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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 [ASYLMAGAZIN 2011, S. 205 ff.] - asyl.net: M18474
https://www.asyl.net/rsdb/M18474
Leitsatz:

Bei einer durch eine Straftat veranlassten Ausweisung, die tragend zur generalpräventiven Abschreckung anderer Ausländer verfügt oder aufrechterhalten wird, fehlt es im Lichte von Art. 8 EMRK in der Regel an schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wenn hierdurch ein in Deutschland nachhaltig "verwurzelter" Ausländer betroffen wird.

Schlagwörter: Ausweisung, Wiederholungsgefahr, Achtung des Privatlebens, Regelausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Verwurzelung, Verhältnismäßigkeit, Generalpräventiver Zweck,
Normen: AufenthG § 54 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2, EMRK Art. 8, AufenthG § 56 Abs 1 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3, GG Art. 1 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2, RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3, EUV Art. 1 Abs. 3 S. 3
Auszüge:

[...]

1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der angefochtenen Androhung der Abschiebung in das Kosovo vor allem die Ausweisung des Klägers. Mit dem Verwaltungsgericht und den Beteiligten ist auch der Senat (nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung sowie insbesondere dem schlüssigen Strafaussetzungsbeschluss des Landgerichts Mannheim vom 07.05.2010 und den positiven Stellungnahmen der Justizvollzugsanstalt in den Gefangenen-Personalakten) der Überzeugung, dass von dem Kläger heute keine gesteigerte Wiederholungsgefahr mehr ausgeht. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts verwiesen werden. Die Ausweisung wird von dem Beklagten deshalb allein tragend zur - generalpräventiven - Abschreckung anderer Ausländer aufrechterhalten. Damit verstößt sie hier im Lichte des gemäß Art. 8 EMRK qualifiziert geschützten Privatlebens gegen § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.

1. Der Kläger erfüllt aufgrund seiner Verurteilung durch das Landgericht Heidelberg am 18.02.2009 zu zwei Jahren und zehn Monaten Gesamtfreiheitsstrafe den Regel-Ausweisungstatbestand des § 54 Nr. 1 AufenthG. Er genießt jedoch nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG aufgrund seines rechtmäßigen Aufenthalts, jedenfalls seit 2000, und der am 28.10.2004 erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis besonderen Ausweisungsschutz, weswegen er nach Satz 2 der Norm nur "aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" ausgewiesen werden darf. Maßgebend für die Frage, ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, sind die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts, also des Senats. Ob ein schwerwiegender Grund vorliegt, ist voll gerichtlich überprüfbar; es besteht für die Ausländerbehörde kein Beurteilungsspielraum.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Regel in den Fällen der §§ 53 und 54 Nr. 5, 5a und 7 AufenthG vor. Diese gesetzliche Vermutung beruht darauf, dass bei Verwirklichung der genannten Ausweisungstatbestände regelmäßig das öffentliche Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Ausweisung des Ausländers erfordert und der vom Gesetz bezweckte Schutz des Ausländers dahinter zurückzutreten hat. Die Regelung enthält allerdings keine Automatik, sondern erfordert eine individuelle Prüfung im jeweiligen Einzelfall, ob nicht Besonderheiten vorliegen, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass als weniger gewichtig erscheinen lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.08.2004 - 1 C 25.03 - BVerwGE 121, 356).

Erfüllt ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz genießt, - wie der Kläger - keinen der in § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG aufgeführten Ist- oder Regelausweisungsgründe, steht dies einer Ausweisung im Ermessenswege nicht entgegen (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 5 AufenthG). In diesem Fall fehlt es aber an einer gesetzlichen Vermutung für die Annahme schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dennoch können solche schwerwiegenden Gründe auch bei Vorliegen eines sonstigen (Regel- oder Ermessens-)Ausweisungsanlasses gegeben sein. Erforderlich ist dann jedoch, dass dem Ausweisungsgrund ein besonderes Gewicht zukommt. Dieses kann sich bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 13.01.2009 - 1 C 2.08 - ZAR 2009, 145).

