VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Beschluss vom 24.02.2011 - 2 E 20040/11 Me - asyl.net: M18312
https://www.asyl.net/rsdb/M18312
Leitsatz:

1. Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien, da es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens von Italien oder gar seinem Heimatland aus zu verfolgen. Die Rückführungsrichtlinie ist in Verfahren nach der Dublin II-VO anwendbar, so dass § 34a Abs. 2 AsylVfG aufgrund des in diesem Bereich vorrangigen Europarechts nicht anzuwenden und Eilrechtsschutz statthaft ist. Der Aufenthalt des Antragstellers war illegal, da es sich bei seinem Asylantrag um einen Folgeantrag handelte und er daher keine Aufenthaltsgestattung erhalten hat.

2. Es spricht angesichts der neueren Medienberichte gerade zum Verhalten der italienischen Behörden angesichts der Flüchtlingsströme aus Nordafrika einiges dafür, dass Italien die Vorgaben der Rückführungsrichtlinie hinsichtlich eines effektiven Rechtsschutzes für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige gegenüber einer Abschiebung derzeit nicht - ausreichend - direkt anwendet.

3. Da der Antragsteller bereits zweimal über Griechenland in sein Heimatland zurückgeschoben wurde, spricht auch einiges dafür, dass eine europarechtlichen Standards genügende Überprüfung seines Asylbegehrens möglicherweise überhaupt noch nicht stattgefunden hat.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Rückführungsrichtlinie, Asylfolgeantrag, Abschiebungshaft, Asylantrag, Aufenthaltsgestattung, Anhörung, Zustellung, illegaler Aufenthalt, Rückkehrentscheidung, Selbsteintritt, Ermessen, Rechtsweggarantie, effektiver Rechtsschutz, Obdachlosigkeit, Refoulement, Griechenland
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, RL 2008/115/EG Art. 13 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 13 Abs. 2, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 12 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 13 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 15 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der statthafte Antrag ist bereits im Hauptantrag begründet. [...]

a) Eilrechtsschutz nach § 123 VwGO ist hier nicht durch § 34a Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung, nach Abs. 1 der Norm nicht nach § 80 oder § 123 der Verwaltungsgerichtsordnung ausgesetzt werden. Dies betrifft die in Abs. 1 genannten Fälle der Abschiebungsanordnung auf der Grundlage der Entscheidung des Bundesamtes, dass der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Staat (§ 27a Abs. AsylVfG) zurückgeschoben werden soll. Eine Abschiebung in einen sicheren Drittstaat darf mithin nach Abs. 2 der Norm nicht ausgesetzt werden. Italien ist als Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gemäß 26a Abs. 2 jedoch ein solcher.

§ 34a Abs. 2 AsylVfG kann aber im vorliegenden Fall keine Anwendung finden. Es kann hierbei dahinstehen, ob ein in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.05.1996 (Az.: 2 BvR 2315/93: BVerfGE 94. 49) entwickelten Ausnahmen zu dieser Vorschrift hier vorliegen und ob insofern eine verfassungskonforme Nichtanwendung geboten wäre (vgl. auch VG Frankfurt a.M. B.v. 17.01.2011 - 9 L 117/11.F.A. mit ausführlichen Nachweisen der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung). Die Nichtanwendbarkeit ergibt sich jedenfalls jetzt aus der nunmehr erforderlichen direkten Anwendung der Richtlinie 2008/115/EG vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Denn mit dieser nunmehr direkt anzuwendenden Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vorn 16. September 2008 (ABLEU Nr. L 348 vom 24.12.2008, S. 98 ff.), welche ab 13.01.2001) in Kraft ist und ab dem 25. Dezember 2010 nach Ablauf der Umsetzungsfrist (vgl. Art. 20 der RL) auch in der Bundesrepublik direkt anzuwenden ist (vgl. auch vorläufiger Anwendungshinweis zur einstweiligen Umsetzung des BMI vom 16.12.2010 an die betroffenen Behörden) muss der Mitgliedstaat für Fälle wie den vorliegenden gemäß Art. 13 Abs. 1 und 2 einen Eirechtsschutz gesetzlich vorsehen. Zwar soll diese Richtlinie gemäß Ziffer der zu Eingang des Richtlinientextes nicht auf Drittstaatsangehörige Anwendung finden, die in einem Mitgliedsstaat Asyl beantragt haben, weil diese so lange nicht als illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedsstaates aufhältige Personen gelten sollen. Auf Fälle der Rückführung nach der Dublin II-Verordnung dürfte die Richtlinie jedoch direkt anzuwenden sein (vgl. auch VG Weimar vom 26.01.2011, Az.: 7 B 20005/11 We, asyl.net), da diese während der Prüfung der Beachtlichkeit ihres Asylantrages ausdrücklich keine Aufenthaltsgestattung erhalten.

