VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Beschluss vom 23.02.2011 - 4 E 20033/11 Ge - asyl.net: M18311
https://www.asyl.net/rsdb/M18311
Leitsatz:

Die Rückführungsrichtlinie ist in Verfahren nach der Dublin II-VO anwendbar. Eine Zurückschiebung nach § 57 AufenthG ist demnach nur dann europarechtskonform, wenn der Ausländer in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer unerlaubten Einreise von der Grenzbehörde im grenznahen Raum angetroffen wird, was vorliegend nicht der Fall ist. Die Rückführungsrichtlinie fordert gegen Rückkehrentscheidungen einen wirksamen Rechtsbehelf, weshalb § 34a Abs. 2 AsylVfG europarechtskonform dahingehend auszulegen ist, dass vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren ist. Diesen verhindert das BAMF durch die späte Bekanntgabe des Dublin-Bescheids sowie des Inhalts der Rechtsbehelfsbelehrung, welche ohnehin fehlerhaft ist.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Rückführungsrichtlinie, Zurückschiebung, unerlaubte Einreise, Bundespolizei, unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang, Rückkehrentscheidung, wirksamer Rechtsbehelf, Zustellung, Rechtsweggarantie, effektiver Rechtsschutz, Rechtsmittelbelehrung
Normen: VwGO § 123, RL 2008/115/EG Art. 20 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 2 Abs. 2a, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, RL 2008/115/EG Art. 13, AufenthG § 57, RL 2008/115/EG Art. 12 Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, VwVfG § 43 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag des Antragstellers ist zulässig und begründet. Durch die ursprünglich für den heutigen Tag beabsichtigte Abschiebung des Antragstellers nach Italien ist eine Verletzung seiner Rechte zu befürchten.

Auf den Antragsteller ist die Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren der Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatenangehöriger anwendbar. Nach Art. 20 Abs. 1 dieser Richtlinie ist Deutschland verpflichtet, bis spätestens zum 24. Dezember 2010 die zur Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen. Dies hat die Bundesrepublik Deutschland bisher verabsäumt. Daher gelten bis zum Inkrafttreten des erforderlichen Gesetzes die Grundsätze der Direktwirkung von Richtlinien, die die Bundesrepublik Deutschland und ihre Behörden verpflichten. Etwaige Unsicherheiten bei der Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG gehen zu Lasten der Antragsgegnerin, weil diese es pflichtwidrig versäumt hat, die Richtlinie in innerstaatliches Recht umzusetzen.

Allerdings können die Mitgliedsstaaten gemäß Art. 2 Abs. 2 a der Richtlinie beschließen, diese nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einem Einreiseverbot nach Art. 1 des Schengener Abkommens unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedsstaates abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten, sich in diesem Mitgliedsstaat aufzuhalten. Das bedeutet, dass eine Zurückschiebung nach § 57 AufenthG nur dann europarechtskonforrn aufrechterhalten werden kann, wenn der Ausländer in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einer unerlaubten Einreise von der Grenzbehörde im grenznahen Raum angetroffen wird und Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und deshalb ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. Nur in diesen Fällen ist die Verordnung 2002/343/EG (Dublin II) anzuwenden. Der unmittelbare zeitliche Zusammenhang mit dein Grenzübertritt fehlt aber im Falle des Antragstellers. Dieser ist nämlich am 30. Juli 2010 nach Deutschland eingereist und hat eine Zugreise mit drei Umsteigestationen absolviert, bis er nach Gießen gelangt war. Damit kann ein unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem Grenzübertritt des Antragstellers nicht mehr festgestellt werden, zumal die Antragsgegnerin erst am 15. November 2010 ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden gestellt hatte.

Damit steht fest, dass die Antragstellerin verpflichtet ist, sich an die Anordnungen der Richtlinie 2008/115/EG zu halten.

Dies betrifft in aller erster Linie die Richtlinie in Artikel 13 Abs. 1. Danach haben die betroffenen Drittstaatsangehörigen das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde, deren Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.

Gefordert ist ausdrücklich ein "wirksamer Rechtsbehelf". Dies ist vergleichbar mit der Regelung in Art. 19 Abs. 4 GG. Somit muss nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine rechtsfähige Garantie des Inhalts, dass ein möglichst umfassender gerichtlicher Rechtsschutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriff der öffentlichen Gewalt zur Verfügung stehen muss, gewährleistet sein. Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zur rechtfertigender Weise erschwert werden. Einem "wirksamen Rechtsbehelf" kommt auch die Aufgabe zu, irreparable Folgen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor deren abschließender gerichtlicher Prüfung eintreten können, soweit als möglich auszuschließen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16. März 1999 - 2 BvR 2131/95).

Diesen Anforderungen wird das Verhalten der Antragsgegnerin nicht gerecht.

Die Antragsgegnerin hat einen Bescheid vom 24. Januar 2011 vorbereitet, in dem der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt und dessen Abschiebung nach Italien angeordnet wird. Dieser Bescheid, den der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers allerdings kennt, existiert derzeit nur als Entwurf. Gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder von ihm betroffen wird, erst in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekanntgegeben wird. Der Verwaltungsakt wird sodann mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird (§ 43 Abs. 1 VwVfG). Ausweislich der Behördenvorgänge hat die Antragsgegnerin die Stadtverwaltung Eisenach am 16. Februar 2011 angewiesen, den Bescheid erst am Überstellungstag auszuhändigen. Eine wirksame Bekanntgabe ist bis zum heutigen Tag noch nicht erfolgt. Daran ändert auch die Kenntnis vom Bescheid durch den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers nichts. Insofern fehlt nämlich der erforderliche Bekanntgabewille der Behörde. Diese hat dem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt, dass die zuständige Ausländerbehörde die Bescheidzustellung an den Mandanten veranlassen wird. Bei einer Bekanntgabe erst am Überstellungstag besteht aber für den Antragsteller keine Möglichkeit mehr, einen "wirksamen Rechtsbehelf" einzulegen.

Der Bescheid vom 24. Januar 2011 enthält zwar eine Rechtsbehelfsbelehrung, wonach gegen den Bescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung Klage beim Verwaltungsgericht Gera erhoben werden kann. Die Rechtsbehelfsbelehrung schließt jedoch mit dem Zusatz: "Die Abschiebung in den sicheren Drittstaat darf nicht nach § 80 oder nach § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt werden (§ 34 a Abs. 2 AsylVfG)". Der Ausschluss von Eilrechtsschutz verstößt jedoch - wie dargelegt - gegen Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG, die diesen Rechtsbehelf zwingend ermöglicht. Deshalb ist § 34a Abs. 2 AsylVfG europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass ein vorläufiger Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Diesen verhindert die Antragsgegnerin gerade. Dies folgt bereits aus der späten Bekanntgabe des Bescheidsentwurfes sowie aus dem Inhalt der Rechtshehelfsbelehrung.. [...]