VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 27.10.2010 - 3 A 1382/09 - asyl.net: M18003
https://www.asyl.net/rsdb/M18003
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung (drohende Zwangsheirat, Verfolgung wegen Verletzung der Familienehre) für schwangere junge Frau aus Marokko.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Marokko, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, Zumutbarkeit, Existenzgrundlage, Schwangerschaft, alleinstehende Frauen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 3, RL 2004/83/EG Art. 9, GFK Art. 1a, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 4 Bst. c, RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Die im PKH-Beschluss vom 7. Oktober 2010 geäußerten Bedenken, dass einer (legalen) Verheiratung der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise möglicherweise ihre Minderjährigkeit entgegen stand, gelten im Grundsatz weiter. Allerdings verkennt das Gericht nicht, dass trotz der erfolgten Reform des Familienrechts und der Heraufsetzung des nach marokkanischem Recht heiratsfähigen Alters auf 18 Jahre in der Praxis noch viele Ehen minderjähriger Mädchen geschlossen werden, wofür nunmehr allerdings eine - in der Regel erteilte - richterliche Genehmigung erforderlich ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 9. Oktober 2009, S. 16). Es war damit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass die Eltern der Klägerin diese bereits mit 16 Jahren hätten verheiraten können. Der auf die Möglichkeit einer Minderjährigenehe abzielende, in der mündlichen Verhandlung gestellte Beweisantrag des Prozessbevollmächtigten der Klägerin war mithin abzulehnen, da das Gericht diese Tatsache als wahr unterstellen kann. [...]

Nach Maßgabe dieser Voraussetzungen erscheint eine Rückkehr nach Marokko für die Klägerin als unzumutbar, weil es beachtlich wahrscheinlich ist, dass ihr dort eine geschlechtsspezifsche Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG droht.

Gemäß § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG kann als Sonderfall der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine solche sog. geschlechtsspezifische Verfolgung kann nach der Systematik des Gesetzes auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.

Die Gefährdung der Klägerin durch eine Zwangsverheiratung bedroht Schutzgüter des § 60 Abs. 1 AufenthG, da dadurch eine individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt würde. Zwar wird in § 60 Abs. 1 AufenthG ausdrücklich nur das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person erfasst. Das Gericht ist jedoch der Ansicht, dass auch das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und der Schutz vor sexueller Gewalt von den Tatbestandsmerkmalen "körperliche Unversehrtheit" bzw. "Freiheit" erfasst sind. Für eine Subsumtion des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung unter das Tatbestandsmerkmal "Freiheit" in § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG spricht auch der Inhalt der Qualifikationsrichtlinie; sie ist als Auslegungshilfe bei § 60 Abs. 1 AufenthG heranzuziehen. In Art. 9 Abs. 1 a) der Richtlinie gilt als Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 1a der Genfer Flüchtlingskonvention eine solche, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend ist, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt. Nach Artikel 9 Abs. 1 b) genügt auch die Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist.

Art. 9 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie nennt als Beispiele für mögliche Verfolgungshandlungen ausdrücklich unter a) die Anwendung physischer oder psychischer einschließlich sexueller Gewalt und unter f) Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (vgl. zur Einordnung einer Zwangsheirat als geschlechtsspezifische Verfolgung auch VG Oldenburg, Urteil vom 26. September 2007 - 5 A 4647/04 - V.n.b.; VG Hamburg, Urteil vom 7. November 2005 - 4 A 1970/03 - juris).

Wie bereits ausgeführt, glaubt das Gericht der Klägerin, dass ihre Eltern vor ihrer Ausreise nach Deutschland einen Ehemann für sie ausgesucht hatten und ihre Verheiratung planten. Es ist auch beachtlich wahrscheinlich, dass ihr eine Heirat - auch gegen ihren Willen - bei ihrer Rückkehr nach Marokko weiterhin zumindest in dem Fall gedroht hätte, dass ihre Eltern die in Deutschland nach islamischem Recht geschlossene Ehe nicht akzeptiert und für nicht wirksam erachtet hätten. Aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin mittlerweile schwanger ist, kann aber offen bleiben, ob sie nach Auffassung ihres Vaters mittlerweile als verheiratet gilt und damit nicht erneut heiraten könnte. In diesem Fall würde ihr zwar nicht mehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Zwangsverheiratung drohen, da die Mehrehe, welche nach dem 2004 verabschiedeten Gesetz zur Reform des Familienrechts ohnehin strengen Bedingungen unterliegt, ein ausschließliches männliches Privileg ist (vgl. BAMF, Glossar Islamische Länder, Band 13 Marokko, Januar 2009). Jedenfalls wäre der Klägerin eine Rückkehr nach Marokko aber zumindest unzumutbar.

