VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 03.12.2010 - 3 K 278/08.DA - asyl.net: M18484
https://www.asyl.net/rsdb/M18484
Leitsatz:

Rechtswidrige Ausweisung, da keine strafbare unerlaubte Einreise aus Spanien (mit spanischem Aufenthaltstitel in brasilianischem Pass). Es dürfte hier allenfalls eine fahrlässige Ordnungswidrigkeit im Raume stehen, weshalb der Verstoß im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG vereinzelt und geringfügig war und eine Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG nachvollziehbare Ausführungen zur Frage verlangt hätte, inwiefern ein längeres Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG) mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren ist.

Schlagwörter: Ausweisung, Einreise, Spanien, Strafbarkeit, Unionsbürgerrichtlinie, freizügigkeitsberechtigt, Lebenspartnerschaft, Erwerbstätigkeit, Aufenthaltstitel, unerlaubte Einreise, Einreisesperre, Verhältnismäßigkeit
Normen: RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 1, RL 2004/38/EG Art. 2 Nr. 2, RL 2004/38/EG Art. 3 Abs. 1, FreizügG/EU Art. 3 Abs. 6, SDÜ Art. 21 Abs. 1, SGK Art. 5 Abs. 1 Bst. c, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 98 Abs. 3 Nr. 1, SGB III § 404 Abs. 2 Nr. 4, AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Diesen bereits recht vagen Ausführungen vermag das erkennende Gericht nicht beizutreten. Gemäß Art. 21 Abs. 1 SDÜ können sich Drittausländer, die Inhaber eines gültigen, von einer der Vertragsparteien ausgestellten Aufenthaltstitels sind, aufgrund dieses Dokuments und eines gültigen Reisedokuments höchstens bis zu drei Monaten frei im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien bewegen, soweit sie die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c und e aufgeführten Einreisevoraussetzungen erfüllen und nicht auf der nationalen Ausschreibungsliste der betroffenen Vertragspartei stehen. Der Kläger ist unzweifelhaft im Besitz eines Aufenthaltsrechts für Spanien und eines brasilianischen Nationalpasses. Sein Name ist auf der nationalen Ausschreibungsliste nicht notiert. Der in Bezug genommene Art. 5 SDÜ wurde durch Art. 39 Abs. 1 Schengener Grenzkodex aufgehoben. Jedoch gelten die Bezugnahmen auf die Art. 2 bis 8 SDÜ als Bezugnahmen auf den Schengener Grenzkodex (Art. 39 Abs. 3 Schengener Grenzkodex). Nach dem mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c und e SDÜ im Wesentlichen übereinstimmenden Art. 5 Abs. 1 Buchst. a, c und e Schengener Grenzkodex sind Einreisevoraussetzung:

a) Der Betroffene muss im Besitz eines oder mehrerer gültiger Reisedokumente sein, die ihn zum Überschreiten der Grenze berechtigen.

c) Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.

e) Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.

Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei seiner Einreise ins Bundesgebiet die vorstehenden Voraussetzungen nicht erfüllt hätte. Die geplante Dauer des Aufenthalts ist keine Einreisevoraussetzung, sondern lediglich eine tatbestandsmäßige Begrenzung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in einen anderen Mitgliedstaat nach Art. 21 Abs. 1 SDÜ. Insbesondere ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit kein Einreiseverweigerungsgrund. Denn Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Schengener Grenzkodex lässt es sogar ausdrücklich zu, dass die Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts im Aufnahmemitgliedstaat rechtmäßig, ggf. also auch durch eine legale Erwerbstätigkeit, erworben werden.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch Prostitution eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen Deutschlands darstellen würde (Art. 5 Abs. 1 Buchst. e Schengener Grenzkodex). Prostitution ist in Deutschland seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten - ProstG - vom 20.12.2001 (BGBl. I S. 3983) auch rechtlich in der Weise anerkannt, dass Entgeltvereinbarungen einklagbar sind, die Strafbarkeit der Prostitution auf Fälle der sexuellen Ausbeutung begrenzt wurde und Prostituierte sich nun regulär in der gesetzlichen Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung versichern können. Von einer Duldung der Prostitution kann allenfalls insoweit die Rede sein, als sich der Besuch von Prostituierten weiterhin in der Regel im Verborgenen vollzieht, da er im überwiegenden Teil der Bevölkerung weiterhin als sittlich anstößig gilt. Die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. e Schengener Grenzkodex aufgeführten Gefahrensituationen werden durch die Tätigkeit des Klägers jedoch nicht geschaffen.

Nach alledem ist nicht erkennbar, dass die Einreise des Klägers ins Bundesgebiet unerlaubt war. Dementsprechend ist auch nicht zu erkennen, dass sich der Kläger nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG strafbar gemacht hätte. Das Muster der vom Kläger vorgelegten Aufenthaltskarte hat Spanien der Kommission gemäß Art. 34 Abs. 1 Grenzkodex notifiziert (ABl. C Nr. 247 v. 13.10.2006, S. 1). Zur Einreise ins Bundesgebiet waren sein brasilianischer Nationalpass und seine spanische Aufenthaltskarte ausreichend.

Die polizeilichen Feststellungen im Vermerk vom 26.02.2008 (Bl. 2 d. A.), der Kläger halte sich seit einer Woche in einer "Terminwohnung" in Bürstadt auf, wo er der Prostitution nachgehe, greift der Bescheid nicht hinreichend auf. Ohne eingehende Feststellung, gegen welche Rechtsvorschriften der Kläger verstoßen habe und der weiteren Feststellung in welcher Weise der Rechtsverstoß geahndet werde (Straftat, Ordnungswidrigkeit?), lässt sich das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Erforderlichkeit seiner Ausweisung in Abwägung zu seinen privaten Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet nicht einordnen. Wie schon im Eilverfahrensbeschluss angedeutet, dürfte allein eine Ordnungswidrigkeit im Raume stehen (im Falle einer selbstständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 98 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG, im Falle einer unselbstständigen Beschäftigung nach § 404 Abs. 2 Nr. 4 SGB III). In beiden Fällen käme die Verhängung einer Geldbuße von höchstens 5.000,00 EUR in Betracht (§ 98 Abs. 5 AufenthG, § 404 Abs. 3 SGB III), wobei aufgrund der Besonderheiten des Falles allenfalls von einer fahrlässigen Begehung auszugehen ist, durch die der Bußgeldrahmen auf höchstens 2.500,00 EUR herabgesetzt wird (§ 17 Abs. 2 OWiG). Da es für andere Rechtsverstöße am hinreichenden Tatverdacht fehlt (z. B. Verstöße gegen das Steuerstrafrecht in Bezug auf die Einnahmen aus der Prostitutionstätigkeit), verbleibt es vorliegend bei der bereits im Eilverfahrensbeschluss geäußerten Einschätzung, dass der Verstoß, nach der Einreise keine Aufenthaltserlaubnis eingeholt zu haben, vereinzelt und geringfügig i.S.d. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG war und eine Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG nachvollziehbare Ausführungen zur Frage verlangt hätte, inwiefern ein längeres Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs.1 Satz 1 AufenthG) wegen einer Ordnungswidrigkeit, die mit höchstens 2.500,00 EUR geahndet werden könnte, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. [...]