VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 11.04.2011 - 20 K 2727/10.A [ASYLMAGAZIN 2011, S. 195 ff.] - asyl.net: M18486
https://www.asyl.net/rsdb/M18486
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG wegen allgemeiner Rückkehrgefährdung (Syrien).

Schlagwörter: Asylverfahren, Abschiebungsverbot, Syrien, Kurden, Yekiti, subsidiärer Schutz, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, ernsthafter Schaden, Folter, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Inhaftierung, Asylantrag,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 2, RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. b, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 19 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Kriterien hat der Kläger einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 2 AufenthG.

Dabei kann hier offen bleiben, ob der Kläger vor der Ausreise in Syrien einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder ihm ein solcher unmittelbar drohte. Denn unabhängig davon besteht ein reales Risiko bzw. eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 60 Abs. 2 AufenthG, Art. 15 b der Richtlinie 2004/83/EG erleiden wird.

Es entspricht ständiger Auskunftslage, dass zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den Grund ihrer Abschiebung befragt werden, wobei sich diese Befragung über mehrere Stunden hinziehen kann (vgl. zuletzt: Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010).

Ob bzw. in welchem Maße darüber hinaus ohne Vorliegen weiterer besonderer Umstände in der Person des Betroffenen die Gefahr einer länger andauernden Inhaftierung - mit der dann daraus folgenden für Syrien typischen Gefahr von Folter und anderer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung - besteht, ist unter Berücksichtigung der Entwicklungen seit dem Jahre 2009 unter Geltung des am 03.01.2009 in Kraft getretenen bilateralen Rückführungsabkommens zwischen der Bundesrepublik und Syrien vom 25.07.2008 (BGBl. II 2008, S. 811, 2009 S. 107) in der Rechtsprechung umstritten.

Überwiegend wird davon ausgegangen, dass die in neueren Erkenntnisquellen aus dem Jahre 2009 und Anfang 2010 beschriebenen Fälle, in denen es zu Inhaftierungen gekommen ist (vgl. hierzu Stellungnahmen des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (EZKS) vom 25.11.2009 und vom 14.02.2010 an Herrn Rechtsanwalt Walliczek in Minden; Ad-hoc Ergänzungsberichte des Auswärtigen Amtes vom 28.12.2009 und vom 07.04.2010), keinen Schluss darauf zulassen, dass nunmehr jeder syrische Staatsangehörige allein schon wegen der Beantragung von Asyl oder eines längerfristigen Aufenthalts in Deutschland der konkreten Gefahr einer länger andauernden Inhaftierung oder körperlichen Misshandlung ausgesetzt ist. Nur wenn weitere Umstände hinzutreten, die geeignet sind, bei den syrischen Sicherheitskräften den Verdacht zu begründen, dass sich die Betreffenden in Syrien oder im Ausland gegen das syrische Regime politisch betätigt haben, besteht danach für Rückkehrer mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr politischer Verfolgung. Dabei sind neben einem politischen Engagement des Betroffenen und naher Angehöriger gegebenenfalls weitere Gefährdungsfaktoren in den Blick zu nehmen, die jeweils einer Bewertung im Einzelfall bedürfen (vgl. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 30.08.2010 - 3 A 121/10 - Juris; OVG NRW, Beschlüsse vom 15.04.2010 - 14 A 729/10.A - und vom 19.04.2010 - 14 A 237/10.A -; VG Oldenburg, Urteile vom 18.10.2010 - 4 A 1717/10 und vom 20.07.2010 - 4 A 22/10 - Juris; VG Hannover, Beschluss vom 31.05.2010 - 2 B 2111/10 - Juris; VG Kassel, Urteil vom 19.05.2010 - 3 K 892/09.KS.A - Juris; VG Stade, Urteil vom 12.05.2010 - 6 A 1435/07 - Juris; VG Frankfurt a.M., Urteil vom 12.05.2010 - 2 K 2261/08.F.A Juris.; VG Bayreuth, Urteil vom 29.04.2010 - B 3 K 08.30084 - Juris).