Denn selbst wenn sie im Falle der Anerkennung der Ehe durch den marokkanischen Staat und ihre Eltern nicht noch einmal verheiratet werden könnte, würde der Klägerin geschlechtsspezifische Verfolgung gerade aufgrund ihrer eigenmächtigen Heirat in Deutschland drohen. Dies folgt aus den glaubhaften Aussagen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, die durch die vorhandenen Erkenntnismittel gestützt werden. Die Klägerin gab an, in den Augen ihrer Eltern die Familienehre verletzt zu haben, indem sie sich der arrangierten Ehe entzogen habe, in Deutschland eine Beziehung eingegangen sei und nicht mehr Jungfrau sei. Dies würde dazu führen, dass ihr Vater sie schlagen und eventuell sogar töten würde. Zwar sind dies reine Vermutungen der Klägerin, die durch nachprüfbare Drohungen des Vaters nicht belegt sind. Allerdings ist sie diesbezüglich auch in einem Beweisnotstand, denn - ihr Vorbringen als wahr unterstellt - ist es ihr nicht zumutbar, freiwillig nach Marokko zurückzureisen und sich dort den aller Voraussicht nach rigiden Bestrafungen ihrer Eltern auszusetzen. Insoweit überwiegen die für eine Verfolgung sprechenden Anhaltspunkte. Dass die Bürgerrechte der Frau vielfach durch den Vater bestimmt werden, wird durch verschiedene Erkenntnismittel belegt (vgl. BAMF, Glossar Islamische Länder, Rand 13 Marokko, Januar 2009, S. 18). Dass der patriarchalische Vater der Klägerin das eigenmächtige Handeln dieser nicht tolerieren wird, hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt. Es kommt hinzu, dass sie schwanger ist (vgl. das Ärztliche Zeugnis des Herrn Dr. ..., nach dem bei der Klägerin eine Schwangerschaft vorliegt und der mutmaßliche Entbindungstermin der 22. Juni 2011 ist) und sie damit ganz offensichtlich eine Beziehung zu einem Mann eingegangen ist. Dass der Vater der Klägerin, der dieser vor ihrer Ausreise nach Deutschland sogar strenge Bekleidungsvorschriften machte und sie schlug, wenn sie sich widersetzte, sich aufgrund dieser ganz eindeutig eigenmächtigen Handlung seiner Tochter in seiner Ehre verletzt sehen und diese hart bestrafen wird, hat die Klägerin überzeugend vermittelt.

Auch in dem Fall, dass ihre Ehe in Marokko nicht als rechtsgültig anerkannt wird, ist der Klägerin eine Rückkehr nach Marokko nicht zumutbar. Dies gilt fraglos dann, wenn sie weiterhin gegen ihren Willen verheiratet werden soll. Selbst wenn sie aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht mehr verheiratet werden könnte, da die potentiellen Ehemänner sie deshalb ablehnen würden (was jedoch nach Auffassung der Klägerin nicht der Fall wäre), würden ihr wie oben ausgeführt drakonische Strafen seitens ihrer Eltern, insbesondere ihres Vater drohen, da dieser dann zum einen für sie kein Brautgeld mehr erzielen könnte und seine Tochter zum anderen die Familienehre verletzt hat. Diese von ihrem Vater ausgehende Gefahr der Bestrafung durch die Anwendung erheblicher körperlicher Gewalt, die evtl. sogar zum Tode der Klägerin führen würde, überschreitet eindeutig das asylerhebliche Maß.

Beide aufgezeigten Verfolgungsvarianten (zum einen die Zwangsverheiratung, sofern diese trotz Heirat nach islamischem Recht und trotz Schwangerschaft noch tatsächlich möglich und zum anderen die drohende körperliche Gewalt bei nicht mehr erfolgender Verheiratung) durch den Vater betreffen die Klägerin in einem verfolgungserheblichen Merkmal, nämlich dem für sie unverfügbaren Merkmal des weiblichen Geschlechts und der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG, da sie Folge der verweigerten Zwangsverheiratung sind und mit dieser in unmittelbarem Zusammenhang stehen. [...]