2. Bei einer durch eine Straftat veranlassten Ausweisung, die tragend zur generalpräventiven Abschreckung anderer Ausländer verfügt oder aufrechterhalten wird, fehlt es im Lichte von Art. 8 EMRK in der Regel an schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, wenn hierdurch ein in Deutschland nachhaltig "verwurzelter" Ausländer betroffen wird. Die regelmäßige Unzulässigkeit von tragend generalpräventiv motivierten Ausweisungen bei dieser Personengruppe folgert der Senat in einer Gesamtschau aus den neueren Rechtsprechungslinien sowohl des Bundesverfassungsgerichts (a) als auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - (b) und im Übrigen auch aus der Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - bezüglich Unionsbürgern (c) sowie des Bundesverwaltungsgerichts hinsichtlich assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen (d). Dies gilt jedenfalls seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 (e).

a) Im Beschluss der Zweiten Kammer des Zweiten Senats vom 10.08.2007 (- 2 BvR 535/06, Rn. 24 f. - NVwZ 2007, 1300) hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt:

"Eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichtete Entscheidung über die Zulässigkeit einer generalpräventiv motivierten Ausweisung setzt ... voraus, dass die Ausländerbehörde die Umstände der Straftat und die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen von Amts wegen sorgfältig ermittelt und eingehend würdigt. Ohne die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der persönlichen Situation des Betroffenen können in der Regel die Auswirkungen der Ausweisung auf die Individualinteressen nicht hinreichend sicher festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit gegenübergestellt werden. ... Im Grundsatz nicht anders als bei der Würdigung der von dem Ausländer künftig ausgehenden Gefahren im Rahmen spezialpräventiv motivierter Ausweisungen genügt es insbesondere nicht, das Gewicht des für eine Ausweisung sprechenden öffentlichen Interesses allein anhand der Typisierung der den Ausweisungsanlass bildenden Straftaten in den Ausweisungsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes zu bestimmen."

In der Literatur wird die Auffassung vertreten, mit dieser inhaltlich teilweisen Neukonturierung des Anforderungsprofils habe das Bundesverfassungsgericht der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen "nicht nur die Zähne gezogen, sondern ihr - jedenfalls was eine praktische Anwendung betrifft - gleichsam auf kaltem Wege den (endgültigen) Todesstoß versetzt" (Mayer, Systemwechsel im Ausweisungsrecht, VerwArch 2010, 507). Denn eine generalpräventive Ausweisung, die im Grundsatz nicht anders als bei einer spezialpräventiven Ausweisung auch eine Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der Umstände der begangenen Straftat verlangt und daran anschließend eine einzelfallbezogene Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit erfordert, sei in Wahrheit nichts anderes als eine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen. Da das Wesen der generalpräventiven Ausweisung vor allem darin bestehe, eine Ausweisung ohne das Abstellen auf die individuelle Gefährlichkeit des Ausländers zu ermöglichen (so schon Pagenkopf, DVBl. 1975, S. 766), könne es allenfalls noch eine "generalpräventiv motivierte" Ausweisung geben, die jedoch zugleich auch spezialpräventiv gerechtfertigt sein müsse. Ohnehin wäre eine selbständig rechtfertigende Wirkung generalpräventiver Erwägungen mit dem Garantiegehalt der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar.

Denn diese schließe es aus, den Ausgewiesenen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu denaturieren und ihn als Vehikel zu benutzen, um auf andere abschreckend und damit verhaltenssteuernd einzuwirken (Mayer, a.a.O., m.w.N.). Ob dies in dieser Allgemeinheit zutrifft, kann hier offen bleiben. Jedenfalls bei nachhaltig "verwurzelten" Ausländern, die sich auf den qualifizierten Schutz von Art. 8 EMRK berufen können - was nicht notwendig zugleich eine tiefgreifende "Entwurzelung" voraussetzt -, steht der vom Bundesverfassungsgericht besonders betonte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. schon BVerfG, Beschluss vom 17.01.1979 - 1 BvR 241/77 - BVerfGE 50, 166) einer Ausweisung aus generalpräventiven Gründen aber in der Regel entgegen. Eine tragend generalpräventiv motivierte Ausweisung stellt sich bei nachhaltig "Verwurzelten" auch im Lichte der Ausführungen des BVerfG mithin regelmäßig als unverhältnismäßig dar, so dass es an hierfür rechtfertigenden schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fehlt.

b) Auch der Straßburger EGMR steht der Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen grundsätzlich skeptisch gegenüber. Dies ergibt sich aus seiner Rechtsprechung zu Ausweisungen, die er an Art. 8 EMRK misst. Seine sogenannten Boultif/Üner-Kriterien hat er etwa im Urteil Chair vom 06.12.2007 - 69735/01 - InfAuslR 2008, 111 (Rn. 58 ff.) wie folgt zusammengefasst:

