VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Beschluss vom 07.06.2011 - 1 B 2106/11 - asyl.net: M18629
https://www.asyl.net/rsdb/M18629
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Konzept der normativen Vergewisserung, Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, Obdachlosigkeit, Registrierung,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, VO 343/2003 Art. 16 Abs. 1, VO 343/2003 Art. 14, GG Art. 16a Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Dass ein Ausnahmefall des Konzepts normativer Vergewisserung, an dessen Darlegung strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerfG, a.a.O., juris, Rdnr. 190), vorliegend angesichts der Verhältnisse in Italien anzunehmen ist, haben die Antragsteller nicht dargetan und lässt sich auch sonst nicht feststellen (so im Ergebnis auch: VG Berlin, Beschluss vom 3. März 2011 - VG 34 L 43.11 A - und vom 24. Februar 2011 - VG 34 L 38.11 A -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 31. Januar 2011 - 14a L 1579/10.A - juris; VG Ansbach, Beschluss vom 26. Januar 2011 - AN 9 E 10.30522 -juris; VG Regensburg, Beschluss vom 14. Januar 2011 - RO 7 S 11.30018 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. Januar 2011 - 21 L 2285/10.A und Urteil vom 30. Juli 2010 - 13 K 3075/10.A - juris; a.A.: VG Gießen, Beschluss vom 10. März 2011 - 1 L 468/11.GI.A -, juris; VG Frankfurt am Main, Beschluss vom 7. Februar 2011 - 7 L 329/11.F.A; VG Köln, Beschluss vom 10. Januar 2011 - 20 L 1920/10.A - juris; VG Minden, Beschluss vom 7. Dezember 2010 - 3 L 625/10.A - juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. November 2010 - 4 L 1455/10.DA.A(1) - sowie die weiteren von den Antragstellern angeführten Entscheidungen).

Stellungnahmen des Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), die Anlass zu der Annahme bieten könnten, Italien verletze generell und ständig die Kernanforderungen des europäischen Rechts zum Flüchtlingsschutz, liegen - anders als in Bezug auf Griechenland - nicht vor. Ebenso wenig sind Stellungnahmen von in Asylverfahren regelmäßig als Erkenntnisquelle herangezogener Organisationen, wie etwa amnesty international oder Schweizer Flüchtlingshilfe, bekannt, in denen vor einer Überstellung nach Italien ähnlich eindringlich gewarnt wird wie bei Griechenland.

Es liegen derzeit auch keine Erkenntnisse darüber vor, dass das Asylverfahren in Italien nicht europäischen Mindeststandards entspricht. Dem von Bethke und Bender verfassten Bericht von Pro Asyl vom 28. Februar 2011 "Zur Situation von Flüchtlingen in Italien" ist zu entnehmen, dass jedenfalls Asylsuchende aus den Ländern Eritrea, Äthiopien und Somalia in Italien irgendeine Form von Schutz und damit ein Aufenthaltsrecht erhalten. Nach Ansicht der Verfasser bestehe eine Gesamtschutzquote, die von praktisch allen Gesprächspartnern als zufriedenstellend bezeichnet worden sei (S. 5). In dem Bericht der Schweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von November 2009 "Rückschaffung in den 'sicheren Drittstaat' Italien" wird in Bezug auf das italienische Asylverfahren konkret ausgeführt, dass Bootsflüchtlinge in Lampedusa oft kein reguläres Asylverfahren erhielten und Italien Schutzsuchende aus Ländern, mit denen es ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen habe, praktisch nie als Flüchtlinge anerkenne. Dem lässt sich nicht entnehmen, dass Asylsuchenden aus solchen Ländern jeglicher Schutz versagt wird. Auch auf die Umstände der Asylverfahren von Bootsflüchtlingen in Süditalien kommt es im vorliegenden Fall nicht an, da die Antragsteller ein Asylverfahren nicht dort durchzuführen, sondern sich in Rom zu melden haben. Ferner lassen sich den Angaben der Antragsteller gegenüber dem Bundesamt keine gravierenden Mängel des italienischen Asylverfahrens entnehmen. Zwar gab der Antragsteller zu 1) bei seiner Anhörung zu seinem Asylantrag an, zwei Tage in einer Einzelzelle verbracht und im Flughafen auf Stühlen übernachtet zu haben an. Die italienischen Behörden hätten sich nicht um sie gekümmert. Sie hätten auch nichts zu essen bekommen. Seinem Vortrag ist schon nicht zu entnehmen, dass sich die italienischen Behörden geweigert hätten, das Asylgesuch aufzunehmen. Vielmehr war es die Entscheidung des Antragstellers, keinen Antrag zu stellen. Offenbar konnten sich die Antragsteller problemlos in Italien bewegen und ihre Weiterreise nach Deutschland organisieren. Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Asylverfahrens in Italien haben die Antragsteller nicht geschildert, da sie ein solches schon gar nicht eingeleitet haben. Der Vortrag des Antragstellers zu 1), er sei von italienischen Sicherheitskräften geschlagen worden, hat er - ungeachtet der Unsubstantiiertheit - , nach der eingehenden Belehrung über seine Wahrheitspflicht nicht mehr wiederholt.

