OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 02.02.2011 - 13 LA 104/09 - asyl.net: M18279
https://www.asyl.net/rsdb/M18279
Leitsatz:

1. Kein Ausschluss von der Altfallregelung nach § 104a Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wegen mangelnder Bemühungen um die Erlangung eines iranischen Personenstandsdokuments (Shenasnameh).

2. Nach Zurückweisung des Berufungszulassungsantrags der Ausländerbehörde ist dem Kläger nunmehr eine Aufenthaltserlaubnis nach der Anschlussregelung zur Altfallregelung des § 104a AufenthG (sog. Bleiberechtsregelung 2009 nach Erlasslage) zu erteilen. Eine rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe in originärer Anwendung des § 104a Abs. 1 AufenthG dürfte dagegen ausscheiden.

Schlagwörter: Altfallregelung, Bleiberecht, Bleiberechtsregelung 2009, Berufungszulassungsantrag, ernstliche Zweifel, Hinauszögern oder Behindern behördlicher Maßnahmen, vorsätzliche Täuschung, richterliche Überzeugungsgewissheit, Identitätsfeststellung, Passpflicht, Mitwirkungspflicht, Shenasnameh, Iran, Unterlassen, rückwirkende Erteilung,
Normen: VwGO § 124a Abs. 4 S. 4, AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 4, AufenthG § 104a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat eine jedenfalls gut vertretbare Entscheidung zu der im Zulassungsverfahren schwerpunktmäßig von den Beteiligten erörterten Frage getroffen, ob dem Kläger aufgrund seines Verhaltens in tatsächlicher Hinsicht entgegengehalten werden kann, er habe die Ausländerbehörde vorsätzlich über aufenthaltsrechtlich relevante Umstände getäuscht oder behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert oder behindert (§ 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG). Das Verwaltungsgericht hat dies unter umfänglicher Auseinandersetzung mit den Aktivitäten der Beklagten einerseits und denjenigen des Klägers andererseits einzelfallbezogen verneint. Diese sich im Wesentlichen im Rahmen der freien Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts bewegende Würdigung insbesondere des Verhaltens des Klägers hat die Beklagte nicht erfolgreich unter Berufung auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils angreifen können. Zwar ist eine von der Einschätzung des Verwaltungsgerichts abweichende Würdigung ebenfalls denkbar. Für diese denkbare Alternativwürdigung hat die Beklagte allerdings nach Auffassung des Senats keine hinreichend gewichtigen Umstände mit der Folge darlegen können, dass sich denkbare "Restzweifel" an der Einschätzung des Verwaltungsgerichts bereits zu "ernstlichen Zweifeln" im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO verdichtet hätten. Im Einzelnen:

Das Verwaltungsgericht hat insbesondere darauf abgehoben, dass dem Kläger im Rahmen des § 104a Abs. 1 AufenthG nicht vorgeworfen werden könne, sich nicht hinreichend um die Erlangung eines Shenasnameh (iranisches Personenstandsdokument, das alle personenstandsrechtlichen Daten wie Geburt, Ehe, Scheidung etc. enthält; wird auch als "rote Kennkarte" bezeichnet und ist für die Ausstellung eines Passes oder Passersatzpapieres erforderlich, vgl. nur Hinweise der ZAAB Bl. 154 f. d. A, sowie Lagebericht des AA zur Islamischen Republik Iran, Stand: Juni 2010, S. 38) bemüht zu haben. Ein Identitätsfeststellungsverfahren beim iranischen Generalkonsulat zur Erlangung einer Zweitausfertigung eines Shenasnameh hätte er nicht schon früher betreiben müssen, weil dieses Verfahren - auch dem Gericht - erst kürzlich bekannt geworden sei. Daneben habe es für den Kläger auch keine anderen erfolgversprechenden Möglichkeiten gegeben, im Iran bereits früher an dieses Dokument zu gelangen, Gegen diese einzelfallbezogene Wertung macht die Beklagte geltend, dass es einem anderen Iraner in ihrem Zuständigkeitsbereich, der sich in einer vergleichbaren Situation befunden hätte, möglich gewesen sei, mit Hilfe von Verwandten im Iran einen Shenasnameh und anschließend einen Pass zu erhalten. Dieser Iraner sei selbständig und zielorientiert vorgegangen und habe eine Lösung gefunden, zu der er von der Beklagten mangels Kenntnis der Verhältnisse gar nicht hätte aufgefordert werden können. Dies sei auch vom Kläger zu verlangen gewesen. Damit wird die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, die Erteilungsvoraussetzung des § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG liege vor, nicht hinreichend in Frage gestellt. Dies gilt auch dann, wenn man im rechtlichen Ausgangspunkt ein vorsätzliches Hinauszögern oder Behindern behördlicher Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung auch bei einem Unterlassen in Gestalt von fehlenden Bemühungen trotz konkreter und wiederholter Aufforderungen für möglich hält (vgl. dazu etwa Nds. OVG, Beschl. v. 28.01.2008 - 12 ME 23/08 -, juris). Die Beklagte fordert mit ihrem Zulassungsvorbringen nämlich so etwas wie den "Idealtyp" eines Ausländers ein, der selbsttätig Wege zur Erlangung eines Passes oder Passersatzes bzw. der dafür zunächst erforderlichen Dokumente beschreitet, die der Behörde noch nicht einmal bekannt sind. Diese Forderung geht nach Auffassung des Senats über ein vorsätzliches Täuschen, Hinauszögern oder Behindern i.S.d. § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG deutlich hinaus und vermag deshalb das vom Verwaltungsgericht für richtig gehaltene Ergebnis nicht ernstlichen Zweifeln auszusetzen. Dass der Kläger neben dem Identitätsfeststellungsverfahren beim iranischen Generalkonsulat, das mittlerweile hinsichtlich der Ausstellung eines Shenasnameh auch zum Erfolg geführt hat, andere erfolgversprechende Möglichkeiten zur früheren Erlangung dieses Dokuments und eines Passes oder Passersatzes gehabt hätte, bleibt letztlich eine Vermutung, die allenfalls nicht hinreichend verdichtete Restzweifel an der Ergebnisrichtigkeit des angegriffenen Urteils zur Folge haben kann. Dies reicht für eine Zulassung der Berufung nicht aus.

Ohne dass dies entscheidungserheblich wäre, weist der Senat darauf hin, dass der Verpflichtungsausspruch des verwaltungsgerichtlichen Urteils zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe nunmehr dahin zu verstehen sein dürfte, dass dem Kläger im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs nach der Anschlussregelung zur Altfallregelung des § 104a AufenthG (vgl. RdErl. des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres, Sport und Integration vom 11.12.2009 - 42.12 - 12230/1-8 (§ 23) -, "Bleiberechtsregelung 2009") nicht mehr entgegengehalten werden darf, er habe behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert oder behindert. Soweit die Anschlussregelung voraussetzt, dass es sich bei dem Ausländer um den "Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe" handelt, dürfe die dem Verpflichtungsurteil des Verwaltungsgerichts zugrunde liegende Feststellung eines materiellen Rechtsanspruchs des Klägers dem Besitz der Aufenthaltserlaubnis gleichstehen (vgl, dazu BVerwG, Urt. v. 30.03.2010 - 1 C 6.09 -; juris Rdnr. 26). Demgegenüber dürfte die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe in originärer Anwendung des § 104a Abs. 1 AufenthG nunmehr ausscheiden (vgl. dazu m.w.N.: Nds. OVG, Urt. v. 15.06.2010 - 8 LB 117/08 - juris Rdnr. 25), [...]