Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien.
[...]
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig und begründet.
Der begehrten Anordnung steht bei der im vorliegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung nicht die Ausschlussklausel des § 34a Abs. 2 AsylVfG entgegen. Danach darf eine Abschiebung u.a. dann nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden, wenn ein Ausländer nach § 34a Abs. 1 AsylVfG in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll.
Der Antragsteller soll nach Italien abgeschoben worden. Die Antragsgegnerin hat Italien formell ordnungsgemäß um Übernahme des Antragstellers nach Art. 18 Dublin II-VO ersucht und die italienischen Behörden haben mit Schreiben vom 7. Dezember 2010 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Damit ist zugleich der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag des Antragstellers nach § 27a AsylVfG unzulässig, weil ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. [...]
Andererseits ist auch anerkannt, dass vom normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht erfasste Sonderfälle vorliegen können, die (ausnahmsweise) eine andere Beurteilung rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/92 -, BVerfGE 94,49 (102)).
Ein entsprechender Sonderfall ist auch dann in Betracht zu ziehen, wenn ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in dem als Zielstaat der Abschiebung vorgesehenen anderen Mitgliedstaat die flüchtlingsrechtlichen Gewährleistungen und die asylrechtliche Verfahrenspraxis nicht an die zu fordernden und bei Einfügung des § 27a AsylVfG vorausgesetzten unions- bzw. völkerrechtlichen Standards heranreichen. Insofern kann die feststellbare Verletzung von Kernanforderungen des europäischen Rechts, die mit einer Gefährdung des Betroffenen insbesondere in seinem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art.2 Abs. 2 Satz 1 GG einhergeht, ein solcher Sonderfall sein, bei dem ausnahmsweise Eilrechtsschutz möglich und zulässig sein muss (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 10. März 2011 - 1 L 468/11.GI.A -, abrufbar in JURIS, Rdnr. 19 mit weiteren Nachweisen).
Ob dies hier der Fall ist, lässt sich nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen. Zwar hat Italien - soweit ersichtlich - alle europarechtlich vereinbarten Standards zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht umgesetzt, doch mehren sich die Hinweise darauf, dass die tatsächlichen Verhältnisse von den normativen Vorgaben erheblich abweichen (vgl. Bethke/Bender, Bericht über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010, vom 29. November 2010 und Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittstaat" Italien, November 2009, abrufbar unter www.beobachtungsstelle.ch).
Diesen Berichten ist ebenso wie diversen Presseartikeln (vgl. die Zitate im Beschluss des VG Gießen, a.a.O. oder die unter www.amnesty.de unter dem Suchwort Italien abrufbaren Presseberichte) zu entnehmen, dass es in Italien in der Vergangenheit u.a. im Zusammenhang mit der Zurückschiebung von Asylbewerbern nach Libyen, Marokko oder Tunesien fraglich war, ob Asylsuchende ihre Asylgründe uneingeschränkt vorbringen konnten. Es erscheint auch angesichts des Umstandes, dass häufig keine die Muttersprache des Asylsuchenden beherrschenden Dolmetscher bei Anhörungen anwesend waren und dass Botschaftsangehörige des Herkunftslandes bei Anhörungen hinzugezogen worden sind, zweifelhaft, ob das Asylverfahren den erforderlichen Standards genügt. Zudem sind nach den vorliegenden Berichten die Aufnahmekapazitäten für Flüchtlinge und das staatliche Versorgungs- und Gesundheitssystem in Italien nicht ausreichend, so dass zahlreiche Flüchtlinge obdachlos geworden sind und keine ausreichende medizinische Versorgung erhalten. Es bestehen daher ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass die Mindestnormen, welche die EU an die Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge und die Aufnahme- und Lebensbedingungen für Flüchtlinge (Art. 13 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern) stellt, in Italien nicht in ausreichendem Maße erfüllt werden. Diese bekannt gewordenen Informationen rechtfertigen es jedenfalls, einen Sonderfall im oben genannten Sinne in Erwägung zu ziehen (vgl. für eine Untersagung von Rückführungen nach Italien: VG Freiburg, Beschluss vom 24. Januar 2011 - A 1 K 117/11 -, VG Gießen, Beschluss vom 10. März 2011 - 1 L 468/11.GI.A und VG Köln, Beschluss vom 10. Januar 2011 - 20 L 1920/10.A -,VG; ablehnend: VG des Saarlandes, Beschluss vom 25. Januar 2011 - 5 L 46/11 - und VG Magdeburg, Beschluss vom 31. Januar 2011 - 5 B 40/11 - und VG Ansbach, Beschlüsse vom 20. Januar 2011 - AN 9 E 10.30523 - und vom 26. Januar 2001 - AN 9 E 10.3522 -; alle Entscheidungen abrufbar in JURIS und mit weiteren Nachweisen auf weitere untergerichtliche Entscheidungen in Eilverfahren).
Dies gilt zumal unter Berücksichtigung der gerichtsbekannten neueren Entwicklung in den nordafrikanischen Staaten, die bereits jetzt zu einer deutlichen Zunahme der Zahl der Asylsuchenden in Italien (Stichworte "Lampedusa" und "Bootsflüchtlinge") geführt haben und Befürchtungen des Entstehens einer "Flüchtlingswelle" haben aufkommen lassen, so dass jedenfalls eine alsbaldige Verbesserung nicht zu erwarten ist. Es lässt sich daher nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausschließen, dass die Verhältnisse in Italien die Annahme eines Sonderfalles im oben genannten Sinne im Wege einer verfassungsgemäße Auslegung des § 34a Abs,2 AsylVfG rechtfertigen.
Sind daher auch angesichts der nicht einheitlichen Rechtsprechung zumindest die Erfolgsaussichten offen, so ist hier die begehrte Anordnung zu erlassen. Denn bei einer Ablehnung droht dem Antragsteller bereits am 28. März 2011, d.h. in 3 Tagen, die Abschiebung. Im Falle einer Rückschiebung nach Italien droht ihm nach dem Vorhergesagten ggf. die Obdachlosigkeit, so dass nicht sichergestellt wäre, dass er ausreichenden Rechtsschutz - nach Zustellung des bisher nur im Entwurf vorliegenden Bescheides des Bundesamtes - erlangen kann. Diese mit einer Rückschiebung verbundenen Rechtsbeeinträchtigungen könnten zu irreparablen Nachteilen führen, die die mit einer weiteren Anwesenheit des Antragstellers verbundenen Nachteile für die Bundesrepublik Deutschland überwiegen. Diese Nachteile der Antragsgegnerin erschöpfen sich im wesentlichen im Interesse an der Vermeidung finanzieller Folgelasten und dürften dadurch begrenzt sein, dass im Falle einer erfolglosen Durchführung eines Hauptsacheverfahrens und der damit verbundenen Bestandskraft der noch nicht bekannt gegebenen Entscheidung des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Antrages eine Überstellung nach Italien innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist möglich sein dürfte. Durch die befristet erlassene Anordnung erhält die Antragsgegnerin insofern die Möglichkeit, entweder von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen oder konkrete Garantien Italiens für den Antragsteller zu erwirken, dass sein Asylantrag nach einer Überstellung umgehend von den italienischen Behörden nach den unions- und völkerrechtlichen Standards bearbeitet wird und dass der Antragsteller eine angemessene Unterkunft und im Bedarfsfall medizinische Versorgung erhält. [...]