VG Meiningen

Merkliste
Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 06.04.2011 - 8 K 20205/09 Me [= ASYLMAGAZIN 2011, S. 153] - asyl.net: M18453
https://www.asyl.net/rsdb/M18453
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines in Deutschland geborenen chinesischen Kindes, für das keine chinesische Geburtserlaubnis und Registrierung vorliegt. Es ist zu befürchten, dass das Kind in China Probleme mit dem Zugang zur Schule bekommen wird; auch staatlicher Krankenversicherungsschutz kann nicht in Anspruch genommen werden.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, China, Verfolgungshandlung, tatsächlicher Schulbesuch, Registrierung, Geburtserlaubnis, Krankenversicherung, Qualifikationsrichtlinie
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. b
Auszüge:

[...]

Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu, weil ihm Falle einer Rückkehr nach China dort Verfolgung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 b der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) droht. Nach dieser Vorschrift gelten als Verfolgungshandlungen auch gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden.

Der Kläger trägt vor, er befürchte, in China Probleme mit dem Zugang zu einer Schule zu bekommen. Da er in Deutschland geboren sei und seine Eltern nicht im Besitz einer Geburtserlaubnis nach chinesischem Recht gewesen seien, sei er in China nicht registriert. Dies könne unter Umständen dazu führen, dass ihm ein Schulbesuch nur dann ermöglicht werde, wenn seine Eltern ein erhebliches Bußgeld entrichteten, das je nach Region für jedes Elternteil ein Drittel des Jahreseinkommens betragen könne. Wenn eine Familie nicht über Ersparnisse verfüge, könne sie diesen Betrag nicht aufbringen.

Die vom Gericht eingeholten Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 02.08.2010 und Amnesty Internationals vom 22.07.2010 bestätigen diesen Vortrag zum Teil. Das Auswärtige Amt weist darauf hin, dass die Sanktionierung einer fehlenden Geburtsgenehmigung sehr unterschiedlich ist und von den lokal geltenden Vorschriften zur Familienplanung abhängt. Ebenso sollen bei Verstößen auch die Bußgelder variieren, die im Jahr 2009 zwischen umgerechnet 930,- € und 34.800,- € gelegen haben. Auch Amnesty International geht davon aus, dass die Höhe des Bußgeldes je nach Region sehr unterschiedlich ist, teilweise jedoch ein Vielfaches des durchschnittlichen Jahreseinkommens in der jeweiligen Ortschaft betragen kann. Sind die Eltern nicht in der Lage, das Bußgeld zu zahlen, drohen ihnen laut Amnesty International Zwangsmaßnahmen wie das Beschlagnahmen von Eigentum und schlimmstenfalls auch die Inhaftierung. Für das Kind habe die Nichtzahlung mit großer Wahrscheinlichkeit zur Folge, dass die Registrierung verweigert werde und sich damit die Chancen auf Zugang zum staatlichen Schulsystem erheblich reduzieren. Außerdem könne es staatlich geförderten Krankenversicherungsschutz nicht in Anspruch nehmen.

Es ist davon auszugehen, dass die Eltern des Klägers bei einer Rückkehr nach China nicht in der Lage wären, ein Bußgeld in erheblicher Höhe aufzubringen. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, während ihres Aufenthaltes in Deutschland eine kleine Summe anzusparen, benötigen sie dieses Geld in China sicherlich zunächst, um sich wieder eine Existenz aufzubauen. Ein Bußgeld in womöglich fünfstelliger Höhe zu zahlen, dürfte ihnen dann unmöglich sein. Dem Kläger drohen mithin erhebliche Einschränkungen beim Schulbesuch und seiner weiteren Ausbildung. Durch die fehlende Registrierung unterliegt er voraussichtlich auch im täglichen Leben vielen weiteren Einschränkungen, insbesondere wird er keinen staatlichen Krankenversicherungsschutz in Anspruch nehmen können.

Die drohenden administrativen Maßnahmen des chinesischen Staates stellen deshalb Verfolgungsmaßnahmen im Sinne der Qualifikationsrichtlinie dar, denn auch Benachteiligungen im schulischen und universitären Bereich, insbesondere die Verweigerung der Aufnahme in eine staatliche Schule, haben Verfolgungscharakter, wenn alternative Ausbildungsmöglichkeiten nicht verfügbar sind (vgl. Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 9 Rn. 50, so schon VG Schleswig, U. v. 17.08.1984 - 15 A 391/83 - juris). [...]