Zum Teil werden dabei die Anforderungen an die Annahme solcher gefahrerhöhenden Umstände aufgrund der aktuellen Erkenntnislage abgesenkt (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 24.09.2010 - 21 K 4217/09.A - Juris; VG Karlsruhe, Urteil vom 17.08.2010 - A 8 K 792/10 - Juris; VG Freiburg, Urteil vom 20.07.2010 - A 5 K 683/09 - Juris; VG Meiningen, Urteile vom 15.04.2010 - 8 K 20176/09. Me - und vom 01.04.2010 - 8 K 2040/09 - Juris).

Zum Teil wird mit Blick auf die Zahl der bekannt gewordenen Verhaftungen und die dabei zu Tage getretene Willkür davon ausgegangen, dass bereits aufgrund der Asylantragstellung und des Aufenthalts in der Bundesrepublik Betroffenen bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Festnahmen und damit einhergehende menschenrechtswidrige Behandlung drohen (so: VG Chemnitz, zuletzt Urteil vom 15.10.2010 - A 5 K 980/10 - Juris). Diese letztgenannte Auffassung teilt auch das erkennende Gericht (vgl. Urteil der Kammer vom 28.10.2010 - 20 K 8637/09.A - Juris).

Dies beruht maßgeblich darauf, dass es außer den drei in den oben genannten Auskünften und Ad-hoc Lageberichten des Auswärtigen Amtes bestätigten drei Inhaftierungsfällen aus dem Jahre 2009, von denen nach den dortigen Angaben bei einer Gesamtzahl von 38 zurückgeführten Personen 7 Personen betroffen waren, offenbar zu weiteren Inhaftierungen nach Rückführungen aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern, gekommen ist.

So wurden Mitte März die syrischen Studenten ... und ... aus Malaysia abgeschoben, wo sie anlässlich der Teilnahme an einem Vortrag des syrischen muslimischen Geistlichen Scheich Aiman al-Dakkak am 21.01.2010 in Kuala Lumpur zusammen mit allen anderen Anwesenden festgenommen worden waren. Alle Inhaftierten mit Ausnahme von 12 ausländischen Staatsangehörigen, darunter auch ... und ..., wurden zu einem späteren Zeitpunkt wieder freigelassen. Seit der Ankunft der beiden syrischen Studenten in der syrischen Hauptstadt Damaskus wurden sie nicht mehr gesehen (vgl. amnesty international, "Syrische Studenten vermisst", UA-096/2010).

Am 19.08.2010 wurde ... aus Norwegen abgeschoben und am Flughafen von Damaskus festgenommen. Vor seiner Abschiebung war er Vorstandsmitglied des Vereins der syrischen Kurden in Norwegen. Am 02.09.2010 wurde er ohne Anklageerhebung aus der Haft entlassen. Vermutlich wurde er die meiste Zeit in der Abteilung für Politische Sicherheit im Stadtteil al-Fayha in Damaskus festgehalten (vgl. kurdwatch, Bericht vom 24.08.2010, "Damaskus: Exilaktivist nach Abschiebung aus Syrien festgenommen", www.kurdwatch.org; amnesty international, "Syrischer Kurde frei", UA-188/2010-1).

Zu Festnahmen kam es auch nach der Abschiebung einer sechsköpfigen Familie aus Deutschland am 27.07.2010. Zwei Mitglieder der Familie ... und ... wurden bei der Ankunft am Flughafen Damaskus verhaftet. Sie sollen festgenommen worden sein, weil sie in Deutschland straffällig geworden sind, wobei unklar ist, wer die syrischen Sicherheitskräfte über die Straffälligkeit informiert hat (vgl. kurdwatch, Bericht vom 08.08.2010, "Damaskus: Sechsköpfige Familie aus Deutschland abgeschoben, zwei Personen inhaftiert", www.kurdwatch.org).

