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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 22.02.2011 - A 5 K 1830/09 - asyl.net: M18407
https://www.asyl.net/rsdb/M18407
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen schwerer psychischer Erkrankung. Einzelfallentscheidung, offen bleibt, ob in Syrien allgemein die Behandlung psychischer Erkrankungen möglich und ausreichend ist.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Abschiebungsverbot, Syrien, Asylfolgeantrag, psychische Erkrankung, Depression, dissoziative Störung, Traumatisierung, Störung der Persönlichkeitsentwicklung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 71 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die allein auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gerichtete Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach dieser Vorschrift (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). [...]

Unter Berücksichtigung dessen ist beim Kläger ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Syriens anzunehmen.

Der Kläger hat, nachdem er zunächst unter falschem Namen ein Asylverfahren durchgeführt und jahrelang unter falschem Namen in Deutschland gelebt hat, sich gegenüber seinem behandelnden Arzt Dr. med. ... 2008 erklärt und ihm die ihn seit seinem 11. Lebensjahr belastenden Umstände offenbart. Auch wenn für das Gericht noch Zweifel verbleiben, kann doch, zumal die Angaben des Klägers bezüglich seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft aufgrund der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2010 als wahr angesehen werden können, davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Alter von 11 Jahren vergewaltigt wurde und dieses Geschehen ihn noch heute nachhaltig belastet. So hat der Kläger im Wesentlichen widerspruchsfrei vor seinem Arzt, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie dem Gericht ausgeführt, dass er im Alter von 11 Jahren im Beisein eines Verwandten von einem Mann vergewaltigt worden sei und er in der Folgezeit mit ständigen Beleidigungen und Belästigungen sowohl seiner Familie wie auch anderen Personen, denen diese Umstände bekannt geworden sind, konfrontiert wurde. Der Kläger hat weiterhin auch vom einem kurzfristigen Gefängnisaufenthalt berichtet, bei dem er von der Polizei verprügelt worden sei. Die Belästigungen und Nachteile durch andere Personen hätten auch nach seinem Wegzug nach Damaskus angehalten. Aus den Angaben des Dr. ..., Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, in seinen fachärztlichen Bescheinigungen und Stellungnahmen vom 06.04.2008, 01.07.2008, 13.06.2009, 14.07.2010 und 01.02.2011 wurde im Wesentlichen dargelegt, dass der Kläger an einer depressiven Störung mit Suizidgefährdung (ICG 33.9) und dissoziative Störung (F 44.9) auf dem Boden einer sekundären, durch mehrfache schwere Traumatisierungen im Jugendalter ausgelöste Störung der Persönlichkeitsentwicklung F 62.9) leide. Bei dem Kläger bestehe eine schwere seelische Störung, die sich symptomatisch zunächst im Bereich der Affektkontrolle (Selbstverletzungen) und Beziehungsfähigkeit zeige; dahinter seien aber auch kognitive Störungen nachweisbar und als Folge der traumatischen Vorgeschichte Identitätsstörungen, insbesondere auch im sexuellen Bereich. Diagnostisch handele es sich nicht um eine "Anpassungsstörung", sondern um eine schwere Traumafolgestörung mit ausgeprägter depressiver und dissoziativer Symptomatik auf dem Boden einer sequenziellen Traumatisierung. Derartige schwere Störungen der Ich-Entwicklung und Persönlichkeitsstruktur seien nur unter sicheren äußeren Bedingungen und von Behandlern mit ausreichenden Kenntnissen hinsichtlich derartiger Krankheitsbilder mit Aussicht auf Erfolg behandelbar. Eine allgemeine psychiatrische Grundversorgung sei hier unzureichend (Stellungnahme des Dr. ... vom 14.07.2010). Insgesamt sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer durch schwere traumatische Ereignisse (Vergewaltigung, Misshandlung, Verlust des sozialen Bezugs) in der pubertären und adoleszenten Entwicklung ausgelösten Störung der Persönlichkeit auszugehen, wobei symptomatisch-affektive, kognitive und soziale (Störungen) nachweisbar seien. Im Behandlungsverlauf habe sich bestätigt, dass die vom Kläger gemachten biografischen Angaben, insbesondere hinsichtlich der beschriebenen traumatischen Lebensereignisse konstant, beständig und zentraler Bezugspunkt in der Therapie seien. Es könne kein vernünftiger Zweifel an der lebensgeschichtlichen Realität dieser Erfahrungen bestehen. Bei Abbruch der jetzt Halt gewährenden und einer Entwicklung ermöglichenden Behandlung sei mit einer deutlichen Verschlechterung zu rechnen, im Fall des Eintritts eines Behandlungsabbruchs zusammen mit einem Verlust des jetzt erworbenen sozialen Bezugs sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mit einem weitgehenden dauerhaften Verlust der jetzt erreichten psychischen Fähigkeiten zu rechnen. Dabei sei insbesondere hinsichtlich Syriens mit einer besonderen Erschwernis zu rechnen, da den Kläger dort in besonderer Weise eine Konfrontation mit der mit der sexuellen Misshandlung verbundenen Verachtung durch die Familie und andere soziale Umstände erwarte.

Dr. ... hat insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass bei einer Rückführung des Klägers eine Fortführung der begonnenen Therapie nicht mehr möglich sei und ein Abbruch der Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Rückfall in die diagnostizierte Krankheit bedeute. Ob dabei allgemein die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Syrien möglich und ausreichend ist, kann unter diesen Umständen dahinstehen. Zwar ist im Lagebericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien (Stand September 2010) vom 27.09.2010 ausgeführt, dass für psychisch kranke Personen, die nach der Einreise eine unmittelbare psychiatrische Betreuung benötigen bzw. der stationären Aufnahme in einer psychiatrischen Behandlungseinrichtung bedürfen, eine kostenfreie Unterbringung im Staatlichen Psychiatrischen Krankenhaus in Damaskus bestehe, das allerdings humanitären Standards nicht genüge. Insbesondere könne nicht bestätigt werden, dass Einweisung und Entlassung nach nachvollziehbaren Regeln erfolgen. Eine Unterbringung in privaten Behandlungseinrichtungen sei gegen entsprechende Bezahlung grundsätzlich möglich, ob eine Aufnahme erfolgen könne, sei vom jeweiligen Einzelfall abhängig. Wenig aussagekräftig ist auch die Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Damaskus vom 22.01.2006 an das Verwaltungsgericht Koblenz, wonach es eine psychotherapeutische Behandlung gebe. Diese könne in staatlichen Krankenhäusern kostenlos sein. In privaten Krankenhäusern sei sie kostenpflichtig. Da hier aber die konkrete Gefahr für Leib und Leben im Abbruch der derzeitigen regelmäßigen psychotherapeutischen Behandlung bei einer Abschiebung in seinen Heimatstaat zu sehen ist und jedenfalls zum Zeitpunkt einer Abschiebung in Syrien nach den Angabe des Dr. ... nicht mehr mit Erfolg fortgeführt werden kann, dem Kläger dann aber wegen seiner psychischen Erkrankung eine erhebliche Gesundheitsgefährdung droht, ist derzeit von einer Gefährdung i.S. des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG noch auszugehen. Der Klage war daher stattzugeben. [...]