Als über den sicheren Drittstaat Italien eingereister Asylfolgeantragsteller wurde dem Antragsteller keine Aufenthaltsgestattung erteilt. Ein Asylverfahren wurde nicht eingeleitet, so dass der Aufenthaltsstatus des Antragstellers "Illegal" lautet. Da auf Grund der Abschiebungsanordnung sein Aufenthalt in der Bundesrepublik beendet werden soll, findet die Richtlinie auf diesen Vorgang Anwendung, da es sich insofern um eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie handelt. Auf Grund dieser nunmehr direkt anzuwendenden Richtlinie haben die Mitgliedstaaten dem betreffenden sich illegal aufhaltenden Drittstaatsangehörigen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr einzuräumen (vgl. Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie) bzw. die mit der Überprüfung beauftragte Justiz- oder Verwaltungsbehörde, hier vorliegend das Verwaltungsgericht, hat nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie im Rahmen dieser Überprüfung die Möglichkeit, die Vollstreckung der Entscheidung einstweilig auszusetzen. Dies bedeutet, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG aufgrund des in diesem Bereich vorrangigen Europarechtes nicht anzuwenden ist. Eilrechtsschutz ist statthaft.

b) Dem Antragsteller fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis vor Zustellung des die Abschiebung anordnenden Bescheides. Denn die deutlich zu kritisierende und sich unter der Geltung der genannten Richtlinie (vgl. dort Art. 12 und 13) möglicherweise als rechtswidrig erweisende Praxis des Bundesamtes, den Betroffenen den Bescheid erst direkt vor der tatsächlichen Durchführung der Abschiebung auszuhändigen, führt zu einer nicht zulässigen Verkürzung der dem Betroffenen zustehenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Er muss daher nicht die Zustellung des Bescheides abwarten, sondern kann Eilrechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO beantragen (vgl. auch VG Frankfurt a.M. B. v. 17.01.2011, 9 L 117/11.F.A, asyl.net).

2. Der Antrag hat in der Sache auch Erfolg. Die zum Beschluss einer einstweiligen Anordnung erforderliche Eilbedürftigkeit, der sog. Anordnungsgrund, ist gegeben, da der Antragsteller in Abschiehehaft genommen wurde und Anfang März eine Anmeldung zur Durchführung der Rückschiebung nach Rom erfolgen soll. Der Antragsteller vermag zwar nicht ohne Weiteres das Vorliegen eines vorläufig zu sichernden Anspruchs glaubhaft zu machen. Die Anordnung ergeht aber wegen einer ihm ansonsten drohenden und möglicherweise nicht wieder gutzumachende Reehtsgüterverletzung im Falle sofortiger Rückführung vor Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren.

a) Zum Erlass einer Sicherungsanordnung durch das Gericht müsste der Antragsteller ein ihm zustehendes zu sicherndes Recht dartun können. In einem gegen die Abschiehungsanordnung der Antragsgegnerin gerichteten Hauptsacheverfahren müsste der Antragsteller vorliegend einen Anspruch dahingehend geltend machen können, dass über sein Asylbegehren nicht in Italien, sondern in der Bundesrepublik Deutschland entschieden werden müsste. Eine entsprechende Verpflichtungsklage wäre auf eine Ausübung des sog. Selbsteintrittsrechtes der Bundesrepublik bzw. auf fehlerfreie Ermessensausübung diesbezüglich zu richten. (Die Durchführung eines Asylverfahrens als solches und dessen Erfolgsaussichten sind hier nicht Gegenstand.) Der Antragsteller müsste verlangen könne, dass trotz der Geltung der Verordnung (EG) Nr. 343 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrages zuständig ist (Dublin II VO), nach welcher vorliegend unstreitig Italien für die Durchführung eines den Antragsteller betreffenden Asylverfahrens zuständig ist, eine Rückführung in diesen Drittstaat unterbleiben müsse.

