VG Wiesbaden

Merkliste
Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 12.04.2011 - 7 L 303/11.WI.A - asyl.net: M18504
https://www.asyl.net/rsdb/M18504
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien. Der Ausschluss des Eilrechtsschutzes nach § 34a Abs. 2 AsylVfG ist europarechtswidrig. Es sprechen überwiegende Gründe dafür, dass der Antragsteller in Italien keinen den europaweit vereinbarten Mindeststandards entsprechenden Schutz erlangen würde.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Zustellung, effektiver Rechtsschutz, Begründungserfordernis, Rechtsweggarantie, Asylantrag, Konzept der normativen Vergewisserung, sichere Drittstaaten, Obdachlosigkeit, Aufnahmebedingungen, medizinische Versorgung, Sozialhilfe, Asylverfahren, Inhaftierung, Refoulement, Griechenland, Afghanistan
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 2, AsylVfG § 31 Abs. 1 S. 6, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 2 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4, EMRK Art. 13, RL 2005/85/EG Art. 39 Abs. 3 Bst. b, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 1 S. 1, GR-Charta Art. 47 Abs. 1, GR-Charta Art. 18, GR-Charta Art. 51 Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 2, GG Art. 16a Abs. 5, RL 2005/85/EG Art. 6 Abs. 2, RL 2005/85/EG Art. 7
Auszüge:

[...]

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen sprechen überwiegende Gründe dafür, dass der Antragsteller im Falle einer Überstellung nach Italien kein Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards erlangen würde. Diese Erkenntnis beruht u.a. auch auf den Feststellungen einer Reihe jüngerer verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen für die Fälle der Überstellung nach Italien (vgl. u.a. VG Minden, Beschlüsse vom 28.09.2010 - 3 L 491/10.A - und vom 07.12.2010 - 3 L 625/10.A -, VG Darmstadt, Beschlüsse vom 09.11.2010 - 4 L 1455/10.DA.A(1) und vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A, VG Weimar, Beschluss vom 15.12.2010 - 5 E 20190/10.We -, VG Köln, Beschlüsse vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A - und vom 11.01.2011 - 16 L 1913/10.A; VG Freiburg, Beschluss vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11 - , VG Gießen, Beschluss vom 10.03.2011 - 1 L 468/11.GI.A m.w.N.). Derzeit sprechen überwiegende Gründe dafür, dass der Antragsteller in Italien die gebotene Prüfung und Bescheidung seines Schutzgesuches nicht erreichen wird. Auch wenn Italien, wie die Antragsgegnerin in dem angegriffenen Bescheid betont, alle europarechtlich vereinbarten Standard zum Flüchtlingsschutz in nationales Recht übernommen hat, ist damit deshalb nicht automatisch ausgeschlossen, dass die tatsächliche Praxis von den normativen Vorgaben abweicht, wie etwa die vom UNHCR wie auch von amnesty international ausdrücklich kritisierte Abschiebung von Bootsflüchtlingen nach Libyen ohne Prüfung ihres asylrechtlichen Schutzbedarfs zeigte (vgl. Stellungnahme UNHCR vom 07.05.2009; AI, Jahresbericht 2010). Die neueren Berichte von Maria Bethke und Rechtsanwalt Dominik Bender nach ihrer Recherchereise im Oktober 2010 wie auch der schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht vom November 2009 deuten ebenfalls darauf hin, dass die durch die Asylrichtlinien garantierten Mindestbedingungen für den Flüchtlingsschutz durch Italien in vielen Bereichen nicht mehr umgesetzt werden. So bestehen in Italien beispielsweise nur für einen verschwindend geringen Teil der Asylsuchenden Plätze in Aufnahmeeinrichtungen. Dementsprechend ist die Obdachlosigkeit unter den Flüchtlingen weit verbreitet. Zugang zur medizinischer Versorgung wird häufig nicht gewährleistet. Entgegen seiner Verpflichtungen kann Italien offensichtlich den Mindeststandard für Flüchtlinge bezogen auf die humanitäre, wirtschaftliche, gesundheitliche und Wohnsituation nicht mehr garantieren. Auch der Bericht von Bethke und Bender von Oktober 2010, die vor Ort für die ökonomischen, sozialen und Wohnungsbedingungen von Asylbewerbern bzw. anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten recherchierten, zeichnet ein erschütterndes Bild über die die Flüchtlinge betreffenden Aufnahmebedingungen in Italien. So gebe es kaum Erstaufnahmeeinrichtungen bzw. Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge. Die Flüchtlinge seien zur Organisation ihrer Unterkunft vollständig auf sich alleine gestellt, mit der Folge, dass sie häufig im Freien leben müssten oder ohne jegliche Strom- oder Wasseranbindung oder Privatsphäre Unterschlupf in besetzten Häusern oder auf Brachflächen und Baustellen nehmen müssten. Infolge der prekären Wohnsituation und weil sie über keinen festen Wohnsitz verfügt, könnten sie häufig auch keinerlei Krankenversicherungsschutz und damit auch keine Krankenbehandlung erhalten. Mangels festem Wohnsitz erhielten die Flüchtlinge in Italien häufig auch keine Sozialleistungen und keine Aufenthaltserlaubnis. Sie seien somit gezwungen, sich "irgendwie" durchs Leben zu schlagen (Bethke/Bender, Bericht über eine Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010).

