VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Beschluss vom 16.03.2011 - 1 L 198/11.GI.A - asyl.net: M18358
https://www.asyl.net/rsdb/M18358
Leitsatz:

1. Für die Stellung eines förmlichen Asylantrags im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Dublin II-VO ist das BAMF beweispflichtig.

2. Vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Italien, da schwerwiegende Bedenken bestehen, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den Kernanforderungen des EU-Rechts entspricht; in großen Teilen Italiens werden ferner die Mindestanforderungen für die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU nicht erfüllt. Die Entscheidung enthält eine umfangreiche Quellenauswertung bzgl. Italiens (wie VG Gießen, Beschluss vom 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A - (asyl.net, M18359).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, einstweilige Anordnung, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, sichere Drittstaaten, Konzept der normativen Vergewisserung, Asylantrag, Aufnahmebedingungen, medizinische Versorgung, besonders schutzbedürftig, effektiver Rechtsschutz
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 10 Abs. 1, AsylVfG § 36 Abs. 3 S. 1, GG Art. 16a Abs. 2, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1, RL 2005/85/EG Art. 36 Abs. 3 Bst. a, RL 2005/85/EG Art. 27, RL 2005/85/EG Art. 35 Abs. 3 Bst. a, RL 2005/85/EG Art. 13 Abs. 2, RL 2005/85/EG Art. 13 Abs. 3, RL 2003/9/EG Art. 14 Abs. 8, RL 2003/9/EG Art. 15 Abs. 1, RL 2003/9/EG Art. 15 Abs. 2, RL 2003/9/EG Art. 17 Abs. 1, RL 2003/9/EG Art. 20
Auszüge:

[...]

Der Antrag ist auch in der Sache erfolgreich, denn der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Der Anordnungsgrund ergibt sich vorliegend schon aus den oben dargelegten Gründen zum Rechtsschutzbedürfnis. Auch ein Anordnungsanspruch liegt vor, denn es bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Anordnung der Abschiebung des Antragstellers nach Italien aufgrund der Dublin-II-Verordnung.

Dabei kann zunächst dahinstehen, ob der Antragsteller in Italien überhaupt wirksam einen Asylantrag gestellt hat, wie das Bundesamt mit Hinweis auf die Eurodac-Mitteilung auf Bl. 1 der Behördenakte - BA - vorträgt. Für die Stellung eines förmlichen Asylantrags im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Dublin-II-Verordnung ist das Bundesamt beweispflichtig; allein die Tatsache, dass der Antragsteller in Italien als "Illegaler" erfasst wurde, beweist nicht, dass er dort auch einen Asylantrag gestellt hat. Diese Zweifel verstärken sich aufgrund der Minderjährigkeit des Antragstellers, denn ohne entsprechenden gesetzlichen Vertreter konnte er keinen wirksamen Asylantrag in Italien stellen (vgl. VG Frankfurt, Beschluss vom 02.08.2010 - 8 L 1827/10.F.A -, AuAS 2010, 212). Auch dürfte die Zuständigkeit Italiens - selbst bei Unterstellung eines dort gestellten förmlichen Asylantrags des Antragstellers - nach der Dublin-II-Verordnung bereits erloschen sein. Aus der Eurodac-Mitteilung vom 10.09.2010 ergibt sich, dass der Antragsteller in Italien am 30.05.2008 aufgegriffen (und erkennungsdienstlich behandelt) wurde. Damit dürfte die Zuständigkeit Italiens gem. Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin-II-Verordnung spätestens am 30.05.2009 geendet haben und damit deutlich über ein Jahr vor dem Übernahmeersuchen an Italien.

Im Rahmen des Eilverfahrens bedürfen diese Fragen jedoch keiner abschließenden Klärung, denn der Eilantrag hat bereits aus einem anderen Grund Erfolg.

Es bestehen nämlich schwerwiegende Bedenken, ob die Praxis der Durchführung von Asylverfahren in Italien den oben zitierten Kernanforderungen des EU-Rechts entspricht. [...]