"Der Gerichtshof hat bekräftigt, dass in allen Rechtssachen, die niedergelassene Zuwanderer betreffen, bei der Prüfung der Frage, ob eine Ausweisungsmaßnahme in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stand, die folgenden Kriterien heranzuziehen sind:

- Die Art und Schwere der vom Beschwerdeführer begangenen Straftat;

- die Dauer des Aufenthalts des Beschwerdeführers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll;

- die seit der Tat verstrichene Zeit und das Verhalten des Beschwerdeführers in dieser Zeit;

- die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen;

- die familiäre Situation des Beschwerdeführers, wie z.B. die Dauer der Ehe, und andere Faktoren, die erkennen lassen, wie intakt das Familienleben eines Ehepaars ist;

- ob der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin von der Straftat wusste, als er bzw. sie eine familiäre Beziehung einging;

- ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind und gegebenenfalls deren Alter und

- das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin in dem Land, in das der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen wird.

Im Urteil Üner hat der Gerichtshof außerdem ausdrücklich die beiden folgenden Kriterien genannt:

- Die Belange und das Wohl der Kinder, insbesondere das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen Kinder des Beschwerdeführers in dem Land, in das er ausgewiesen werden soll, voraussichtlich begegnen werden, und

- die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland."

Ebenso wie das Bundesverfassungsgericht verlangt mithin auch der Menschenrechtsgerichtshof (angesiedelt auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung), dass für eine konventionsgemäße Ausweisung zwingend eine genaue und auf den Einzelfall bezogene Feststellung der persönlichen Lebensverhältnisse des Betroffenen einschließlich der konkreten Umstände der begangenen Straftat getroffen und daran anschließend eine Abwägung der Individualinteressen des Ausländers mit den für die Ausweisung ins Feld geführten öffentlichen Belangen der Allgemeinheit durchgeführt wird (vgl. auch EGMR, Urteil vom 23.06.2008 - 1638/03 - Maslov). Auch dies läuft jedenfalls in rechtstatsächlicher Hinsicht sehr stark auf eine Ausweisung (nur oder nur auch) aus spezialpräventiven Gründen zu.

c) Der Luxemburger EuGH hält hinsichtlich Unionsbürgern eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen schon seit 1975 für rechtswidrig, wie er erstmals im Urteil Bonsignore (Urteil vom 26.02.1975, Rs. 67/74, Rn. 7) klarstellte:

"Auf die gestellten Fragen ist daher zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie Nr. 64/221 der Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates entgegensteht, wenn diese zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, das heißt, wenn sie - in der Formulierung des innerstaatlichen Gerichts - auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt wird."

Im Urteil Orfanopoulos und Oliveri (Urteil vom 29.04.2004, Rs. C-482/01 u. 493/01, Rn. 66-68) hat er dies 2004 nochmals ausführlicher dargelegt:

"Maßnahmen der öffentlichen Ordnung sind nach Art. 3 der Richtlinie 64/221 nur dann gerechtfertigt, wenn sie ausschließlich auf das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen gestützt sind. In dieser Bestimmung heißt es, dass strafrechtliche Verurteilungen allein ohne weiteres diese Maßnahmen nicht rechtfertigen können. Wie der Gerichtshof u. a. im Urteil vom 27.10.1977 in der Rechtssache 30/77 (Bouchereau, Slg. 1977, 1999, Rn. 35) festgestellt hat, setzt die Berufung auf den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Zwar kann ein Mitgliedstaat die Verwendung von Betäubungsmitteln als eine Gefahr für die Gesellschaft ansehen, die besondere Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung gegen Ausländer rechtfertigt, die gegen Vorschriften über Betäubungsmittel verstoßen, doch ist die Ausnahme der öffentlichen Ordnung eng auszulegen, so dass eine strafrechtliche Verurteilung eine Ausweisung nur insoweit rechtfertigen kann, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (vgl. u. a. Urteil vom 19.01.1999, Rs. C-348/96, Calfa, Rn. 22-24).

Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines Angehörigen eines Mitgliedstaats entgegensteht, die auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt, d. h. zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird (vgl. u.a. Urteil Bonsignore, Rn. 7), insbesondere, wenn die Ausweisung aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird, ohne dass das persönliche Verhalten des Täters oder die von ihm ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung berücksichtigt wird (vgl. Urteile Calfa, Rn. 27, und Nazli, Rn. 59)."

d) Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Impulse aus Luxemburg aufgegriffen und seine diesbezügliche Rechtsprechung mit Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 30.02 - auch hinsichtlich der generalpräventiv begründeten Ausweisung von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern geändert (BVerwGE 121, 297, Rn. 24):

"Die Gefährdung kann sich im Einzelfall auch allein aufgrund des abgeurteilten Verhaltens ergeben. Es besteht aber keine dahin gehende Regel, dass bei schwerwiegenden Taten das abgeurteilte Verhalten die hinreichende Besorgnis neuer Verfehlungen begründet. Eine vom Einzelfall losgelöste oder auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützte Begründung der Ausweisung ist in jedem Fall unzulässig."

Im Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - (BVerwGE 124, 243) wurde dies nochmals bekräftigt:

"Das Gemeinschaftsrecht lässt eine Ausweisung ausnahmslos nur aus spezialpräventiven Gründen zu, d.h. zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, die von dem einzelnen Ausländer persönlich ausgehen, nicht aber - tragend oder auch nur mittragend - zur (generalpräventiven) Abschreckung anderer Ausländer."

Mit Urteil vom 03.08.2004 - 1 C 29.02 - (BVerwGE 121, 315, Rn. 17) hat das Bundesverwaltungsgericht diese Grundsätze des unionsrechtlichen Ausweisungsschutzes auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige erstreckt, d.h. deren Ausweisungsschutz in gleicher Weise materiellrechtlich begründet und ausgestaltet wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger:

"Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer Übertragung der nach dem Urteil des Senats im Verfahren BVerwG 1 C 30.02 anzuwendenden Maßstäbe entgegenstehen."

Der EuGH hat die Richtigkeit dieser Entscheidung mit Urteil vom 11.11.2004 (Rs. C-467/02 - Cetinkaya) bestätigt.

Seither können freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nur noch ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet; aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen daher nicht mehr aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zwecke der Generalprävention angeordnet werden (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 02.09.2009 - 1 C 2.09 - ZAR 2010, 284). Hier kann mithin kein "dringendes Bedürfnis" mehr angenommen werden, über eine etwaige strafrechtliche Sanktion hinaus "durch eine kontinuierliche Ausweisungspraxis andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten" (so noch: BVerwG, Beschluss vom 08.05.1996 - 1 B 136.95 - InfAuslR 1996, 299).

Seit der 2. EU-Osterweiterung am 01.01.2007 kommen zunächst alle Staatsangehörigen der anderen 26 Mitgliedstaaten in den Genuss dieses europarechtlichen Ausweisungsschutzes. Das sind rund 35 % aller in Deutschland lebenden Ausländer (Stand: 31.12.2009; zit. nach BAMF, Ausländerzahlen 2009, S. 12). Hinzu kommen des Weiteren wohl rund 23 % türkische Staatsangehörige (vgl. BAMF, a.a.O., S. 11), weil nur ca. 5 % der in Deutschland bebenden Türken (ca. 25 % der ausländischen Bevölkerung von insgesamt 6,7 Mio. Menschen) kürzer als sechs Jahre hier leben; über 86 % der türkischen Staatsangehörigen leben sogar länger als 10 Jahre in Deutschland (vgl. BAMF, a.a.O. S. 14). Dies bedeutet ausländerrechtlich, dass sich möglicherweise rund 95 % der hier lebenden türkischen Staatsangehörigen auf Art. 6 oder 7 ARB 1/80 berufen können (vgl. Günes, Europäischer Ausweisungsschutz, 2009, S. 49 ff.). Geht man davon aus, dass zudem ein Teil sowohl der Unionsbürger als auch der assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit ebenfalls aufenthaltsrechtlich besonders geschützten Drittstaatern (vgl. Art. 27 Abs. 2 Unionsbürger-RL 2004/38/EG, Art. 12 Abs. 1 Daueraufenthalts-RL 2003/109/EG und Renner/Dienelt, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 FreizügG/EU, Rn. 20 ff.) familiär verbunden ist, dürfte aufgrund insbesondere der Rechtsprechung des EuGH zwischenzeitlich möglicherweise für rund zwei Drittel aller in Deutschland lebenden Ausländer ein absolutes Verbot der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen bestehen. Dies würde deren - nach Auskunft des Beklagten und Erfahrung des Senats - heute nur noch sehr geringe Praxisrelevanz schlüssig erklären. Die Frage, ob vor diesem empirisch-europarechtlichen Hintergrund auch mangels "kontinuierlicher Verwaltungspraxis" eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen überhaupt noch abschreckende Wirkung im Sinne einer "Verhaltenssteuerung" entfalten kann - wofür im Übrigen die Ausländerbehörde darlegungs- und beweispflichtig wäre -, sei nur am Rande gestellt. Neuere empirische Studien hierzu hat der Senat jedenfalls nicht auffinden können.

