VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 27.12.2010 - 2 A 187/10 - asyl.net: M18023
https://www.asyl.net/rsdb/M18023
Leitsatz:

Verurteilung des BAMF zur Durchführung des Asylverfahrens im Dublin-Verfahren. Das Ermessen des BAMF für einen Selbsteintritt ist auf Null reduziert, weil die Situation in Griechenland die Durchführung eines geordneten, humanitären Mindestanforderungen genügenden Asylverfahrens derzeit nicht erwarten lässt.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, Griechenland, Selbsteintritt, Zustimmungsfiktion, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34 Abs. 1 S. 1, VO 343/2003 Art. 18 Abs. 7, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO der Fall. Danach ist die Republik Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig, weil sie ein entsprechendes Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland mit der Folge einer Zuständigkeitsfiktion nicht innerhalb der dafür vorgesehenen Frist von zwei Monaten beantwortet hat. Soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. An diesen Regelungen orientiert sich die angefochtene Entscheidung.

Obwohl die Voraussetzungen der §§ 27a und 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sowie des Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO vorliegen, ist die angefochtene Entscheidung rechtsfehlerhaft, weil die Bundesrepublik Deutschland aufgrund besonderer Umstände verpflichtet ist, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne dieser Verordnung und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. Das der Beklagten insoweit eingeräumte Ermessen, anstelle Griechenlands ein Asylverfahren durchzuführen, ist aufgrund der Situation in der Republik Griechenland, welche die Durchführung eines geordneten, humanitären Mindestanforderungen genügenden Asylverfahrens derzeit nicht erwarten lässt, zugunsten des Klägers soweit reduziert, dass sich nur eine Inanspruchnahme des Selbsteintrittsrechts als ermessensfehlerfrei erweist. [...]

Das Gericht hat zwar keine Erkenntnisse über die Abschiebung von Asylbewerbern aus Griechenland. Offenbar werden von dort auch unanfechtbar abgelehnte Asylbewerber derzeit nicht abgeschoben. Eine Verletzung des "Refoulement-Verbots" droht also nicht unmittelbar. Auch sieht sich das Gericht weder dazu berufen noch in der Lage, die Qualität griechischer Asylentscheidungen zu würdigen. Es kann aber unterstellt werden, dass die erste Verwaltungsinstanz (Polizei) die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung eines Asylgesuchs in der Praxis nicht zu erfüllen vermag, weil nach den obigen Berichten die Zuziehung qualifizierter Dolmetscher (siehe Art. 10 Abs.. 1 Buchst. a u. b Verfahrens-RL) in diesem Verfahrenstadium nicht gesichert ist. Als zweite Verwaltungsinstanz fungiert aber eine aus sechs Personen bestehende unabhängige Kommission, die nach dem Präsidialerlass 90/2008 vom 11. Juli 2008 - im Gegensatz zu früher - nicht nur beratende Funktion hat, sondern selbst entscheidet (siehe Hammarberg, Rd.Nrn. 27 und 28, Bericht des BMI an den Deutschen Bundestag v. 13.01.2009). Dieser Kommission gehören auch ein Rechtsanwalt und ein Vertreter des UNHCR an. Die im UNHCR-Bericht vom 15. April 2008 angemahnte Umsetzung von EG-Richtlinien ist mittlerweile erfolgt. Die Verfahrens-RL wurde mit Präsidialerlass 90/2008, die Qualifikations-RL mit Präsidialerlass. 96/2008 vom 30. Juli 2008 umgesetzt (UNHCR v. 01.12.2008). Hierdurch hat sich die von der Europäischen Kommission nach Art. 226 EG erhobene Vertragsverletzungsklage C-220/08 erledigt. Mit dem Dekret vom 11. Juli 2008 wurde auch die von der Kommission und vom UNHCR (Bericht vom 15.04.2008, Nr. 9) beanstandete Regelung geändert (HRW Punkt V S. 25), wonach das Asylverfahren zu Lasten der "Dublin-Rückkehrer" wegen Verlassens des Landes als "Abgebrochen" behandelt wurde. Auf der Ebene der Normsetzung sind also die Beanstandungen grundsätzlich behoben. Gleichwohl bestehen nach den obigen Berichten noch in der Praxis Defizite, welche zwar die Abschiebung nicht wahrscheinlich machen, "Dublin-Rückkehrer" aber in die Illegalität zu drängen drohen.