Nach den vorgenannten Berichten scheint es derzeit auch wenig wahrscheinlich, dass der Antragsteller im Falle einer Rückführung von Italien aus sein Klageverfahren in Deutschland gegen die Abschiebungsanordnung weiter betreiben könnte. Post würde ihn als Obdachlosen kaum erreichen. Auch den Asylbewerbern, die nicht nur auf der Straße leben, sondern eine Schlafmöglichkeit in einem der besetzten Häuser finden, können nach dem Bericht von Bethke/Bender keine Briefe zugestellt werden. Auch dies erscheint mit Blick auf das rechtsstaatliche Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 80 Abs. 5 VwGO zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigen. Hinter dem Anspruch des Antragstellers auf Schutz entsprechend der europaweit vereinbarten Mindeststandards nach den Asylrichtlinien hat das gemeinschaftsrechtliche Interesse an der Umsetzung der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-II-VO zurückzutreten, zumal die Mängel des derzeitigen europäischen Asylsystems auf Gemeinschaftsebene allgemein bekannt sind und insbesondere auch in den letzten Tagen verstärkt ein neues, effektiveres System der europäischen Lasten- bzw. Verantwortungsverteilung für Flüchtlinge angemahnt wird.

Auch die Ereignisse der letzten Tage, über die die Medien ausführlich berichtet haben, belegen, dass die italienische Regierung nach offiziellen Verlautbarungen ihres Innenministers offensichtlich weder dazu in der Lage ist, den Flüchtlingen ein faires Verfahren und eine humanitäre Behandlung zu garantieren, noch dazu Willens ist. Bereits deshalb ist es Flüchtlingen zur Zeit nicht zuzumuten, nach Italien zurückzukehren, um dort ein Asylverfahren durchzuführen.

Dies belegt im Übrigen auch das Schicksal des Antragstellers. Italienische Grenzbeamte haben dem Antragsteller bei seiner Ankunft in Italien eine Behandlung widerfahren lassen, die in ihre Konsequenz nur als Verweigerung des Zugangs zum Asylverfahren in Italien gedeutet und in Einklang mit den zuvor bezeichneten Erkenntnisquellen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen die Annahme bestätigt, dass Italien sich von seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen gelöst hat und Flüchtlinge den Schutz dadurch verweigert, dass es sich ihrer ohne jede Prüfung des Schutzgesuches entledigen will. In seiner eidesstattlichen Versicherung führt der Antragsteller aus, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft in Italien von den Grenzbeamten aufgegriffen und für zwei Tage in Haft gehalten wurde. Am nächsten Tag sei ihm mittels eines Dolmetschers unmissverständlich in mündlicher und schriftlicher Form klar gemacht worden, dass er Italien innerhalb von fünf Tagen zu verlassen habe. Wenn er Italien nicht verlasse und nochmals aufgegriffen werde, werde er inhaftiert. Auch müsse er dann mit der Abschiebung nach Griechenland oder Afghanistan rechnen. Der Antragsteller sei durch diese Haltung der italienischen Beamten dermaßen eingeschüchtert worden, dass er Italien verlassen habe und sich in das Bundesgebiet begeben habe.

Die glaubhaften Schilderungen des Antragstellers belegen, dass die italienischen Grenzbeamten durch ihr Verhalten den Antragsteller faktisch außer Landes "getrieben haben", indem sie ihn durch Anwendung psychischen Zwanges den Zugang zum italienischen Asylverfahren verweigerten. Bei rechtmäßigem Verhalten der italienischen Polizeibehörden hätten diese den Antragsteller nach Aufgriffen und Registrierung eine Weiterleitungsbescheinigung zu einer Asylaufnahmestelle ausstellen müssen. So heißt es in Art. 6 Abs. 2 der für alle EU-Staaten vorrangig anzuwendende Asylverfahrensrichtlinie 2005/85/EG, dass die Mitgliedstaaten "sicherstellen, dass jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht hat, im eigenen Namen einen Asylantrag zu stellen". Ferner heißt es in Art. 7 der RL 2005/85/EG, dass "die Antragsteller zum Zwecke des Asylverfahrens so lange im Mitgliedsstaat verbleiben dürften, bis die Asylbehörde über den Asylantrag entschieden" hat. [...]