e) Die Rechtsfigur der Ausweisung aus generalpräventiven Gründen beruht bis heute auf richterlicher Schöpfung, nicht aber auf einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers (vgl. GK-AufenthG, 6/2009, Vor §§ 53 ff., Rn. 1300.1, m.w.N.). Nach Überzeugung des Senats hat sie nunmehr auch bezüglich der in Deutschland nachhaltig "verwurzelten" Ausländer ihre Berechtigung grundsätzlich verloren. Eine Anpassung ist erforderlich, um im Wege einer Gesamtschau insbesondere dem Schutz von Art. 8 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR noch besser gerecht zu werden und insoweit eine Angleichung mit der Rechtsprechung des EuGH zu erzielen. Die Personengruppe der nachhaltig "Verwurzelten" steht Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen in mancherlei Hinsicht gleich. Da jedoch nach wie vor keine vollständige Identität der Rechtsstellung besteht, kann der Schutz vor einer tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung nur eine Grundregel darstellen.

Anders als bei Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen kann bei "Verwurzelten" demnach eine generalpräventiv begründete Ausweisung weiterhin ausnahmsweise zulässig sein, wenn ganz besonders schwerwiegende Delikte verwirklicht wurden, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährden. Als Maßstab aus anderen Regelungszusammenhängen kann sich - zur Fallgruppenbildung im Europäischen Rechtsraum - insoweit zum einen Art. 12 Abs. 2 der Qualifikations-RL 2004/83/EG anbieten (insbesondere "Terrorismusdelikte"; vgl. Renner, AuslR, 9. Aufl. 2011, § 3 AsylVfG Rn. 8 f.). Nach der Rechtsprechung des EuGH kommt es auch im europäischen Flüchtlingsrecht hier nicht auf eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr an (EuGH, Urteil vom 09.11.2010, Rs. C-101/09 - Deutschland vs. D). Zum anderen kann der Rechtsgedanke von Art. 28 Abs. 3 Unionsbürger-RL 2004/38/EG herangezogen werden ("staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte"), weil auch Unionsbürger insoweit selbst nach 10-jährigem Aufenthalt im Aufnahmestaat nur einen eingeschränkten Schutz gegen (weiterhin ausschließlich spezialpräventiv begründete) Ausweisungen genießen (EuGH, Urteil vom 23.11.2010, Rs. C-145/09 - Tsakouridis). Liegen jedoch keine vergleichbar schwerwiegenden Delikte vor, verdient derjenige, der sich in qualifizierter Weise auf Art. 8 EMRK berufen kann, insbesondere weil er in Deutschland ein nach der Rechtsprechung des EGMR nachhaltig zu schützendes Privatleben entfaltet hat, menschenrechtlich einen mit Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen vergleichbaren Ausweisungsschutz. Die weitgehende Vereinheitlichung des bisweilen nur noch schlecht überschaubaren Ausländerrechts liegt insoweit nahe.