Insbesondere bei Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Klägerin nach Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie kann ihr nicht zugemutet werden, in andere Landesteile (beispielsweise in die Großstädte) auszuweichen. Zwar ist davon auszugehen, dass ihre Familie sie nicht in absehbarer Zeit aufspüren würde, wenn sie in einen anderen Ort als ihr Heimatdorf zurückkehrt. Zumindest hat die Klägerin nichts Dahingehendes vorgetragen und sie hat außer einer Tante und einem Onkel, zu denen sie keinen Kontakt mehr hat, anscheinend auch keine weit verstreut lebende Großfamilie, so dass die Gefahr der Entdeckung nicht realistisch erscheint. Zudem ist es ihrer älteren Schwester ... bereits vor einigen Jahren gelungen, aus dem Elternhaus zu fliehen und an einem anderen, unbekannten Ort zu leben, ohne dass ihre Familie Kontakt zu ihr herstellen konnte. Allerdings könnte die Klägerin in einem anderen Landesteil ohne die Unterstützung ihrer Familie mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existieren; insbesondere nicht als Schwangere bzw. junge Mutter. Die Situation der unverheirateten Mütter und ihrer nichtehelich gezeugten Kinder ist in Marokko insbesondere wegen der gesellschaftlichen Anschauungen schwierig, wobei es sich dabei um ein Tabuthema handelt und es daher dazu keine nachprüfbaren Angaben oder gar offizielle Statistiken gibt. In weiten Teilen der von den islamischen Traditionen geprägten marokkanischen Gesellschaft stellt die nichteheliche Geburt einen Makel dar, der sowohl dem Kind als auch seiner Mutter anhaftet (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 18. April 2007 an VG Minden). Allein erziehende Mütter werden gesellschaftlich geächtet (vgl. BAMF, Glossar Islamische Länder, Band 13 Marokko, Januar 2009, S. 18). Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen kam es vereinzelt insbesondere in ländlichen Gegenden, in denen die Traditionen eine größere Rolle spielen, zu körperlichen Übergriffen auf unverheiratete Mütter. Erkennbare staatliche Initiativen zum Schutz von außerhalb der Ehe geborenen Kindern und ihren Müttern gibt es nicht, die nicht verheirateten Mütter können Unterstützung bei der Betreuung der Kinder sowie juristischen und medizinischen Problemen jedoch von einigen nichtstaatlichen Organisationen erfahren. Diese Institutionen, die sich überwiegend in den Großstädten befinden, bieten den Frauen mitunter auch Ausbildungen hauptsächlich als Köchinnen, Näherinnen und Frisörinnen an. Insgesamt ist die Lage auf dem marokkanischen Arbeitsmarkt jedoch unabhängig von der Situation und Vorbildung als schwierig einzuschätzen. Bei der Beurteilung der Gefahrenlage kommt es entscheidend auf den jeweiligen Einzelfall, d.h. auf die soziale Herkunft und das Bildungsniveau der betroffenen Frau, einen etwaigen Rückhalt in ihrer Familie, lokale Besonderheiten und ähnliches, vor allem aber auf den persönlichen Einsatz und die Willenskraft der Frau an (vgl. zum Ganzen Auswärtiges Amt, Auskunft vom 18, April 2007 an VG Minden; VG Minden, Urteil vom 19. Januar 2010 - 10 K 1693/09.A - V.n.b.). Nach einer Gesamtwürdigung der individuellen Umstände im Falle der Klägerin muss demnach für sie eine Fluchtalternative in andere Landesteile ausgeschlossen werden. Sie kann als schwangere Frau bzw. junge Mutter nach ihrem ausgeführten persönlichen Schicksal nicht auf die Unterstützung ihrer Familie zählen - vielmehr müsste sie ja gerade versuchen, sich vor dieser zu verbergen -, sie hat nach ihren Aussagen in der mündlichen Verhandlung keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung und es ist äußerst unsicher, ob sie die Möglichkeit bekäme, Hilfe durch die Aufnahme in die genannten Programme der Nichtregierungsorganisationen zu erlangen. Da die Klägerin erst 18 Jahre alt ist, noch nie allein gelebt hat oder für sich selbst sorgen musste, erscheint es dem Gericht ausgeschlossen, dass ihr das Aufbauen einer eigenen Existenz bei einer Rückkehr nach Marokko als Schwangere bzw. mit einem kleinen Kind möglich wäre. [...]