VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 01.03.2011 - 2 K 835/09 - asyl.net: M18409
https://www.asyl.net/rsdb/M18409
Leitsatz:

Auch heute keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgungsmaßnahmen im Libanon für Personen, die vor Jahren wegen (unterstellter) anti-syrischer Bestrebungen in das Visier des syrischen Geheimdienstes bzw. der Baath-Partei geraten waren. Der syrische Staat ist zu Verfolgung im Libanon - wenn auch nunmehr inoffiziell - weiterhin in der Lage. Der Widerrufsbescheid des BAMF wird daher aufgehoben.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Libanon, Wegfall der Umstände, Änderung der Sachlage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1, GFK Art. 1 C Nr. 5, RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. e, RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 1 Bst. f, RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. c
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes der Beklagten vom 13.08.2009 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts sind die Voraussetzungen für einen Widerruf der mit Bescheid vom 18.02.2003 aufgrund rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts des Saarlandes vom 28.11.2002 - 11 K 56/01.A - getroffenen Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Libanon vorliegen, nicht gegeben. [...]

Vor diesem Hintergrund liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf derzeit nicht vor.

Zwar haben die sich zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führenden Umstände im Heimatland der Kläger mit dem offiziellen Rückzug der syrischen Streitkräfte und Sicherheitsdienste Mitte des Jahres 2005 aus dem Libanon durchaus erheblich und nicht nur vorübergehend geändert. Mit Blick auf die von der 11. Kammer des erkennenden Gerichts seinerzeit festgestellten Verfolgungsgründe kann aber gegenwärtig nicht mit der erforderlichen hinreichenden Sicherheit ausgeschlossen werden, dass den Klägern erneut Verfolgungsmaßnahmen drohen.

Die 11. Kammer hat seinerzeit festgestellt, dass die Kläger den Libanon aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung verlassen hätten sowie des Weiteren nicht ausgeschlossen werden könne, dass ihnen bei Rückkehr in den Libanon erneut politische Verfolgung drohe. Der Kläger zu 1. habe glaubhaft geschildert, dass ihm die syrische Baath-Partei das Architekturstudium durch Übernahme der Studiengebühren teilfinanziert habe und schließlich im März 1999 von ihm verlangt habe, sein Wissen in ihre Dienste zu stellen, um geplante Aktivitäten im Südlibanon zu unterstützen. Infolge seiner Weigerung sei er inhaftiert und gefoltert worden. Die Klägerin zu 2. sei als Parteimitglied nach ihrem Umzug in den Libanon und der Befehlsverweigerung ihres Ehemannes intensiver Überwachung seitens der syrischen Baath-Partei und des syrischen Geheimdienstes ausgesetzt gewesen, immer wieder zur Parteitreue und Mitarbeit aufgefordert und dabei regelrecht unter Druck gesetzt worden.

Aus heutiger Sicht ist daher ausgehend von der damals festgestellten Verfolgungssituation zu prüfen, ob die Kläger heute vor einem Zugriff der syrischen Baath-Partei oder des syrischen Geheimdienstes im Libanon sicher wären bzw. seitens libanesischer Behörden ausreichend geschützt würden. Dies vermag das Gericht nicht mit der erforderlichen Überzeugung festzustellen.

Zur Begründung ihres Bescheides hat sich die Beklagte im Wesentlichen unter Bezug auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.03.2008 - in Dok. Libanon - darauf berufen, nach 29 Jahren Besatzung seien die Syrer endgültig aus dem Libanon abgezogen. Ferner ist in dem Bescheid die politische Entwicklung seither dargestellt und ausgeführt, die politische Situation im Libanon habe sich deutlich verbessert. Ein Bezug zu dem Verfolgungsschicksal der Kläger wird aber nicht hergestellt, insbesondere verhält sich der Bescheid weder zu einem Agieren des syrischen Geheimdienstes noch zu der Frage einer syrischen Einflussnahme über offizielle Stellen und sonstige pro-syrische Gruppierungen.

Aus dem für die Kammer maßgeblichen aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 19.03.2010 - in Dok. Libanon - ist zu entnehmen, dass derzeit keine politischen Häftlinge bekannt seien. Die verschiedenen Sicherheitsdienste hätten in der Vergangenheit immer wieder willkürliche und rechtswidrige Festnahmen ohne gültige Haftbefehle sowie Hausdurchsuchungen vorgenommen; diese Praxis komme seit dem Abzug der syrischen Streitkräfte und Sicherheitsdienste 2005 kaum noch vor. Allerdings halte Syrien weiterhin eine unbekannte Anzahl libanesischer Staatsbürger fest (nach belastbaren Schätzungen mindestens 270), die im Verlaufe der letzten 15 Jahre aus dem Libanon nach Syrien verbracht und dort zumeist ohne Anklageerhebung inhaftiert worden seien. Dies vor dem Hintergrund, dass Personen oder Gruppen, die gegen syrische Interessen gehandelt hätten, in der Vergangenheit mit Verfolgung und Straf- bzw. Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen gehabt hätten. Ungeklärt seien die Hintergründe mehrerer Mordversuche und Morde in der Zeit zwischen Oktober 2004 und Dezember 2007, wobei alle Ermordeten durch ihre anti-syrischen Positionen bekannt gewesen seien. Ende 2008 habe der militärische Nachrichtendienst in Tripolis ein Mitglied einer syrischen Oppositionsgruppe verhaftet. Die Behörden hätten angegeben, ihn am Folgetag entlassen zu haben, doch sei der Betroffene seitdem verschollen und nicht auszuschließen, dass er nach Syrien verschleppt worden sei (Seiten 10, 14, 17 und 20 des Lageberichts).

Aus der Veränderung der allgemein-politischen Lage lässt sich zwar schließen, dass eine Gefährdung der Kläger heute deutlich geringer sein dürfte als zur Zeit ihrer Ausreise bzw. des stattgebenden Urteils der 11. Kammer des Gerichts im Jahr 2002. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Kläger bei einer heutigen Rückkehr vor erneuten Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher wären. Es ist vielmehr nicht auszuschließen, dass auch unter den heutigen Gegebenheiten Personen, die vor Jahren in das Visier des syrischen Geheimdienstes bzw. der Baath-Partei geraten waren, noch wegen (unterstellter) anti-syrischer Bestrebungen belangt werden. Ersichtlich ist der syrische Staat dazu in seinem Nachbarland Libanon - wenn auch nunmehr inoffiziell - weiter in der Lage. Dabei mag sich der syrische Staat durchaus der Unterstützung der Hisbollah bedienen, deren Miliz in Teilen des Libanon die beherrschende Ordnungsmacht darstellt und die mit Ministern im Kabinett vertreten ist. Hinzu kommt der ohne Weiteres naheliegende Einsatz geheimdienstlicher Mittel, um die syrischen Interessen im Libanon zu wahren. Anhaltspunkte dafür, dass der libanesische Staat den Klägern vor etwaigen Zugriffen effektiven Schutz gewähren könnte, vermag die Kammer nicht zu erkennen (vgl. ebenso Urteile des VG Meiningen vom 08.06.2010 - 2 K 20109/09 ME - sowie des VG Düsseldorf vom 27.09.2010 - 21 K 1441/07.A - jeweils juris).

Nach allem fehlt es an positiven Feststellungen darüber, dass die Kläger bei einer Rückkehr in den Libanon nunmehr vor der erlebten Verfolgung hinreichend sicher wären, was zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führt. [...]