht die Ehre der Familie verletzt hat. Von ihrer eigenen Familie hat die Klägerin keine Unterstützung zu erwarten, da sie der Tradition gemäß als ausschließlich dem Ehemann gehörend angesehen wird. [...]

Mithin ist die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c AufenthG bedroht, worunter auch private Personen - hier: der Ehemann und dessen Familie - zu zählen sind, ohne dass die türkischen Behörden zu wirksamen Schutz in der Lage wären. Zwar hat das Gericht keinen Zweifel daran, dass die Türkei - schon im Zusammenhang mit dem erstrebten Beitritt zur Europäischen Union - ihre Gesetze entsprechend europäischen Vorstellungen, insbesondere im Hinblick auf die Gleichberechtigung der Frau angepasst hat. Damit erweist sie sich zwar als willens, Schutz vor der hier beachtlichen Verfolgung zu bieten. In der sozialen Realität ist sie hierzu jedoch zumindest derzeit noch nicht in der Lage. Dies ergibt sich bereits aus den im jüngsten Lagebericht geschilderten Erkenntnissen, die von weiterhin fortbestehenden traditionellen Zwangsverheiratungen und Ehrenmorden ausgehen, und dementsprechend auch von Morden und Selbsttötungen im Zusammenhang mit verweigerten Zwangsehen berichten. Wenn sich danach auch die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert hat, muss gleichwohl eingeräumt werden, dass noch ein Umdenken von Behörden und Polizisten im Rahmen der Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen erfolgen muss. Allein eine Anpassung der Gesetzeslage an europäische Vorstellungen ist insoweit nicht ausreichend.

Nach alledem ist eine Rückkehr der Klägerin in ihre Heimatregion, in der sie den Übergriffen ihres Ehemannes und dessen Familie schutzlos ausgesetzt wäre, ausgeschlossen. Es besteht auch keine inländische Fluchtalternative. Die Klägerin konnte sich als alleinerziehende Mutter eines minderjährigen Kindes der ihr drohenden Verfolgung nicht durch Umsiedlung in eine westtürkische Großstadt unter Abtauchen in die Anonymität entziehen. Sie hat dort insbesondere keine Verwandten, unter deren Schutz sie sich stellen könnte und die in der Lage wären, sie aufzunehmen und zumindest für eine Übergangszeit zu versorgen. Im Übrigen wäre auch bei einem der Familie bekannten Aufenthaltsort in der Türkei ihre Sicherheit gefährdet. Ein "Untertauchen" in einer Großstadt wie etwa Istanbul würde ihr zwar Verfolgungssicherheit bieten, es ist jedoch nicht erkennbar, wie sie ohne Hilfe von Freunden oder Verwandten ihr tägliches Überleben - noch dazu unter Berücksichtigung der festgestellten psychischen Erkrankung - gestalten könnte. Angesichts dessen kann von der Klägerin vernünftigerweise nicht erwartet werden, internen Schutz in der Türkei zu suchen. Eine auf Dauer gesicherte menschenwürdige Existenz erscheint nicht möglich. [...]