VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 01.03.2011 - 2 A 535/10 - asyl.net: M18641
https://www.asyl.net/rsdb/M18641
Leitsatz:

Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für alleinstehende Frau mit körperlichen und psychischen Erkrankungen trotz Zusage einer Kostenübernahme von 20,- EUR monatlich für fünf Jahre wegen krankheitsbedingter Unmöglichkeit, diese Hilfe tatsächlich in Anspruch nehmen zu können. Der Zugang zum Gesundheitswesen im Kosovo bereitet besondere Schwierigkeiten angesichts der beschränkten Kapazitäten für die Behandlung psychischer Erkrankungen und der Tatsache, dass auch für Bedürftige eine kostenlose bzw. kostengünstige Behandlung nicht immer sichergestellt werden kann, weil das gesetzliche System durch Korruption unterlaufen wird.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Kosovo, Lungenerkrankung, Schilddrüsenkrankheit, Depression, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Medikamente, Kostenzusage, alleinstehende Frauen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Vorgaben ist die Beklagte hier zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu verpflichten, weil sich die Klägerin krankheitsbedingt bei einer Rückkehr in den Kosovo in einer "extremen individuellen Gefahrensituation" befinden würde.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine konkrete Gefahr für Leib und Leben im Sinne dieser Vorschrift ist auch dann gegeben, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit alsbald nach der Rückkehr ins Heimatland die wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlimmerung einer Krankheit zu erwarten ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.97 -, BVerwGE 105, 383, 387; Urt. v. 17.11.2006 - 1 C 18.05 -, NVwZ 2007, 712). Es muss hierbei der wahrscheinliche Verlauf in einer überschaubaren Frist betrachtet werden (vgl. BVerwG; Urt. v. 17.10.2006, a.a.O.). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht im Übrigen auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.10.2002 - 1 C 1.02 -, juris; Urt. v. 17.10.2006, a.a.O.). Dies muss nicht nur im Heimatort des Betroffenen gelten, sondern die Gefahr muss landesweit gegeben sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.04.1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265). Diese Voraussetzungen liegen im Falle einer Rückkehr der Klägerin in den Kosovo vor, zugleich befände sie sich damit auch in einer "extremen individuellen Gefahrensituation".

Zwar geht das Gericht mit dem Bundesamt davon aus, dass eine adäquate Behandlung der Erkrankungen der Klägerin im Kosovo generell gewährleistet ist und die von ihr derzeit eingenommenen Medikamente im Kosovo erhältlich bzw. beschaffbar sind. Ferner dürften - theoretisch - auch die Kontrolluntersuchungen und Medikamente jedenfalls unter Inanspruchnahme der Kostenübernahmeerklärung des Sozialamtes des Landkreises Rotenburg und der Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde Niedersachsen in Höhe von 20,- € monatlich für die Dauer von insgesamt 5 Jahren bezahlbar sein.

Das Gericht ist aber überzeugt, dass vorliegend die erforderliche Behandlung der Klägerin aus in ihrer Person liegenden Gründen nicht gewährleistet ist.

Nach der aktuellsten dem Gericht vorliegenden ärztlichen Bescheinigung vom 27. November 2009 leidet die Klägerin an einem Zustand nach reaktivierter Lungentuberkulose, an einer Unterfunktion ihrer Schilddrüse, an einer rezidivierenden mittelschweren Depression, Untergewicht und chronische Blutarmut aufgrund Eisenmangels. Nach den Feststellungen des Amtsarztes vom 6. Juli 2009 ist die Klägerin auch künftig auf eine intensive ambulante Betreuung sowohl eine psychosomatische Grundversorgung und einer weiteren Kontrolle bei Zustand nach offener Tuberkulose angewiesen. Ferner ist auch eine dauerhafte Schilddrüsenmedikation "notwendig und unerlässlich". Auch eine geringfügige Verschlechterung des Allgemeinzustandes kann danach aufgrund ihres reduzierten Ernährungszustandes "erhebliche Auswirkungen" haben. Die Erkrankungen der Klägerin sind damit so schwerwiegend, dass im Falle einer Unterbrechung ihrer Behandlung mit einer gravierenden Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu rechnen ist.

Die Klägerin ist ohne fremde Hilfe und auf sich allein gestellt den Anforderungen des täglichen Lebens, insbesondere der zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit erforderlichen Medikamenteneinnahme sowie den notwendigen Arztbesuchen nicht gewachsen. Dies folgt zur Überzeugung des Gerichts aus den vorliegenden ärztlichen Gutachten sowie dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung. Die die Klägerin behandelnde Ärztin hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Klägerin zurzeit von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter versorgt und betreut wird. Eine entsprechende Notwendigkeit hat der Sohn der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals überzeugend und nachvollziehbar dargelegt. Auch der Amtsarzt attestiert der Klägerin eine insgesamt deutlich vorgealterte Erscheinung. Diese Einschätzung hat die Klägerin durch ihr Verhalten und ihr Auftreten in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Sie ist über die genannten Erkrankungen hinaus auch ersichtlich in ihrer Mobilität eingeschränkt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin weder lesen noch schreiben kann. Auch in der Vergangenheit hat die Klägerin daher - wie auch einzelne Vorgänge in den vorliegenden Verwaltungsvorgängen bestätigen - die erforderlichen Arztbesuche und Behördengänge nur in Begleitung von Verwandten tätigen können.

Im Falle einer Rückkehr in den Kosovo ist ferner zu beachten, dass der Zugang zum Gesundheitswesen im Kosovo besondere Schwierigkeiten bereitet, denen die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Situation auf sich gestellt nicht ausreichend Rechnung tragen kann. Dies gilt einmal mit Blick auf die beschränkte Kapazitäten für die Behandlung psychischer Erkrankungen sowie der Tatsache, dass auch für Bedürftige eine kostenlose bzw. kostengünstige Behandlung nicht immer sicherstellt werden kann, weil das gesetzliche System durch Korruption unterlaufen wird (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Kosovo: Update, Zur Lage der medizinischen Versorgung, 01.09.2010, Ziffer 4.1; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Kosovo, 06.01.2011, Ziffer IV. 1.2.1 a.E.). Darüber hinaus vermag das Gericht auch nicht zu erkennen, dass die Klägerin überhaupt in der Lage wäre, die ihr bewilligten Gelder für eine notwendige Weiterbehandlung im Kosovo auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen, da die Entgegennahme der Gelder und die zweckentsprechende Verwendung ein Maß an Organisation verlangt, welches die Klägerin zur Überzeugung des Gerichts allein nicht erbringen kann.

Auch das Bundesamt zieht nicht in Zweifel, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr auf sich allein gestellt wäre. Insbesondere kann auch nicht verlangt werden, dass ihr Sohn oder ihre Tochter sie begleiten, weil ihre Kinder inzwischen über einen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen. Die Klägerin bestreitet, weitere Verwandte im Kosovo zu haben. Gegenteilige Erkenntnisse bestehen nicht. Auch auf die Möglichkeit einer Unterbringung in einem Pflegeheim kann die Klägerin ohne entsprechende Vorkehrungen, die hier nicht getroffen wurden, nicht verwiesen werden. [...]