Als Stichtag bietet sich das Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon an, d.h. der 01.12.2009. Denn der Lissabon-Vertrag hebt den Prozess der europäischen Integration "auf eine neue Stufe" (Abs. 1 EUV-Präambel) und strebt mit der Vergemeinschaftung, heute genauer "Verunionung" (vgl. Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV) der vormaligen 3. EU-Säule die Schaffung eines europaweiten "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" an, in dem - gerade auch für die Bereiche Asyl, Einwanderung und Freizügigkeit - im Wesentlichen einheitliche Standards gelten sollen (vgl. Art. 3 Abs. 2 EUV, Art. 67 ff. AEUV und das Stockholmer Programm vom 11.12.2010 - ABlEU Nr. C 115/1). Auch wird mit dem gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV angestrebten Beitritt der neu verfassten EU zur EMRK diese Konvention normhierarchisch gewissermaßen auf die höchste Stufe gestellt. Selbst das bezüglich allen nationalen Rechts anwendungsvorrangige Unionsrecht wird künftig vom EGMR am Maßstab der EMRK gemessen und, trotz EU-Grundrechtecharta, gegebenenfalls als menschenrechtswidrig eingestuft. Damit wird durch den Lissabon-Vertrag klargestellt - und mit dessen Ratifikation auch von der Bundesrepublik angestrebt -, dass in Sachen Menschenrechtsschutz der Straßburger EGMR europaweit "das letzte Wort" haben soll (ausführlich: Bergmann, Diener dreier Herren? - Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und EGMR, EuR 2006, S. 101). Der Straßburger Rechtsprechung ist deshalb seit 01.12.2009 noch größeres Gewicht beizumessen. Seit 01.12.2009 muss bei der dogmatischen Durchdringung und Fortbildung des mitgliedstaatlichen Rechts vom "Europäischen Rechtsraum" her gedacht werden (v. Bogdandy, Perspektiven einer europäischen Rechtswissenschaft, in: Handlexikon der EU, 4. Aufl., Baden-Baden, <i.E.> sowie JZ 2011, S. 4).

Als diesbezügliches Vorbild für die Erstreckung des grundsätzlichen Verbots der generalpräventiven Ausweisung auf nachhaltig "verwurzelte" Ausländer ab 01.12.2009 sieht der Senat die rechtspolitisch in gleiche Richtung weisende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur allgemeinen Verschiebung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung. Mit Urteil vom 15.11.2007 - 1 C 45.06 - (BVerwGE 130, 20) hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass seit Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28.08.2007 - nach der Geltung für Unionsbürger und sodann für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige - nunmehr bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist, was insoweit zu einer Rechtsvereinheitlichung in dem durch EGMR- und EuGH-Rechtsprechung geprägten Europäischen Rechtsraum geführt hat.

3. Der Kläger ist ein in Deutschland "verwurzelter" Ausländer und kann sich auf den Schutz von Art. 8 EMRK berufen. Der EGMR geht von einem weiten Begriff des Privatlebens aus, dessen Schutzbereich auch das "Recht auf Entwicklung einer Person" sowie das "Recht, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt zu knüpfen und zu entwickeln" und damit letztlich die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts - hier Deutschland - "gewachsenen Bindungen" umfasst. Maßgebend ist, ob der Ausländer aufgrund seines (längeren) Aufenthalts über "starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Kontakte" zum Aufnahmestaat verfügt (vgl. die im Senatsurteil vom 13.12.2010 - 11 S 2359/10 - <DVBl 2011, 370> referierte EGMR-Rechtsprechung). Im konkreten Einzelfall des Klägers ist dies nach Auffassung des Senats gegeben. Der Kläger lebt nunmehr bereits seit 14 Jahren im Bundesgebiet. Seine gesamte berufliche Entwicklung ist hier erfolgt. Hier leben enge Familienangehörige und sein Freundeskreis. Hier hat er einen Arbeitsplatz, der ihn ohne ergänzenden Sozialleistungsbezug unterhält. Hier verlebt der Kläger sein Privatleben mit seiner deutschen Partnerin.

Auf die Frage der zugleich tiefgreifenden "Entwurzelung" kann es in diesem Zusammenhang nicht ankommen. Denn auch der diesbezügliche Ausweisungsschutz von Unionsbürgern und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen besteht unabhängig davon, ob die Sprache der früheren Heimat beherrscht wird oder ob dort etwa noch Verwandte bzw. Bekannte leben. Solche Umstände können allerdings (insbesondere auf der Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung) einen noch weitergehenden Schutz gegenüber einer ausnahmsweise generalpräventiv oder aber spezialpräventiv motivierten Ausweisung begründen.

Damit greift bezüglich des Klägers die oben dargelegte Regel des Verbots der tragend auf generalpräventive Gründe gestützten Ausweisung. Da keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine Ausnahme von dieser Regel vorliegen (Terrorismus, staats- oder gesellschaftsgefährdende Delikte), ist seine Ausweisung gesperrt. Anders formuliert fehlt es damit im konkreten Einzelfall an den für die Ausweisung erforderlichen "schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" im Sinne von § 54 Nr. 1 i.V.m. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG. Die allein auf generalpräventive Motive gestützte Ausweisung des Klägers ist also im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat rechtswidrig. [...]