VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Beschluss vom 23.05.2011 - 6 B 23/11 - asyl.net: M18561
https://www.asyl.net/rsdb/M18561
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien. Es bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Kernanforderungen des europäischen Asylrechts in Italien nicht gewährleistet sind. Die sofortige Abschiebung der Antragsteller ist angesichts der in Italien zu erwartenden Umstände, insbesondere auch für den 20 Monate alten Sohn sowie unter Berücksichtigung der aktuellen erneuten Schwangerschaft der Antragstellerin zu 1) und ihrer daraus folgenden besonderen Schutzbedürftigkeit, zu unterbinden.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Italien, Schweiz, Zustellung, Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit, Existenzminimum, besonders schutzbedürftig, Schwangerschaft
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat; der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden darf.

Hier bestehen jedoch bereits Zweifel, ob § 34a Abs. 2 AsylVfG nach seinem Wortlaut her überhaupt (schon) einschlägig ist. Denn eine "Abschiebung, nach Absatz 1" im Sinne dieser Vorschrift liegt hier mangels Zustellung eines entsprechenden Bescheids (noch) nicht vor (s.o.).

Unabhängig von der bisher nicht erfolgten Zustellung kommt trotz des in § 34a Abs. 2 AsylVfG geregelten Ausschluss des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Untersagung der Abschiebung auf der Grundlage des § 123 VwGO nach der obergerichtlichen Rechtsprechung gleichwohl dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist (vgl. dazu BVerfG, Urt. vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938/93 -, zitiert nach Juris). Diese Rechtsprechung haben das Bundesverfassungsgericht und das Nds. Oberverwaltungsgericht mit mehreren einstweiligen Anordnungen zu beabsichtigten Abschiebungen nach Griechenland entwickelt und bestätigt (vgl. nur Beschl. vom 22.12.2009 - 2 BvR 2879/09 -; Nds. OVG, Beschl. v. 19.11.2009 - 13 MC 166/09 -, jeweils zitiert nach Juris). Dabei haben die Obergerichte unter anderem darauf abgestellt, dass die Rechtsbeeinträchtigungen, die einem Antragsteller entstünden, wenn er im einstweiligen Anordnungsverfahren unterläge, aber im Hauptsacheverfahren obsiegte, nicht mehr rückgängig zu machen sein könnten. Dies gelte insbesondere deshalb, weil bei einem Obsiegen die Erreichbarkeit des Antragstellers nicht gewährleistet sei, weil ihm im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat die Obdachlosigkeit drohte (vgl. BVerfG, Beschl. vom 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, zitiert nach Juris).

Ein damit vergleichbarer Fall liegt auch hier vor, woraus sich zugleich der Anordnungsanspruch der Antragsteller ergibt.

Vorliegend bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Kernanforderungen des europäischen Asylrechts in Italien nicht gewährleistet sind. Zur diesen Kernanforderung des europäischen Asylrechts gehört nach der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und nach Art. 13, 14 und15 der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27.01.2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, dass Asylbewerbern materielle Aufnahmebedingungen gewährt werden, die ihre Grundbedürfnisse nach Unterkunft, Nahrung und medizinischer Versorgung abdecken.