Der, UNHCR hat im Bericht vom 15. April 2008 (Nr. 8) mitgeteilt, dass Asylbewerber, die keine Adresse angeben können, über den Stand des Asylverfahrens durch öffentliche Bekanntmachung informiert werden. Dies führt zu einem ernsten Rechtsschutzdefizit. Nach Art. 39 Verfahrens-RL besteht ein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Griechenland ist bei der Unterbringung von Asylsuchenden gegenwärtig überfordert. Es hat die Aufnahme-RL erst nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. April 2007 (C-72/06), mit dem eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, mit Präsidialerlass 220/2007 vom 13. November umgesetzt (UNHCR v. 15.04.20.08, Nr. 19). Die Asylanträge sind in Griechenland von 4469 im Jahre 2004 auf 25113 im Jahre 2007 angestiegen. Die Zahl der irregulären Grenzübertritte wurde für das Jahr 2008 auf bis zu 150000 geschätzt (Hammarberg, Rd.Nr. 7). Nach den vorliegenden Berichten können die sich aus Art. 13 und 14 Aufnahme-RL ergebenden Anforderungen an die Unterbringung in der Praxis derzeit nicht erfüllt werden. Wenn die griechische Seite vorträgt, dass für einen Überstellten, der über keine Kontakte zu Freunden und Verwandten verfüge, eine Unterkunft in einer Aufnahmeeinrichtung bzw. in Hotels oder Mietwohnungen gesucht werde (BMI v. 13.01.2009), zeigt schon die Wortwahl, dass eine vom Staat organisierte Unterbringung nicht gesichert ist. Nach den vorliegenden Berichten (siehe insbesondere HRW, XVI Surviving in Greece; Hammarberg RdNrn. 17, 18) bleibt die tatsächliche soziale Betreuung der Asylsuchenden hinter den gemeinschaftsrechtlichen Mindeststandards zurück. Nach dem Bericht von PRO ASYL vom 19. Februar 2009 (S. 31) sollen die für die Auszahlung der vorgeschriebenen "Tagegelder" an Asylsuchende erforderlichen Haushaltsmittel fehlen. Die Leiterin des griechischen "Ökumenischen Flüchtlingsprogramms" habe erklärt, keinen einzigen Fall zu kennen, in dem diese Sozialleistung gewährt worden sei. Es liegt auf der Hand, dass obdachlose und mittellose Asylbewerber nicht nur unter den Lebensbedingungen zu leiden haben, sondern auch Gefahr laufen, wegen der Versäumung öffentlich bekannt gemachter Fristen ihren Status als Asylsuchende zu verlieren. Das Gericht sieht hierin jedenfalls ein markantes Beispiel für allgemeine Defizite bei den Asylverfahren von "Dublin-Rückkehrern".

Dafür, dass sich die Situation in Griechenland inzwischen soweit verbessert hat, dass humanitäre Mindeststandards eingehalten und ein geordneter Zugang zu einem Asylverfahren gewährleistet erscheint, liegen dem Gericht keine Erkenntnisse vor. Auch das Bundesverfassungsgericht, das bereits in seinem Beschluss vom 08.12.2009 (2 BvR 2780/09) im Falle einer drohenden Abschiebung nach Griechenland einem Aussetzungsantrag stattgegeben hatte, hat die Lage in Griechenland im Rahmen einer mündlichen Verhandlung am 28. Oktober 2010 weiterhin als prekär bezeichnet. Bei dieser Sachlage hält das Gericht deshalb ausschließlich eine Entscheidung für die Inanspruchnahme des Selbsteintrittsrechts für ermessensfehlerfrei. [...]