Eilrechtsschutz wegen drohender Dublin-Überstellung nach Italien.
1. Der generelle Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes in allen Fällen des § 27a AsylVfG ist mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. Jedenfalls liegt ein Sonderfall mit Blick auf die jüngste Rechtsprechung des EGMR (M. S. S., Urt. v. 21.1.2011, asyl.net, M18077) vor, wenn das Asylverfahren in einem Staat in der Praxis solch erhebliche strukturelle Mängel aufweist, dass Asylbewerber nur eine sehr geringe Chance haben, dass ihr Antrag ernsthaft geprüft wird. Dann verletzt nicht nur der Staat, in den der Flüchtling überstellt wird, sondern auch der überstellende Staat Art. 13 i.V.m. Art. 3 EMRK.
2. Derzeit spricht vieles dafür, dass der Antragsteller in Italien die gebotene Prüfung und Bescheidung seines Schutzgesuchs nicht erreichen wird. Die Tatsache, dass es bei Italien keine Empfehlung des UNHCR wie bei Griechenland gibt, Asylsuchende nicht in diesen Staat zu überstellen, genügt nicht, um den vorliegenden Berichten über die Situation in Italien substantiiert entgegenzutreten.
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Der Antrag ist statthaft; § 34a Abs. 2 AsylVfG, der seinem Wortlaut nach vorläufigen Rechtsschutz bei Abschiebungen nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ausschließt, steht nicht entgegen. Zwar handelt es sich bei der geplanten Abschiebung des Antragstellers um eine solche nach § 34a Abs. 1 AsylVfG. [...]
Der generelle Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes in allen Fällen des § 27a AsylVfG ist jedoch mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar; er ist nicht nach Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG zu rechtfertigen. Denn mit § 27a AsylVfG wird nicht von der Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG Gebrauch gemacht, sondern die Regelung findet ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung allein in Art. 16a Abs. 5 GG und Art. 23 GG, in deren Anwendungsbereich effektiver Rechtsschutz verfassungsrechtlich in jedem Fall zu gewährleisten ist (vgl. dazu Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG, Okt. 2009, § 34a, Rnr. 89). Selbst wenn man aber in Rechnung stellt, dass hier von einer Einreise des Antragstellers aus Italien ausgegangen wird und damit auch ein Fall des Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG vorliegt, in dem der Ausschluss vorläufigen Rechtsschutzes grundsätzlich verfassungsrechtlich möglich ist, ist die Regelung des § 34a Abs. 2 AsylVfG dennoch entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung (BVerfG, Urt. v. 14.05.1996, BVerfGE 94, 49) verfassungskonform einschränkend auszulegen. Danach ist davon auszugehen, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG vorläufigen Rechtsschutz nicht generell verbietet, sondern dieser in Sonderfällen, die außerhalb des Konzepts normativer Vergewisserung über die Sicherheit im EU-Mitgliedsstaat liegen, nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Dabei kann der Ausländer eine Prüfung, ob der Abschiebung ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, nur erreichen, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem Sonderfall betroffen ist; an diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen. [...] Ein Sonderfall ist mit Blick auf die jüngste Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Überstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland (Urteil vom 21.01.2001 - 30696/09 -) ebenfalls zu bejahen, wenn das Asylverfahren in einem Staat in der Praxis solch erhebliche strukturelle Mängel aufweist, dass Asylbewerber nur eine sehr geringe Chance haben, dass ihr Antrag ernsthaft geprüft wird. Dann verletzt nicht nur der Staat, in den der Flüchtling überstellt wird, sondern auch der überstellende Staat Art. 13 i. V. m. Art. 3 EMRK (vgl. dazu im einzelnen Urteil des EGMR, Nrn. 288 ff., 300 ff., 321, 385 ff.).