Das Bestehen eines solchen Anspruches gegenüber der Antragsgegnerin ist nach Auffassung des Gerichts derzeit in Bezug auf den sicheren Drittstaat Italien nicht ausreichend dargetan. Grundsätzlich hat der Asylbewerber gegenüber den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union keinen Anspruch darauf, in einem bestimmten Mitgliedsstaat ein Asylverfahren durchlaufen zu können. Vielmehr hat die Europäische Union im Rahmen der als unmittelbar geltendes Recht in der Bundesrepublik anzuwendenden Dublin II-Verordnung die Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Mitgliedstaaten nach bestimmten Kriterien verbindlich geregelt.

Eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum sog. Selbsteintritt, d.h. zur Durchführung eines Asylverfahrens im eigenen Land entgegen den Bestimmungen zur allgemeinen Verteilung, und entsprechend dem Recht der einzelnen Mitgliedstaaten aus Art. 15 Abs. 1 der Dublin II-VO könnte sich ausnahmsweise dann ergeben, wenn Tatsachen vorlägen, aufgrund derer eine Rückführung nach Italien für unzulässig zu erachten wäre. Die in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorn 14.05.1996 (a.a.O.) angeführten Voraussetzungen für eine solche Ausnahme sind jedoch nicht dargetan bzw. im Rahmen dieses Eilverfahrens seitens des Gerichts nicht ausreichend feststellbar. Vorgeblich zu beachten ist, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber selbst (vgl. Art. 16a Abs. 2 GG) die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu sicheren Drittstaaten bestimmt hat (BVerfGE 94, 41, 101). An die Darlegung eines Antragstellers, von einem im sog. "normativen Vergewissenlngskonzept" nicht aufgefangenen Sonderfall betroffen zu sein, sind daher strenge Anforderungen zu stellen (so auch VG Berlin, B. v. 17.01.2011, 33 L 530.10 A).

Sicherlich sind nach der allgemeinen und dem Gericht zur Verfügung stehenden Auskunftslage durchaus Anhaltspunkte für Mängel und Unzulänglichkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren in Italien, insbesondere hinsichtlich der Unterbringung und dem sozialen Schutz und der medizinischen Versorgung gegeben. Andererseits ergibt sich derzeit noch kein den Verhältnissen in Griechenland entsprechendes Bild. Es ist nicht ausreichend dargetan, dass Italien die Vorgaben des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonversion) und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht (mehr) einhält und ein dort durchgeführtes Asylverfahren nicht dem europarechtlich garantierten Asylstandard entspräche. Die entsprechende Rechtsprechung zum Drittstaat Griechenland, auf die der Antragsteller Bezug nimmt, ist auf Italien nicht ohne weiteres übertragbar (vgl. auch VG Regensburg, B. v. 14.01.2011, RO 7 S 11.30018, juris). Zu Recht weist die Antragsgegnerin darauf hin, dass es hinsichtlich des Aufnahmestaates Griechenland Äußerungen und Empfehlungen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt, Asylsuchende nicht an diesen Aufnahmestaat zu überstellen. Solch deutliche Empfehlungen seitens des UNHCR existieren hinsichtlich Italiens als Aufnahmestaat - bislang - nicht: dies auf dem Hintergrund, dass sich verschiedene Organisationen durchaus mit der Situation von Asylbewerbern in Italien befasst haben (vgl. die unter Ziffer 1 genannten Quellen). Andererseits gibt es beachtliche Stimmen, die gravierende Mängel auflisten (vgl. insbesondere Schweizerische Beobachtungsstele a.a.O.; Reisebericht des D. Bender vom 26.11.2010 zu den Bedingungen in Unterkünften in Rom und Turin: Medicins sans frontieres a.a.O.).