Auf den vorgenannten Fall bezieht sich offenbar auch die Antwort der Bundesregierung vom 22.10.2010 auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten ... u.a. und der Fraktion DIE LINKE vom 06.09.2010 betreffend die Inhaftierung von abgeschobenen Syrern in Damaskus (BT-Drucksache 17/2869), in der unter Punkt 13 zum Verbleib und den Lebensumständen von "H.H. und K.H." ausgeführt wird, es treffe zu, dass zwei zurückgeführte Personen im Juli 2010 inhaftiert und offenbar strafrechtlichen Ermittlungen unterzogen worden seien. Nach unbestätigten Informationen einer kurdischen Menschenrechtsorganisation sei eine der Personen nach 29 Tagen Haft freigelassen worden. Die Inhaftierung der anderen Person dauere offenbar an (vgl. Antwort der Bundesregierung vom 22.10.2010, BT-Drucksache 17/3365).

Die vorgenannte Antwort der Bundesregierung ist dabei insoweit von besonderem Interesse, als dort Inhaftierungsfälle genannt werden, die keinen Eingang in den jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010 gefunden haben. Dies gilt für den Inhaftierungsfall im Anschluss an die am 27.07.2010 aus Essen stattgefundene Abschiebung, die in zeitlicher Hinsicht in den Berichtszeitraum fällt. Dies gilt aber auch für einen offenbar stattgefundenen fünften Inhaftierungsfall, der allerdings zeitlich nicht näher eingegrenzt wird. Nach den Angaben der Bundesregierung sind jedenfalls in den Jahren 2009 und 2010 in fünf Fällen Inhaftierungen nach der Rückführung bekannt geworden, von denen 14 Personen (bei einer Gesamtzahl von 73 abgeschobenen Personen, davon 50 auf der Grundlage des Rückübernahmeabkommens) betroffen waren und in denen die Haftdauer zwischen drei Tagen und dreieinhalb Monaten betrug.

In jüngsten Auskünften vom Februar 2011 hat zudem das Auswärtige Amt die Festnahmen von zwei Familien am Flughafen Damaskus auf der Grundlage entsprechender Verbalnoten des syrischen Außenministeriums bestätigt. Beide Familien waren nach der Festnahme mehrere Wochen an verschiedenen Orten inhaftiert und sind hierbei mehrfach verhört worden. Als Grund für die Festnahme wurde in den Verbalnoten angegeben, dass die Familien aus Deutschland abgeschoben wurden und Syrien illegal verlassen hatten. Wenngleich wegen der Schwärzung personenbezogener Daten einschließlich der Daten der Rückführungen in diesen Auskünften eine eindeutige Aussage darüber, ob es sich hier um bereits zuvor bekannt gewordene Inhaftierungsfälle handelt, nicht möglich ist, so spricht doch aufgrund der Aktenzeichen der Auskünfte und der mitgeteilten weiteren Umstände vieles dafür, dass es sich hier um zwei weitere - bis dahin nicht bekannte - Fälle handelt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskünfte an das Bundesamt vom 01.02.2011 und 02.02.2011).

Zur Überzeugung der Kammer folgt aus den jüngsten zuvor beschriebenen Fällen, dass sich die Befürchtungen hinsichtlich einer Verschärfung im Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte, die zu den Ad-hoc Berichten des Auswärtigen Amtes vom 28.12.2009 und vom 07.04.2010 geführt haben, weiter bestätigen und es sich bei den drei vom Auswärtigen Amt bestätigten Inhaftierungsfällen keineswegs bereits um das Ende einer kurzen Phase mit einer zufälligen Häufung von Inhaftierungen bei Einreise handelt. Es finden vielmehr unverändert Inhaftierungen statt, von denen eine erhebliche Zahl von Personen betroffen ist. Bei der Bewertung der Zahlen ist zudem zu berücksichtigen, dass diese einerseits selbst von offizieller deutscher Seite unterschiedlich angegeben werden und andererseits die Zahl der bekanntgewordenen Inhaftierungsfälle keinen eindeutigen Rückschluss darauf zulässt, dass die Betroffenen in allen anderen Fällen nicht von asylrelevanten Maßnahmen betroffen waren. Nur ein Teil der Abschiebevorgänge erfolgt überhaupt mit deutschem Begleitpersonal. Von 60 Abschiebevorgängen, die in der Antwort der Bundesregierung genannt sind, wurden 27, also nahezu die Hälfte, ohne Begleitpersonal durchgeführt (Punkt 9 der Antwort). Außerdem wird regelmäßig der Verbleib und die Situation von zurückgeführten Personen weder durch die Bundesregierung noch durch die Deutsche Botschaft in Damaskus verfolgt. Seit Mai 2010 ist es Mitarbeitern der Deutschen Botschaft nur noch im Rahmen der protokollarischen Betreuung von Delegationen nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch das syrische Außenministerium möglich, den Sicherheitsbereich des Flughafens in Damaskus zu betreten (vgl. Punkt 14 der Antwort der Bundesregierung; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010).

