VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 25.02.2011 - 33 X 72.08 - asyl.net: M18644
https://www.asyl.net/rsdb/M18644
Leitsatz:

Der Widerruf des Abschiebungsverbots gemäß § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG a.F., das für den seinerzeit minderjährigen Kläger festgestellt wurde, ist rechtmäßig, da dieser inzwischen volljährig ist und eine Veränderung der Verhältnisse in Afghanistan, insbesondere in seiner Heimatstadt Kabul, gegeben sind, die einen Widerruf des gewährten Abschiebungsschutzes gebieten. Kabul befindet sich derzeit in keiner bürgerkriegsähnlichen Situation und die Sicherheitslage hat sich dort in den letzten Jahren in einer Weise positiv entwickelt, dass für Rückkehrer keine hieran geknüpfte Extremgefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht. Auch wenn der Kläger Afghanistan im Alter von 10 Jahren mit seiner Familie verlassen hat und sich seit 1995 in Deutschland aufhält, kann er trotz fehlender Berufsausbildung und ohne Beherrschung der afghanischen Schriftsprache bei einer Rückkehr in Afghanistan vergleichsweise günstige Startbedingungen vorfinden. Seine Deutschkenntnisse können ihm eine Arbeitsaufnahme in Kabul erleichtern und seine in Europa mit Bleiberecht lebende Familie kann ihm Geld überweisen.

Schlagwörter: Widerruf, Widerrufsverfahren, Afghanistan, Kabul, Mudjaheddin, Sicherheitslage, Versorgungslage, Existenzgrundlage, Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 73 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 3, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Beklagte hat die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG a. F. im Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. Dezember 1997 mit Recht widerrufen. Rechtsgrundlage hierfür ist § 73 Abs. 3 AsylVfG. Danach ist die Entscheidung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, zurückzunehmen, wenn sie fehlerhaft ist und zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Diese Bestimmung räumt der Verwaltung kein Ermessen ein und erfasst über ihren Wortlaut hinaus auch Fallgestaltungen wie den vorliegenden, in welchen keine Bescheidung nach dem Aufenthaltsgesetz, sondern eine solche auf der Grundlage der Vorgängernormen des bis zum 31. Dezember 2004 gültigen Ausländergesetz – hier nach § 53 Abs. 6 S. 1 – zurückgenommen oder widerrufen werden soll (vgl. GK zum AsylVfG/Schäfer, zu § 73 Rz. 21). Die Voraussetzungen für einen Widerruf der seit Januar 1998 bestandskräftigen Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach der zuletzt genannten Norm waren zum Zeitpunkt des Ergehens des Widerrufsbescheides im Mai 2008 erfüllt. Wie die Beklagte in der Begründung ihres Bescheides zu Recht ausführt, war dem Kläger Ende 1997 Abschiebungsschutz im Wesentlichen deshalb zugebilligt worden, weil er seinerzeit als noch Minderjähriger im Falle einer Abschiebung in Afghanistan von einer erheblichen sowie individuellen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit bedroht gewesen war. Erschwerend kam nach der damaligen Einschätzung des Bundesamtes hinzu, dass die Situation in seiner Heimatstadt Kabul bürgerkriegsähnlich und eine Rückkehr dorthin ohnehin als nicht zumutbar angesehen worden war. Diese Erwägungen ergeben sich unzweideutig aus der Begründung des Bescheides vom 8. Dezember 1997. Der Kläger ist bereits seit langem volljährig und es haben sich die Verhältnisse in Afghanistan, insbesondere aber in Kabul in einer Weise verändert, die einen Widerruf des ihm gewährten Abschiebungsschutzes gebieten. Hieran vermögen die letztlich auf andere Gesichtspunkte zielenden Einwendungen des Klägers im Verwaltungsverfahren und im Klageverfahren nichts zu ändern.

Es mag sein, dass der Vater des Klägers 1990 ermordet worden ist. Die Umstände seines Todes sind jedoch völlig ungeklärt. Nähere Angaben hierzu fehlen. Sollten tatsächlich Mudjaheddin für den Tod des Vaters verantwortlich gewesen sein, so erschließt sich nicht ohne Weiteres, weshalb dies den Kläger überhaupt und auch heute noch gefährden sollte. Er war 1990 gerade rd. zehn Jahr alt und es sind seither ca. 21 Jahre vergangen, in welchen Afghanistan massive Veränderungen durchlaufen hat. Eine Blutfehde oder Ähnliches, was auch die Familienmitglieder des Getöteten erfasst haben könnte, werden nicht einmal behauptet noch gar plausibel gemacht. Die eigentliche Zielperson, nämlich der Vater des Klägers, soll bereits getötet worden sein. Die Behauptung des Klägers, die Familie habe damals viele Feinde gehabt und hieran habe sich bis heute nichts geändert, ist in ihrer Pauschalität nichtssagend. Eine Gefahrenprognose lässt sich hierauf ebenso wenig stützen wie auf die gleichfalls wenig ausssagekräftige Angabe, der Vater habe unter den Kommunisten in einer hohen Funktion in der Bürokratie gearbeitet. Was er sich an dieser Stelle hatte zu Schulden kommen lassen und was sogar 21 Jahre nach seinem Tod seinen Familienmitgliedern zur Last gelegt werden sollte, wird nicht erläutert.