Es gibt indessen ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass jedenfalls die Behandlung von Asylsuchenden, die nach der Dublin II-Verordnung nach Italien zurückgeführt werden, weitgehend diesen Anforderungen nicht entspricht. Das erkennende Gericht geht mit dem Verwaltungsgericht Gießen (Beschl. vom 10.03.2011, a.a.O.) nach den vom Verwaltungsgericht Gießen in der genannten Entscheidung zusammengefassten, auch dem erkennenden Gericht vorliegenden Tatsachenmaterial davon aus, dass das staatliche Aufnahmesystem in Italien völlig überlastet ist. So führen beispielsweise Bethke/Bender in ihrem Bericht von zur Situation von Flüchtlingen in Italien (Bericht über eine Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010, Frankfurt a.M. 2011) unter Auswertung der offiziellen Daten des SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati - Staatliches Aufnahmesystem zur Unterbringung von Flüchtlingen) aus, dass in den Jahren 2008 und 2009 lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in ein "SPRAR-Projekt" aufgenommen worden seien; 88 % hingegen seien der Obdachlosigkeit überlassen worden. Die Verhältnisse im Einzelnen werden in dem Bericht plastisch und unter Angabe vieler Einzelheiten nachvollziehbar beschrieben. Landesweit gebe es im staatlichen Aufnahmesystem SPRAR 3000 Plätze, die eine Aufnahme für jeweils 6 Monate ermöglichten. Dem hätten im Jahre 2009 17.000 und im Jahre 2008 31.000 Asylbewerber gegenübergestanden. Andere Berichte bestätigen diese Daten sowie die Einschätzüng, dass Dublin-Rückkehrer in Italien zumeist als Obdachlose in den großen Städten in extrem prekären Bedingungen leben (Schweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, November 2009; Bundesamt für Migration der Schweizer Eidgenossenschaft, Bern, September 2009, S. 8). Im Jahr 2011 haben bis Anfang Mai bereits 26.000 Flüchtlinge in Italien um Schutz nachgesucht (Spiegel online vom 26.04.2011, Peters: "Paris und Rom schotten sich ab"). Die Wartelisten für diese Plätze sind lang. Selbst wenn die Flüchtlinge einen dieser Plätze erhalten haben, sind sie nach Ablauf von sechs Monaten sich selbst überlassen. So ist die große Mehrheit der Asylsuchenden ungeschützt, ohne Unterkunft und ohne gesicherten Zugang zu Nahrungsmitteln. Daraus ergibt sich u.a. das Problem, dass die Anmeldung eines festen Wohnsitzes nicht möglich ist. Dadurch wird zugleich der Zugang zum Gesundheitssystem zumindest erheblich erschwert. Auch die Zuteilung einer Steuernummer, die einen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht, ist nur mit festem Wohnsitz möglich. Für Flüchtlinge, die im Dublin II-Verfahren nach Italien abgeschoben wurden, bedeutet dies jedoch auch, dass sie für ein gegebenenfalls noch in Deutschland durchzuführendes Klageverfahren nicht erreichbar sind.

Dem Hinweis der Antragsgegnerin, dass keine Erkenntnisse darüber vorlägen, ob eine signifikante Anzahl der Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit bedroht sei, kann demnach - jedenfalls ohne weitere Überprüfung im Hauptsacheverfahren - nicht gefolgt werden.

Eine Gesamtschau der in Italien zu erwartenden Umständen und die daraus für die Antragsteller - insbesondere auch für ihren 20 Monate alten Sohn sowie unter Berücksichtigung der aktuellen erneuten Schwangerschaft der Antragstellerin zu 1) und ihrer daraus folgenden besonderen Schutzbedürftigkeit - drohenden Nachteile führt vielmehr dazu, dass eine sofortige Abschiebung der Antragsteller ohne vorherige weitere Klärung im Hauptsacheverfahren zu unterbinden ist (vgl. i.E. ebenso VG Braunschweig, Beschl. v. 09.03.2011 - 7 B 58/11; VG Freiburg, Beschl. vom 24.01.2011 - A 1 K 117/11 -; VG Darmstadt, Beschl. vom 11.01.2011 - 4 L 1889/10.DA.A -; VG Köln, Beschl. vom 10.01.2011 - 20 L 1920/10.A -; VG Frankfurt a.M., Beschl. v. 07.03.2011 - 7 L 449/11.F.A.; VG Minden, Beschl. vom 07.12.2010) - 3 L 625/10.A - jeweils zitiert nach Juris; VG Weimar, Beschl. v. 15.12.2010 - 5 E 20190/10 We -, veröffentlicht unter asyl.net). [...]