Die dadurch bedingte Unsicherheit ist auch deshalb besonders ernst zu nehmen, weil - wie im Falle des ... - Festnahmen nicht nur unmittelbar am Flughafen erfolgen, sondern offenbar auch anlässlich von erst danach stattfindenden Einbestellungen beim Sicherheitsdienst. Dadurch reduziert sich die Möglichkeit einer Kenntnisnahme von Inhaftierungen auf ein Minimum, wenn nicht Zufälle zu einer Aufdeckung führen, so wie dies auch im Fall des ... war, nachdem er nach seiner Haftentlassung wieder illegal über die grüne Grenze nach Syrien fliehen konnte (vgl. zu den Einzelheiten dieses Falles: EZKS, Stellungnahme vom 19,05.2010 an die Republik Österreich, Bundesasylamt).

Aus der vorgenannten Stellungnahme ergeben sich im Übrigen Anhaltspunkte für weitere Fälle, wenngleich gesicherte Aussagen hierzu aus Sicht des EZKS noch nicht möglich sind (vgl. auch: ACCORD, Menschenrechtliche Fragestellungen zu KurdInnen in Syrien, Bericht vom Mai 2010, S. 63 f.).

Das Gericht ist nach allem überzeugt davon, dass gegenwärtig ernst zu nehmende Erkenntnisse über willkürliche Verhaftungen durch syrische Stellen bei abgeschobenen syrischen Exilanten bestehen. Ein bestimmter Verfolgungsmodus lässt sich dabei - bedingt durch die in Syrien herrschende Willkür und das in seinen Auswirkungen nicht abschätzbare Nebeneinander verschiedener Geheimdienste - nicht erkennen. Dies belegt nicht zuletzt der Fall der aus Essen zurückgeführten Personen, die offenbar in keiner Weise politisch aktiv waren. Soweit eine vorangegangene Straffälligkeit in der Bundesrepublik als Grund für die Inhaftierung vermutet wird, lässt sich dies derzeit mangels konkreter Erkenntnisse hierzu nicht bestätigen; zumindest in der Antwort der Bundesregierung vom 22.10.2010 wird über eine mögliche Straffälligkeit der betroffenen Personen nichts mitgeteilt. Die Willkür im Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte wird zusätzlich an dem Fall eines im September 2010 am syrischen Grenzübergang al-Qamishli/Nusaybin festgenommenen Syrers deutlich. Dieser kurdische Syrer lebte bereits seit 1995 in Deutschland und hielt sich nur besuchsweise wieder in seinem Herkunftsstaat Syrien auf, Anhaltspunkte für irgendeinen besonderen politischen Hintergrund seiner Inhaftierung liegen nicht vor (vgl. kurdwatch, Bericht vom 02.10.2010, "Al-Qamishli: Erneut Kurde aus Deutschland in Syrien festgenommen", www.kurdwatch.org).

Es besteht nach alledem auch für Personen, die sich im Ausland nicht exilpolitisch betätigt haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer nicht nur kurzfristigen Inhaftierung bei Rückkehr und damit einhergehender Folter oder anderer menschenrechtswidriger Behandlung. [...]