Maßstab dafür, ob ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union die von ihm eingegangene Verpflichtung nach der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention erfüllt, sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vor allem folgende Kriterien: Der Schutz Suchende muss die Möglichkeit der Anbringung eines Schutzgesuches haben. Es muss die Pflicht einer zuständigen Stelle gegeben sein, hierüber zu entscheiden. Darüber hinaus muss die Beachtung des Refoulement-Verbots gewährleistet sein (BVerfGE 94, 49; Rdnr. 163 bis 172 bei Juris). Hinsichtlich dieser Kriterien sind Anhaltspunkte, insbesondere in Bezug auf einen staatenlosen Palästinenser aus dem Libanon, nicht ohne Weiteres gegeben. Der Antragsteller hat hierfür selbst auch keine Anhaltspunkte vorgetragen, aus denen sich eine Missachtung von Asylstandards der genannten Form durch Italien in Bezug auf seine oder andere Personen ergeben würde. Es ist auch nicht ersichtlich, dass ihm ohne Prüfung desselben unmittelbar eine Rückschiebung in den Libanon gedroht hätte. Der Antragsteller trägt allerdings vor, die Unzumutbarkeit einer Rückführung seiner Person nach Italien ergäbe sich vor allem aus der Tatsache, dass Asylbewerber in Italien völlig unzureichend untergebracht und versorgt würden, sowohl im laufenden Verfahren als auch nach ihrer Anerkennung oder Zuerkennung von Flüchtlingsstatus. Darüber hinaus gäbe es grobe Unzulänglichkeiten bei der Entgegennahme und Prüfung von Asylanträgen bei Überstellung nach der Dublin II-Verordnung, darüber hinaus auch einen völlig unzureichenden sozialen Schutz und die fehlende Garantie eines Existenzminimums bei Zuerkennung eines Schutzstatus. Vielfach führe die fehlende Unterbringungsmöglichkeit zur Obdachlosigkeit von in Verfahren befindlichen Asylbewerbern, deren Verfahrensdurchführung und Rechtsschutzmöglichkeit mangels Zustellmöglichkeit erheblich gefährdet sei. Es ist dem Antragsteller zuzubilligen, dass es vielfältige Anhaltspunkte für solche Mängel bei der Unterbringung und Behandlung von Asylbewerbern durchaus gibt. Insbesondere spricht auch die jüngste Auskunftslage (Medienbericht) hinsichtlich der in Süditalien anlandenden Flüchtlingsströme aus Nordafrika für eine Verschärfung dieses Problems.

Im Rahmen dieses Eilverfahrens ist es jedoch nicht möglich, diesen Anhaltspunkten nachzugehen und zu klären, ob die tatsächliche Unterbringungs- und Versorgungssituation in ganz Italien und bezogen auf Antragsteller aller Nationen - sowohl bei ihrer Einreise als auch bei ihrer Rückführung - die Missachtung von einzuhaltenden europarechtlichen Asylstandards nahelegt und hierin ein Verstoß gegen die Gewährleistungen der genannten Konventionen zu sehen ist, insbesondere eine Vereitelung von europarechtlich - gerade neuerdings aufgrund der genannten Richtlinie 20080/115/EG - zu gewährenden Rechtsschutzmöglichkeiten. Dies alles muss einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Auch geht aus den Behördenunterlagen kein Gesichtspunkt hervor, aufgrund dessen dem Antragsteller ein Recht auf (erneute und) fehlerfreie Ausübung des Ermessens über einen Selbsteintritt aus humanitären oder sonstigen in seiner Person liegenden Gründen zustehen könnte. Vom Vorliegen eines Anordnungsanspruches kann damit derzeit (noch) nicht ausgegangen werden.

Dem Antragsteller ist jedoch im Rahmen einer ausnahmsweise durchzuführenden Interessenabwägung vorläufiger Rechtsschutz zu gewähren. Zwar ist vorliegend - wie bereits ausgeführt - keine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffen, was aber durch die genannte und zu kritisierende Zustellpraxis der Antragsgegnerin bislang verhindert wurde. Die im Rahmen eines solchen, eigentlich statthaften Antrages vorzunehmende Abwägung ist zur im Einzelfall ausreichenden Rechtsschutzgewährung daher auch im Rahmen des § 123 Abs. 1 VwGO vorzunehmen. Das Gericht trifft an dieser Stelle eine originäre Ermessensentscheidung im Hinblick auf eine Abwägung der beteiligten Rechtsgüter und Interessen. Im Rahmen dieser Abwägung ist zwar zu bedenken, dass nach dem Gesetz einer Klage gegen die Abschiehungsanordnung keine aufschiebende Wirkung zukommen soll (vgl. § 75 AsylVfG), dass die Anordnung aus Gründen des Rechtsgüterschutzes damit die Ausnahme darstellt.

