VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Beschluss vom 08.04.2011 - 5 L 429/11.TR - asyl.net: M18432
https://www.asyl.net/rsdb/M18432
Leitsatz:

Vorläufige Aussetzung einer Dublin-Überstellung nach Italien wegen schwerer psychischer Erkrankung und Suizidgefahr.

1. Die Kammer hält an ihrer Rechtsprechung fest, dass vorläufiger Rechtsschutz bei Dublin-Überstellungen nach Italien grundsätzlich statthaft ist, macht hier jedoch eine Ausnahme wegen erheblicher individueller Gründe.

2. Rechtsschutz ist gegen das BAMF und die Bundespolizei (BPol) zu gewähren, wobei dahingestellt bleiben kann, ob überhaupt eine doppelte Antragsgegnerschaft vorliegt, da beide Bundesbehörden zum Zuständigkeitsbereich des Bundesinnenministeriums gehören. Die Zuständigkeit der BPol ist nicht dadurch entfallen, dass aus der Zurückschiebungshaft ein Asylantrag gestellt wurde; da aber nach § 4 AsylZBV das Verfahren in die Zuständigkeit des BAMF übergehen kann und dieses eine Stellungnahme abgegeben hat, ohne sich auf die fehlende Zuständigkeit zu berufen, erscheint es angezeigt, auch dem BAMF gegenüber eine einstweilige Anordnung auszusprechen.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, örtliche Zuständigkeit, Abschiebungshaft, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Suizidgefahr, erhebliche individuelle Gefahr, Zurückschiebung, Bundespolizei, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, grenznaher Raum, unerlaubte Einreise,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, VwGO § 52 Nr. 2 S. 3, AsylVfG § 14 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AsylVfG § 56 Abs. 1 S. 2, VwGO § 78 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 71 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 57 Abs. 1, AsylVfG § 18 Abs. 3, BPolG § 2 Abs. 2 Nr. 3, AsylVfG § 18 Abs. 2, AsylVfG § 18 Abs. 3, AsylZBV § 3, AsylZBV § 3
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und überwiegend begründet. [...]

Das Verwaltungsgericht Trier ist - entgegen der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vertretenen Auffassung - gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) für die Entscheidung über den vorliegenden Antrag örtlich zuständig. Der Antragsteller hat seinen Asylantrag mit an das Bundesamt adressiertem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 23. März 2011 während seines Aufenthalts in der Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige Ingelheim gestellt. Bei einer derartigen Asylbeantragung liegt ein Fall des § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - vor, da der Antragsteller sich zum Zeitpunkt der Asylbeantragung in Gewahrsam im Sinne der genannten Norm befand. Dies hat weiterhin zur Folge, dass der Antragsteller gemäß § 58 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG in Verbindung mit § 3 Abs. 6 des Gerichtsorganisationsgesetzes - GerOrgG Rheinland-Pfalz - seinen Aufenthalt im Bezirk des Verwaltungsgerichts Trier zu nehmen hat.

Dabei steht § 34a Abs. 2 AsylVfG der Statthaftigkeit des vorliegenden Antrags nicht entgegen. Zwar hat die Kammer bislang in ständiger Rechtsprechung hinsichtlich der Rückführung von Ausländern nach Italien die Auffassung vertreten, dass Anträge auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG unstatthaft seien, wenn Italien gemäß § 27a AsylVfG. für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sei. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Urteile vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 -), da einer der dort aufgeführten Ausnahmefälle oder ein vergleichbarer Fall, der zur Unanwendbarkeit des § 34a Abs. 2 AsylVfG führe, nicht generell bei Ruckführungen nach Italien anzunehmen sei. Grundsätzlich sei vielmehr davon auszugehen, dass Italien als Vertragsstaat nach dem Dubliner Übereinkommen den notwendigen Schutz für Asylsuchende gewähre, so dass lediglich erhebliche individuelle Gründe einen Ausnahmefall im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründen könnten (vgl. Beschluss der Kammer vom 20. Dezember 2010 - 5 L 1482/10.TR -). An dieser Rechtsprechung hält die Kammer weiterhin fest, ist aber der Überzeugung, dass vorliegend erhebliche individuelle Gründe einen Ausnahmefall im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründen. Letzteres schlussfolgert die Kammer daraus, dass die nach den unbestrittenen Angaben des Antragstellers und auch nach sonstigen Erkenntnisquellen (vgl. insoweit auch www.bgu-frankfurt.de/pdf/Posttraumatische%20Belastungsstoerung_17% 2005%202006.pdf) spezialisierte Traumatologin Dr. med. ... in ihrer gutachterlichen Stellungnahme vom 28. März 2011 ausgeführt hat, dass der Antragsteller mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schwer psychisch krank sei, und der hochgradige Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD 10 und DSM IV bestehe und von einer hohen Suizidgefahr auszugehen sei. Dabei könne derzeit - ohne eingehendere Exploration - nicht verlässlich festgestellt werden, ob sich die Traumaereignisse speziell auf Italien beziehen.