Nach den vorliegenden Erkenntnissen spricht Überwiegendes dafür, dass beim Antragsteller ein Sonderfall vorliegt und er bei einer Überstellung nach Italien keinen Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards erlangen würde (ebenso für Fälle der Überstellung nach Italien VG Minden, Beschlüsse vom 28.09.2010 - 3 L 491/10. A - und vom 07.12.2010 - 3 L 625/10. A -, VG Darmstadt, Beschlüsse vom 09.11.2010 - 4 L 1455/10.DA.A (1) und vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A, VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2010 - 5 E 20190/10 We -, VG Köln, Beschlüsse vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A - und vom 11.01.2011 - 16 L. 1913/10.A -; dagegen VG Düsseldorf, Urteil vom 30.07.2010 - 13 K 3075/10.A - und Beschluss vom 07.01.2011 - 21 L 2285/10.A -, VG München, Beschluss vom 04.01.2011 - M 22 E 10.31257 -, VG Regensburg, Beschlüsse vom 11.11.2010 - RN 7 S 10.10464 - und vom 14.01.2011 - RO 7 S 11.30018 -, VG Trier, Beschluss vom 20.12.2010 - 5 L 1483/10 (TR)). [...]
Derzeit spricht aber vieles dafür, dass der Antragsteller in Italien die gebotene Prüfung und Bescheidung seines Schutzgesuchs nicht erreichen wird. Auch wenn Italien, wie die Antragsgegnerin betont, alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat, ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass seine Praxis von den normativen Vorgaben abweicht, wie etwa die vom UNHCR wie auch von amnesty international ausdrücklich kritisierte Abschiebung von Bootsflüchtlingen nach Libyen ohne Prüfung ihres asylrechtlichen Schutzbedarfs zeigt (vgl. Stellungnahme UNHCR vom 7.5.2009; ai Jahresbericht 2010). Die neueren Berichte von Bethke und Bender nach ihrer Recherchereise im Oktober 2010 wie auch der schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von November 2009 deuten darauf hin, dass gerade die von der Antragsgegnerin zitierte Richtlinie 2003/9/EG zum Flüchtlingsschutz, nach der die Mitgliedstaaten insbesondere solche materiellen Aufnahmebedingungen schaffen, die Lebensunterhalt einschließlich Unterbringung wie auch Gesundheit der Asylbewerber gewährleisten (vgl. Art. 13 Abs. 2 und Art. 14 dieser Richtlinie), derzeit in vielen Bereichen nicht umgesetzt wird. Sowohl der detaillierte Bericht von Bethke und Bender zur Situation in Rom und Turin als auch derjenige der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht schildern Obdachlosigkeit und fehlende existenzielle Versorgung der großen Mehrheit der Asylsuchenden. In beiden Berichten werden die Schwierigkeiten der Asylbewerber beschrieben, angesichts ihrer prekären Lebenssituation, aber auch angesichts der völlig überlasteten behördlichen Strukturen ein Asylverfahren zu betreiben.
Diesen Berichten hat die Antragsgegnerin nichts substantiiert entgegengesetzt. Die Tatsache, dass es bei Italien keine Empfehlung des UNHCR wie bei Griechenland gibt, Asylsuchenden nicht an diesen Staat zu überstellen, genügt nicht. Soweit die Antragsgegnerin darauf verweist, dass Italien seit mehreren Jahren ein nationales System zum Schutz und zur Unterbringung von Flüchtlingen – SPRAR – unterhalte und dass humanitäre Organisationen die angemessene Unterbringung und Versorgung in den Aufnahmeeinrichtungen sicherstellten, ist dem entgegenzuhalten, dass SPRAR landesweit nur 3.000 Plätze vorhält [..].
