Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG wegen Teilnahme an Demonstrationen gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen in Berlin. Es besteht konkrete Foltergefahr in Syrien, auch wenn der Kläger sich nicht exponiert exilpolitisch engagiert hat.
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II. Der Bescheid vom 27.7.2001 war hinsichtlich der darin getroffenen Feststellung zu § 53 AuslG dahingehend abzuändern, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG bezüglich Syriens besteht.
Nach § 60 Abs. 2 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Ausländer, die wie der Kläger ihr Heimatland unverfolgt verlassen haben (s.o.), genießen Abschiebungsschutz nur, wenn ihnen bei verständiger, nämlich objektiver, Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei der Rückkehr in ihr Heimatland die genannte Gefahr konkret droht (vgl. BVerwG, B. v. 13.8.1990, 9 B 100/90, NVwZ-RR 1991, 215). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ist dann anzunehmen, wenn bei zusammenfassender Bewertung die für eine solche Rechtsgutverletzung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht haben und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen; maßgeblich ist in dieser Hinsicht letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, 9 C 118.90, NVwZ-RR 1991, 215).
Gemessen an diesen Maßstäben droht dem Kläger nach den zum Gegenstand der Entscheidung gemachten Erkenntnisquellen derzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit eine konkrete Gefahr im obigen Sinn.
1.) Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010 (Seite 19 f.) sind bis einschließlich März 2010 insgesamt 40 Personen mit syrischer Staatsangehörigkeit von Deutschland nach Syrien im Rahmen des Anfang 2009 in Kraft getretenen deutsch-syrischen Rückübernahmeabkommens zurückgeführt worden. In der Regel erfolgt nach der Einreise zurückgeführter Personen eine Befragung durch die syrische Einwanderungsbehörde und durch die Sicherheitsdienste. In manchen Fällen werden die Betroffenen für die folgenden Tage nochmals zu einer Befragung einbestellt. In Einzelfällen werden Personen für die Dauer einer Identitätsprüfung durch die Einreisebehörden festgehalten. In drei Fällen (bei einem handelt es sich um eine Familie) sind im Jahre 2009 Inhaftierungen unmittelbar bzw. kurz nach der Rückführung bekannt geworden. In einem der Fälle wurde die Person sieben Tage lang in der Geheimdienststelle ihres Heimatorts inhaftiert und verhört sowie danach unmittelbar an die Erste Staatsanwaltschaft nach Damaskus überstellt. Im Februar 2010 wurde sie dann wegen "Verbreitung bewusst falscher Tatsachen im Ausland, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind", von einem Militärgericht zu einer Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldstrafe verurteilt. Nach Angaben des Anwalts sowie des Betroffenen stützen sich die Anklage und das Urteil auf den Vorwurf, er habe in Deutschland an einer Demonstration gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen teilgenommen. Nach seinen - vom Auswärtigen Amt bisher nicht verifizierbaren - Angaben wurde er während seiner Haft durch syrische Behördenmitarbeiter körperlich misshandelt (zur Gewalt- und Folteranwendung durch Polizei, Justizvollzugsorgane und Sicherheitsdienste im Allgemeinen: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.9.2010, Seite 16).
Dieses Geschehen verifiziert die Stellungnahme des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (= EZKS) vom 19. Mai 2010 an die Republik Österreich: Danach ist der Beschuldigte nach eigenen Angaben während der Verhöre durch Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes beschimpft, geohrfeigt sowie mit Kabeln auf die Füße und andere Körperteile geschlagen worden. Zentral während dieser Verhöre war die Frage, ob er an einer Kundgebung am 10.12.2008 in Berlin gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen teilgenommen hat. Vor Gericht ist ihm die Frage nach dieser Teilnahme erneut gestellt worden. Dem EZKS liegt eine Kopie des Verhörprotokolls vom 27.9.2009 durch Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes vor. Danach waren die zwei wesentlichen Themen des Verhörs der Asylgrund und die Teilnahme an der Kundgebung in Berlin. Darüber hinaus finden sich die Namen von insgesamt fünf weiteren Kurden im Protokoll, die der Beschuldigte als weitere Teilnehmer an der Veranstaltung benannt hat. Die zu beiden Themen gesammelten Informationen wurden am 30.9.2009 vom Staatssicherheitsdienst an die Erste Staatsanwaltschaft in Damaskus weitergeleitet. Dies unterstreiche nach Einschätzung des EZKS die ihnen zugemessene Bedeutung. Aus den zitierten Dokumenten geht nach deren Einschätzung eindeutig hervor, dass der Geheimdienst und die Justiz in Syrien sich für das exilpolitische Engagement abgeschobener Kurden interessieren, dass in Geheimdienstverhören nach diesbezüglichen Informationen gefragt wird und sie an die Justiz weitergeleitet werden. Die Stellungnahme kommt zum Ergebnis, dass anhand der recherchierten Fälle aus Sicht der syrischen Sicherheitsbehörden "auch niedrigschwellige exilpolitische Tätigkeit relevant ist und ein Grund für Inhaftierungen sein kann". Syrische Sicherheitsbehörden inhaftieren nach der Stellungnahme Personen auch aufgrund der Angaben Dritter. Hierbei kann es sich um Aussagen in Geheimdienstverhören, aber auch um eigens an die syrische Botschaft gelieferte Berichte über angeblich exilpolitisch aktive Personen handeln. Derartige Berichte liegen nach der Stellungnahme dem EZKS im Original vor; sie wurden aus Syrien zugesandt, stammen jedoch ursprünglich aus Deutschland.