Von daher erscheint es der Kammer angezeigt, eine Überstellung des Antragstellers nach Italien im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig so lange zu untersagen, bis hinreichend verlässlich geklärt ist, dass der Gesundheitszustand des Antragstellers seiner Überstellung nach Italien nicht entgegensteht.

Dabei muss dem Antrag insoweit gegenüber beiden Antragsgegnern Erfolg beschieden sein, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob überhaupt eine doppelte Antragsgegnerschaft besteht, da sowohl das Bundesamt als auch die Bundespolizei Bundesbehörden sind und zum Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern gehören und die Antragsgegnerschaft sich aufgrund einer bei Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes entsprechenden Anwendbarkeit des § 78 Abs. 1 Nr. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - nach dem Rechtsträgerprinzip richtet.

Soweit die Bundespolizei mit einer Vorbereitung der Rückschiebung des Antragstellers nach Italien dadurch begonnen hat, dass sie beim Amtsgericht Trier beantragt hat, den Antragsteller in Abschiebungshaft zu nehmen, ist sie aufgrund der Bestimmungen der §§ 71 Abs. 3 Nr. 1, 57 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - tätig geworden. Dabei steht es einer Einstufung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme als Zurückschiebung im Sinne von § 57 Abs. 1 AufenthG nicht entgegen, dass ihr Zielstaat nicht der Staat ist, aus dem der Ausländer unmittelbar In das Bundesgebiet eingereist ist, sondern Italien als der zur Aufnahme des Ausländers bereite Staat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 2009 - 2 BvR 1538/08 -, juris, mit weiteren Nachweisen). Des Weiteren steht es einer Einstufung der Maßnahme der Bundespolizei als "Zurückschiebung an der Grenze" im Sinne des § 71 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG nich entgegen, dass die Bundespolizei vorliegend erstmals auf dem Gelände des Trierer Hauptbahnhofs tätig geworden ist. Der Begriff "Grenze" in dieser Norm meint nämlich nicht nur den Bereich der unmittelbaren Grenzlinie zwischen zwei Staaten, sondern umfasst - wie ein Vergleich mit der Bestimmung des § 18 Abs. 3 AsylVfG zeigt - auch den grenznahen Raum, der sich - wie auch aus § 2 Abs. 2 Nr. 3 BPolG geschlussfolgert werden kann - bis zu einer Tiefe von 30 km von der eigentlichen Grenze erstreckt. Innerhalb dieses Bereichs liegt in Bezug auf den Nachbarstaat Luxemburg - wie gerichtsbekannt ist - der Trierer Hauptbahnhof. Des Weiteren ist der Antragsteller auch in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit dem unerlaubten Grenzübertritt von der Bundespolizei erfasst worden, so dass sie im Rahmen einer Grenzschutzmaßnahme tätig geworden ist (vgl. Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, Stand März 2011, § 71 Rdnr. 136 f.).

Dabei ist die demnach bestehende Zuständigkeit der Bundespolizei nicht dadurch entfallen, dass der Antragsteller während seines Aufenthalts in der Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige Ingelheim einen Asylantrag gestellt hat, denn der Aufenthalt des Antragstellers in dieser Einrichtung stellt sich unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen zu § 57 Abs. 1 AufenthG noch als Aufenthalt bei verweigerter Einreise im Sinne des § 18 Abs. 2 und 3 AsylVfG dar. Diese Einschätzung wird im Übrigen auch durch § 3 der Verordnung zur Neufassung der Asylzuständigkeitsbestimmungsverordnung - AsylZBV - vom 2. April 2008 bestätigt.

Da aber das Verfahren gemäß § 4 AsylZBV auch in die Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge übergehen kann und dieses sich in seiner Stellungnahme vom 28. März 2011 zur Sache geäußert hat, ohne sich auf eine fehlende Zuständigkeit zu berufen, erscheint es angezeigt, auch ihm gegenüber eine einstweilige Anordnung auszusprechen.

Eine weitergehende einstweilige Anordnung erscheint indessen nicht gerechtfertigt, da die Kammer - wie bereits ausgeführt - an ihrer Rechtsprechung festhält, dass aufgrund der Bestimmungen der Dublin II-VO, des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a AsylVfG Ausländer, die sich vor ihrer Einreise nach Deutschland bereits in Italien aufgehalten haben, grundsätzlich darauf zu verweisen sind, ein Asylbegehren in Italien geltend zu machen. [...]