Soweit die Antragsgegnerin einwendet, die genannten Berichte befassten sich nicht flächendeckend mit der Situation von Asylbewerbern in Italien, sondern rügten konkret die Zustände für Ausländer aus Somalia, Eritrea und Äthiopien in den Ballungszentren Rom und Turin, während der Antragsteller aus Togo stamme und während seines Italienaufenthalts in Neapel gelebt habe, übersieht sie, dass er nach der Übernahmeerklärung Italiens vom 19.08.2010 nicht nach Neapel, sondern nach Lamezia Terme oder nach Rom abgeschoben werden soll. Mit der Situation in Rom befasst sich der Bericht von Bethke/Bender ausführlich; Lamezia Terme liegt im äußersten Süden Italiens, wo die Strukturen nach dem Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle besonders überlastet sind. Dazu passt, dass nach Aussage der medizinischen Koordinatorin der Organisation "Médecins sans Frontières" nach einer Ende 2008 durchgeführten Untersuchung der Lebensbedingungen von Migranten in italienischen Zentren das Zentrum in Lamezia Terme sofort geschlossen werden müsste, weil es völlig ungeeignet sei, Menschen unter vernünftigen Lebensbedingungen aufzunehmen (zit. nach www.africanews.eu/news-italy, Meldung vom 03.02.2010, siehe auch Médecins sans Frontières, Over the Wall, A tour of Italy´s migrant centres, Jan. 2010). Dafür, dass die geschilderten Zustände, wie die Antragsgegnerin wohl meint, nur Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Äthiopien beträfen, ist den Berichten nichts zu entnehmen. Auch sonst liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller als Togoer in irgendeiner Weise gegenüber anderen afrikanischen Flüchtlingen bevorzugt werden könnte.
Aus den von der Antragsgegnerin angeführten Gerichtsentscheidungen für die Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien, darunter auch des schweizerischen Bundesverwaltungsgerichts vom 15.07.2010 - D-4987/2010 - und des Österreichischen Asylgerichtshofs vom 03.05.2010 - S16412.104-1/2010-4E -, ergeben sich keine neuen Erkenntnisse über die tatsächliche Situation für Asylbewerber in Italien. Der vom Verwaltungsgericht Regensburg als Beleg für die Verbesserung der Aufnahmebedingungen in den letzten Jahren zitierte Bericht der evangelischen Landeskirche Baden (a.a.O.) besagt nur, dass die Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie in Italien erstmals zur Schaffung von Aufnahmezentren geführt hat, enthält aber gerade keine Aussage zu der Mehrheit der Flüchtlinge, die in diesen Zentren keinen Platz findet.
Nach den genannten Berichten erscheint es derzeit auch wenig wahrscheinlich, dass der Antragsteller von Italien aus sein Klagverfahren in Deutschland gegen die Abschiebungsanordnung weiterbetreiben könnte. Post würde ihn als Obdachlosen kaum erreichen; auch den Asylbewerbern, die nicht nur auf der Straße leben, sondern eine Schlafmöglichkeit in einem der besetzten Häuser finden, können nach dem Bericht von Bethke/Bender keine Briefe zugestellt werden. Auch dies ist mit Blick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes in der Abwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen. Zwar gibt es im Anwendungsbereich der Verordnung Dublin II grundsätzlich kein subjektives Recht auf Durchführung des Asylverfahrens im richtigen Mitgliedstaat; wegen der Möglichkeit, dass das Schutzbegehren des Antragstellers hier in den Schutzbereich von Art. 16a Abs. 1 GG fällt, muss jedoch auch eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle hinsichtlich der Frage der Zuständigkeit Deutschlands erfolgen (vgl. dazu auch Funke-Kaiser, a.a.O., § 27a, Rn. 138).
Hinter dem Anspruch des Antragstellers auf Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards hat das gemeinschaftsrechtliche Interesse an der Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen der Verordnung Dublin II zurückzutreten, zumal die Mängel des derzeitigen europäischen Asylsystems auf Gemeinschaftsebene bekannt sind und u.a. an einer Änderung der Verordnung Dublin II gearbeitet wird (so VG Minden, Beschl. vom 28.09.2010 - 3 L 491/10.A -). [...]