Die Rechtsgüterabwägung ergibt jedoch, dass es dem Antragsteller nicht zuzumuten ist, den Ausgang eines eventuell von ihm anzustrengenden Hauptsacheverfahrens von Italien oder gar seinem Heimatland aus zu verfolgen. Würde er nämlich in einem Hauptsacheverfahren obsiegen, könnten Rechtsbeeinträchtigungen womöglich nicht mehr rückgängig gemacht werden. Angesichts der völlig überlasteten Aufnahmekapazitäten in Italien bestünde die Gefahr, dass der Antragsteller obdachlos bliebe und ihn eine Entscheidung des deutschen Gerichtes nicht mehr erreichen könnte. Darüber hinaus ist unklar, inwieweit er seitens des italienischen Staates direkte Abschiebemaßnahmen in sein Heimatland zu fürchten hätte, so dass er vor einer Entscheidung in der Hauptsache darüber, ob Italien ihm die europarechtlich garantierten Schutzansprüche zukommen lassen wird oder nicht, bereits in sein Heimatland zurückgeführt sein könnte. Dies widerspräche aber dem sich aus der Richtlinie 2008/115/EG ergebenden unmittelbar anzuwendenden Verpflichtung, einen effektiven Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach illegalem Aufenthalt vorzusehen. Soweit ihn ein solcher Rechtsschutz gegenüber einer Abschiebung aus Italien in Italien rechtswirksam zustünde, könnte dies zwar möglicherweise für ausreichend zu erachten sein. Dazu hat das Gericht jedoch keine Erkenntnisse, die auch in der Kürze der Zeit nicht zu erlangen sind. Es spricht jedoch angesichts der neueren Medienberichte gerade zum Verhalten der italienischen Behörden angesichts der Flüchtlingsströme aus Norditalien einiges dafür, dass Italien die Vorgaben der genannten Richtlinie hinsichtlich eines effektiven Rechtsschutzes für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige gegenüber einer Abschiebung derzeit nicht - ausreichend - direkt anwendet.

Das Gericht verkennt nicht, dass der Antragsteller eine in seiner Person begründete besondere Schutzbedürftigkeit eigentlich nicht geltend machen kann. Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte, die die Überstellung von Asyl Suchenden im Rahmen des Dublin II-Verfahrens in jüngster Zeit vorübergehend ausgesetzt haben, so VG Minden (Beschluss vom 22.10.2010, 12 L 284/10.A), VG Darmstadt (Beschluss vom 09.11.2010, 4 L 1455/10.DA.A), VG Weimar, (Beschluss vom 15.12.2010, 5 E 20119/10 We: Familie mit Kindern) und VG Frankfurt/Main (Beschluss vom 02.08.2010, 8 L 1827/10.F.A; B v. 17.01.2011, 9 L 117/11.F.A: erforderliche ärztl. Versorgung) beruhen zumeist auch auf einer besonderen Schutzwürdigkeit der Antragsteller, die das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Rückführung entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zurücktreten lässt. Angesichts des Akteninhaltes spricht auch einiges dafür, dass der Antragsteller in Italien eine Prüfung seines Asylgesuches erhalten hat, so dass die bestehende Gefahr einer baldigen Rückführung in sein Heimatland von Italien aus auch auf (europa-)rechtlich zulässiger Grundlage beruhen könnte und er persönlich damit nicht schützenswert sein könnte. Andererseits ist über die Einhaltung europarechtlicher Grundgewährleistungen in seinem konkreten Fall auch nichts bekannt, insbesondere da der Antragsteller vor dem Bundesamt nicht angehört wurde. Da er bereits zweimal über Griechenland zurückgeschoben wurde, spricht auch einiges dafür, dass eine europarechtlichen Standards genügende Überprüfung seines Asylbegehrens möglicherweise überhaupt noch nicht stattgefunden hat. Ihm ist daher trotz fehlender besonderer persönlicher Schutzwürdigkeit dennoch wegen der vielen Hinweise auf möglicherweise mangelhafte und europarechtswidrige Verhältnisse bei Durchführung der Asylverfahrens in Italien (siehe die vom Antragstellerbevollmächtigten benannten Erkenntnisquellen) die Möglichkeit einzuräumen, das Ergebnis eines Hauptsacheverfahrens in der Bundesrepublik abzuwarten.

Die Nachteile, die der Antragsgegnerin dadurch entstehen, dass die einstweilige Anordnung ergeht, wiegen demgegenüber weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von effektivem einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik (vgl. hierzu ausführlich: VG Minden, B. v. 28.09.2010, 3 L 491/10.A; juris). [...]