Schließlich befindet sich Kabul derzeit in keiner bürgerkriegsähnlichen Situation und hat sich die Sicherheitslage dort in den letzten Jahren in einer Weise positiv entwikkelt, dass für Rückkehrer keine hieran anknüpfende Extremgefahr mehr besteht. Diesbezüglich sei auf die folgenden Ausführungen verwiesen.

2. Das Gericht sah aber auch keinen Anlass, den Kläger auf der Basis des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, der im Wesentlichen der Vorgängernorm des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG a.F. entspricht, vor einer Abschiebung nach Afghanistan in Schutz zu nehmen. [...]

Der Kläger macht von den oben bereits angesprochenen individuellen Gefahren wegen der früheren Tätigkeit seines Vaters, welche auch an dieser Stelle keine abschiebungsschutzerhebliche Gefährdung seiner Person erwarten lassen, allgemeine Gefahren geltend, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen können (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2010 - BVerwG 10 C 10.09 -). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann diese Sperrwirkung nur dann im Wege einer verfassungskonformen Auslegung eingeschränkt werden, wenn für den Schutzsuchenden ansonsten eine verfassungswidrige Schutzlücke besteht (vgl. Urteil vom 24. Juni 2008 - BVerwG 10 C 43.07 -, BVerwGE 131, 198 ff.). Eine solche Schutzlücke besteht für den Kläger nicht.

Im Hinblick auf die Lebensbedingungen und die allgemeine Sicherheitslage, die den Kläger in Afghanistan und speziell in seiner Heimatstadt Kabul erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, eröffnet ihm Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ohnehin nur ausnahmsweise dann, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, einem Ausländer auch ohne eine politische Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (vgl. Urteil vom 29. Juni 2010 a.a.O.).

Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung (vgl. hierzu und zum Folgenden: BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2010, a.a.O.). Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in seinen Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Dieser hohe Wahrscheinlichkeitsgrad ist ohne Unterschied in der Sache in der Formulierung mit umschrieben, dass die Abschiebung dann ausgesetzt werden müsse, wenn der Ausländer ansonsten "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde" (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - BVerwG 1 C 5.01 - BVerwGE 115, 1, 9 f m. w. N.). Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage beispielsweise auch dann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 12. Juli 2001, a.a.O., und vom 29. Juni 2010).

Es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen Sicherheitslage in der Stadt Kabul, wo allein hin eine Abschiebung zu erwarten steht, mit der geforderten hohen Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nichts anderes gilt bezüglich der wirtschaftlichen Existenzbedingungen und der damit zusammenhängenden Versorgungslage.

Die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Die Lage wird vom Auswärtigen Amt in seinem Lagebericht vom 27. Juli 2010 (S. 13) auf das ganze Land bezogen unverändert als weder sicher noch stabil bezeichnet. Seit 2006 war danach mit saisonalen Unterschieden eine stetige Zunahme von Angriffen und Anschlägen festzustellen, ein Trend, der sich auch für 2010 im bisherigen Verlauf bestätigt hatte. Gegenüber dem Vorjahr war eine (weitere) Zunahme sicherheitsrelevanter Ereignisse um 30 – 50 % gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Mit einer Beruhigung der Sicherheitslage rechnete das Auswärtige Amt auch für den weiteren Verlauf des Jahres 2010 wegen verschiedener militärischen Operationen und bevorstehender politischer Großvorhaben nicht. Allerdings variiert die Sicherheitslage nach den Feststellungen des Amtes regional und innerhalb der Provinzen von Distrikt zu Distrikt. Während im Süden und Südosten Afghanistans Aktivitäten regierungsfeindlicher Kräfte gegen die Zentralregierung und die Präsenz der internationalen Gemeinschaft die primäre Sicherheitsbedrohung darstellen, sind dies im Norden und Westen häufig Rivalitäten lokaler Machthaber, die in Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften verstrickt sind. Landesweit soll die organisierte Kriminalität stark zugenommen haben.

