VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 24.05.2011 - AN 11 E 11.30214 - asyl.net: M18567
https://www.asyl.net/rsdb/M18567
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Ungarn für einen unbegleiteten Minderjährigen. Aus den vom Antragsteller vorgelegten Berichten ergibt sich, dass der Antragsteller möglicherweise Haft unter Bedingungen ausgesetzt wäre, die mit europäischen Mindeststandards insbesondere für ihn als Minderjährigen unvereinbar wären (regelmäßige Misshandlungen, Ruhigstellung renitenter Flüchtlinge durch Medikamente, Inhaftierung Minderjähriger).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Ungarn, Griechenland, Konzept der normativen Vergewisserung, unbegleitete Minderjährige, Asylantrag, Inhaftierung, Aufnahmebedingungen, Altersfeststellung, Haftbedingungen, subjektives Recht
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 6 Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, AsylVfG § 40 S. 2
Auszüge:

[...]

Der Hilfsantrag erscheint bei der hier gebotenen Prüfung auch nicht nach § 34a Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen. Zwar darf danach die Abschiebung nach Abs. 1 nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Nach der hier zu beachtenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere vom 8. und 23.9.2009, vom 22.12.2009 und vom 25.1.2011, EGMR vom 21.1.2011 unter Aufgabe der Entscheidung vom 2.12.2008, zitiert nach juris) gilt dieser Ausschluss des Eilrechtsschutzes zwar nur in den Grenzen des Konzepts der sog. normativen Vergewisserung (BVerfG vom 14.5.1996, zitiert nach juris). Es wurde aber vom Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang als offen und Anlass zu einer entsprechend eingehenden Untersuchung gebend angesehen, wenn vorgetragen wird, dass das Asylsystem eines Mitgliedsstaates - insbesondere, aber nicht nur aus Gründen der Überforderung - defizitär ist, insbesondere die dortigen Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen europäischen Mindeststandards nicht genügen. Einen solchen Fall hat der Antragsteller aber hier vortragen lassen. Zwar kann er sich dabei nicht darauf berufen, dass er selbst keinen Zugang zum Asylsystem in Ungarn gehabt hätte. Denn Gegenteiliges ist aktenkundig. Er hat einen Asylantrag in Ungarn gestellt, der bearbeitet und dann abschlägig beschieden wurde. Vor einer Überprüfung dieser Entscheidung durch ein Gericht in Ungarn ist der Antragsteller dann untergetaucht. Aus den vom Antragsteller vorgelegten Berichten ergibt sich aber weiter, dass die Unterbringungsmöglichkeiten insbesondere bei Minderjährigen in Ungarn europäischen Standards nicht entsprechen könnten, weil regelmäßige Misshandlungen in der Haft vorkämen, renitente Flüchtlinge durch Medikamente ruhig gestellt würden, (erneute) Altersfeststellungen ergäben, dass nunmehr im Gegensatz zu kurz früher Volljährigkeit angenommen würde und Minderjährige inhaftiert würden. Diese Situationsschilderung wird auch nicht durch den vom Gericht herangezogenen Bericht des UNHCR von November 2010 über die Asylpraxis in Ungarn in eindeutiger Weise entkräftet oder gar widerlegt. Vielmehr hat gerade der UNHCR dort zahlreiche Verbesserungsvorschläge angebracht und auch angemahnt. Auch das BAMF hat in diesem Kontext nichts Substantiiertes entgegengesetzt. [...]

Nach diesen Grundsätzen wäre Ungarn zwar zur (Wieder-) Aufnahme des Klägers infolge des dort gestellten Asylantrags zuständig. Selbst wenn dem aktenkundigen Vorbringen des Antragstellers gefolgt würde, wobei erhebliche Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit dieses Vorbringens bestehen, dass er das Gebiet der EU zuerst über Griechenland betreten hat, wäre Ungarn und nicht Griechenland zuständig, da sich auch bei unbegleiteten Minderjährigen nach Art. 6 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung die Zuständigkeit vorrangig nach dem Mitgliedsstaat der Asylantragstellung richtet. Wie bereits vorstehend erörtert stellt sich aber im Rahmen der sachlichen Prüfung die Frage, ob höherrangiges Recht eine Überstellung nach Ungarn hier zulässt oder ausschließt. Da diese Frage im Anschluss an die dargestellte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als offen zu beurteilen ist, kommt es entscheidend auf eine Abwägung der widerstreitenden Interessen an. Angesichts der vorgelegten Berichte über die entsprechende Asylsituation in Ungarn ist daher mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG dem Aussetzungsinteresse des Antragstellers Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil bei einer Überstellung des Antragstellers nicht sichergestellt zu sein scheint, dass er Haft bzw. Haftbedingungen ausgesetzt wäre, die mit seinem aktuellen Status als noch Minderjähriger unvereinbar wären.

Nach alledem ist der Hauptantrag abzulehnen und dem Hilfsantrag stattzugeben, wobei die antragsgemäße Befristung der einstweiligen Anordnung einerseits ihre Vorläufigkeit sichert und andererseits dem Antragsteller die Möglichkeit gibt, nach Zustellung einer Abschiebungsanordnung nach Ungarn noch rechtzeitig vor ihrem Vollzug Rechtsmittel einlegen zu können. Die Unterrichtungspflicht der Ausländerbehörde von diesem Beschluss beruht auf § 40 Satz 2 AsylVfG entsprechend. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 83b AsylVfG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Satz 12. HS RVG, Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG. [...]