Für die realistische Einschätzung der Lage in Syrien durch die Stellungnahme des EZKS spricht vor allem, dass darin nicht nur Aussagen vom Hörensagen, sondern auch Geheimdienstprotokolle u.ä. verwertet wurden. Zudem ist nicht von einer übertriebenen Einschätzung der drohenden Gefahren auszugehen. Die beiden die Stellungnahme erstellten Experten haben in einer Stellungnahme vom 21.11.2008 gegenüber dem Verwaltungsgericht Magdeburg die Gefahrenlage für "am unteren Rand" exilpolitisch engagierte Personen noch bedeutend niedriger eingeschätzt und sind davon ausgegangen, dass die Teilnahme an bestimmten antisyrischen Demonstrationen in Deutschland nicht zu einer Verfolgung in Syrien führt. Erst aufgrund der neuen oben dargestellten Erkenntnisse, die auch zu zwei ad-hoc Ergänzungsberichten des Auswärtigen Amtes führten (v. 28.12.2009 und 7.4.2010), revidierten sie ihre bisherige Einschätzung.
2.) Nach Überzeugung des Gerichts hat der Kläger an den Kundgebungen am 12.3.2009, 27.1.2010 in Berlin und am 13./14.6.2010 in München teilgenommen. Die Teilnahme an den Demonstrationen am 27.1.2010 und 13./14.6.2010 ist mit authentischen Lichtbildern, ersterer auch mit einer Teilnahmebestätigung des Bayerischen Flüchtlingsrates belegt. Zudem waren die diesbezüglichen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung substantiiert und schlüssig. Das Gericht ist im Hinblick auf Veranstaltungsort und -dauer, Teilnehmerzahl, sowie Veranstalter auch davon überzeugt, dass die Kundgebungen ein nicht unerhebliches Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen haben und die Teilnehmer fotografiert und gefilmt wurden, zumal sie sich vor allem am 27.1.2010 längere Zeit vor der syrischen Botschaft aufhielten. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass einzelne Bild- und Videodokumente der Kundgebungen im Internet frei zugänglich sind sowie der Kläger von anderen Kundgebungsteilnehmern identifiziert werden kann.
3.) Auch wenn der Kläger keinesfalls in herausgehobener Position exilpolitisch tätig war, besteht nach Überzeugung des Gerichts in Anbetracht der beschriebenen aktuellen Auskunftslage für den Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine konkrete Gefahr in Syrien der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung, namentlich seiner mehrmaligen Teilnahme an öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen gegen das deutsch-syrische Rückübernahmeabkommen und den syrischen Staat, ergibt sich für das Gericht ein Bild, dass den Kläger in den Augen des syrischen Staates als einen auch in der Öffentlichkeit wirkenden Opponenten erscheinen lässt, dem angesichts der Art der bedrohten Rechtsgüter bei qualifizierender Betrachtungsweise (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.11.1991, 9 C 118.90. BVerwGE 89, 162) eine Rückkehr nach Syrien gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zugemutet werden kann. Hinzu kommt im Rahmen der Gesamtschau zudem, dass er sich bereits elf Jahren außerhalb Syriens aufhält, in Deutschland im Jahre 2000 Asyl beantragt hat sowie mit der Yekiti-Partei sympathisiert und diese - wenn auch nur geringfügig - unterstützt.
Im Hinblick auf die gebotene Gesamtbetrachtung sind wegen des inneren Sachzusammenhangs auch die vor Beginn der Dreimonatsfrist des § 51 Abs. 3 VwVfG liegenden exilpolitischen Aktivitäten des Klägers mit einzubeziehen. Insoweit handelt es sich nämlich um unselbständige Teile eines Gesamtverhaltens (vgl. Marx, AsylVfG, 4, Aufl., § 71, Rn. 113 m.w.N.).
Nach allem war der Klage teilweise stattzugeben. Vor allem aufgrund der Bedeutung des erfolgreichen und nicht erfolgreichen Teils war es angemessen, die Kosten des Verfahrens den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83 b AsylVfG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO. [...]