Die Antragsteller haben ebenfalls nicht die hohen Darlegungsanforderungen in Bezug auf ihre soziale Lage bei einer Rückkehr nach Italien erfüllt. Dass sie in Italien in Verhältnissen leben müsste, die ihre Menschenwürde, ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit gefährden und daher ein Ausnahmefall des Konzepts normativer Vergewisserung begründen können, ist nicht hinreichend gewiss. Zwar wird in dem von Bethke und Bender verfassten Bericht von Pro Asyl vom 28. Februar 2011 ausgeführt, laut offiziellem Bericht des SPRAR - dem italienischen staatlichen Aufnahmesystem - seien in den Jahren 2008 und 2009 lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in ein SPRAR-Projekt vermittelt, 88 % seien der Obdachlosigkeit überlassen worden (S. 23). Sofern mit dieser Aussage. gemeint sein sollte, 88 % der Dublin-Rückkehrer seien ernsthaft von Obdachlosigkeit bedroht, ist dies den als Quellen angegebenen Berichten des SPRAR nicht zu entnehmen, da sich darin - soweit ersichtlich - keine Angaben über die Lebensverhältnisse der nicht in das Projekt aufgenommenen Dublin-Rückkehrer befinden. Daher lassen sich dem Bericht von Pro Asyl keine Erkenntnisse darüber gewinnen, ob eine signifikante Anzahl der Dublin-Rückkehrer von Obdachlosigkeit bedroht ist oder ob die Rückkehrer, die nicht in das SPRAR-Projekt aufgenommen wurden, die realistische Möglichkeit haben, durch kommunale, kirchliche oder karitative Einrichtungen oder auch eigenes Einkommen der Wohnungslosigkeit zu entgehen. Ebenfalls lässt sich diesem Bericht nicht entnehmen, dass die dort dargelegten teilweise katastrophalen Lebensverhältnisse von Flüchtlingen in Rom auch auf einen überwiegenden Teil der anderen Städte und Regionen Italiens, insbesondere in Norditalien, zutreffen. Ebenso wenig ist ersichtlich, ob sich Schutzsuchende, die sich in einer Region aufhalten, in der ein ausreichender sozialer Mindeststandard nicht gewährleistet ist, nicht in eine andere Region Italiens begeben können, in der eine ausreichende soziale Versorgung sichergestellt ist. Soweit in dem Bericht der Schweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht von November 2009 auf "Schätzungen von Flüchtlingsorganisationen" verwiesen wird, wonach etwa die Hälfte der allein stehenden männlichen Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlingen keine Unterkunft habe, genügt diese allgemeine Auskunft ohne Quellenangabe schon nicht den dargestellten hohen Darlegungsanforderungen im Rahmen des Konzepts der normativen Vergewisserung.

Darüber hinaus ist der Bericht von Pro Asyl im vorliegenden Fall unergiebig, da er maßgeblich die Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen aus Eritrea, Äthiopien und Somalia behandelt (S. 5), die Antragsteller jedoch aus Syrien stammen.

Ferner haben sie nicht dargetan, an ihre vor der Ausreise aus Italien bestehenden Lebensbedingungen im Falle einer Rückkehr nicht wieder anknüpfen zu können. Nach ihren Angaben beim Bundesamt haben sie vor ihrer Weiterreise nach Deutschland auf eigenen Füßen gestanden. Erst nachdem sich bei ihnen eine Unzufriedenheit über ihre dortige Lebenssituation eingestellt hatte, nahmen sie es in Angriff, den Weg nach Deutschland zu suchen. Offenbar verfügen sie über Finanzierungsquellen, die es ihnen ermöglicht haben, die Reisekosten von Rom nach Deutschland aufzubringen.

Schließlich bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte, dass die Erreichbarkeit der Antragsteller in Italien für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt ist. Anders als in den Fällen in Bezug auf Griechenland (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 8. September 2009, juris) gibt es - wie bereits ausgeführt - für Italien keine ernst zu nehmenden Quellen, dass ihnen dort eine Registrierung faktisch unmöglich wäre und ihnen die Obdachlosigkeit drohte. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Italien die Antragsteller ohne Prüfung über ihr Schutzgesuch, die dem europäischen Flüchtlingsschutz entspricht, in einen Drittstaat abschiebt, so dass sie für das Klageverfahren nicht mehr erreichbar und ihr Anspruch auf Durchführung eines effektiven Asylverfahrens vereitelt wäre. [...]