Was die Sicherheitslage im hier relevanten Raum Kabul betrifft, gelangte das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht aus dem Jahr 2010 zu der Feststellung, dass diese sich 2010 zwar nicht verbessert, aber auch nicht wesentlich verschlechtert hat. Im landesweiten Vergleich ist Kabul nach dem Lagebericht objektiv betrachtet eine leidlich sichere Stadt, auch wenn das Gefühl der Unsicherheit durch eine Serie spektakulärer Terroranschläge allgemein zugenommen hat. Nachdem 2008 die afghanischen Sicherheitsbehörden formell die Sicherheitsverantwortung für die Stadt Kabul übernommen hatten, ist die Lage nach Einschätzung des Amtes nicht unsicherer geworden, vielmehr kann sogar von einer Stabilisierung der Sicherheitslage gesprochen werden. Nach einem Reisebericht der schwedischen Migrationsbehörde vom Dezember 2009, in welchem die Lage von Provinz zu Provinz dargestellt wird, kommt diese bezogen auf Kabul zu der Feststellung, dass sich die Zahl ziviler Opfer 2009 gegenüber den Vorjahren erhöht hatte, wenngleich die Zahl der Zwischenfälle zurückgegangen war. Die Angriffe richteten sich nach den gewonnenen Erkenntnissen hauptsächlich gegen die Polizei und afghanische Behörden samt Ausländer/ausländische Ziele, waren jedoch sporadische und isolierte Gewalttaten. Kabul weist – so heißt es in dem Bericht weiter – einen besonderen Charakter auf. Es fällt auf, dass keine regelrechten Kämpfe stattfinden. Jedoch besteht für die Bevölkerung ein nicht unerhebliches Risiko, in Gestalt eines von Attentaten verursachten Begleitschadens getötet zu werden. Exakte Opferzahlen waren der schwedischen Delegation nicht bekannt. Allerdings soll die Zahl der Todesopfer im Bereich der östlich-/zentralgelegenen Provinzen in Kabul an erster Stelle liegen.

Eine von den Migrationsbehörden Österreichs, der Schweiz und Deutschlands erstellte Analyse der Sicherheitslage dreier Provinzen Afghanistans (Balkh, Herat und Kabul) kam im Juni 2010 bezogen auf Kabul zu der Einschätzung, dass die afghanischen Sicherheitskräfte mit Unterstützung durch die internationalen Truppen die Stadt weitgehend kontrollieren. Den verschiedenen aufständischen Truppen gelingt es dennoch immer wieder, spektakuläre Anschläge zu verüben, deren Ziele neben Regierungsgebäuden und -vertretern internationale militärische und zivile Organisationen sind. Wegen deren zunehmend besseren Schutzes vor Anschlägen sind nach der Analyse die meisten Opfer unter der afghanischen Bevölkerung zu beklagen. In allen drei untersuchten Provinzen ist die Sicherheitslage nach der zusammenfassenden Würdigung trotz vereinzelter Schwierigkeiten besser als in anderen Landesteilen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe stellt die Sicherheitslage in Kabul in einer Aktualisierung vom 11. August 2010 so dar, dass es der afghanischen Regierung trotz des enormen Sicherheitsaufgebots nicht gelungen ist, Anschläge im Rahmen der Friedensjirga und der Konferenz in der Stadt zu verhindern. Regierungsfeindlichen Truppen sei es inzwischen gelungen, sich auch in den Provinzen Wardak, Parwan, Kabul und Kapisa auszubreiten. Kriminelle Banden und regierungsfeindliche Gruppierungen führten weiterhin auch in Kabul und Zentralafghanistan Entführungen zwecks Lösegelderpressung durch. Nach einem Bericht einer österreichischen Kommission vom Dezember 2010, welche sich im Rahmen einer sog. Fact Finding Mission im Zeitraum 22. bis 28. Oktober 2010 in Afghanistan aufgehalten und hierbei mit verschiedenen, vielfach namentlich genannten Personen zahlreiche Gespräche geführt sowie Interviews vorgenommen hatte, gelangte bezogen auf Kabul u. a. zu folgenden Feststellungen (Pkt. 3.2, S. 8): Die Aussagen zur Sicherheitslage in Kabul decken sich im Wesentlichen. Seit Februar 2010 kam es innerhalb des sogenannten "Ring of Steel" zu keinen größeren Anschlägen, obwohl es weder an Sprengstoff noch an Attentätern mangelt. Die Anschläge haben sich eher in die Vororte von Kabul verlagert. Außerdem werden mangelnde Planungsressourcen aufgrund der gezielten Tötungen durch die internationalen Truppen ins Treffen geführt. Die Sicherheitslage in Kabul gilt als vergleichsweise gut. In den letzten Monaten gab es keine größeren Attacken. Die Situation gilt als vergleichsweise ruhig mit Ausnahme der Zeit rund um die Präsidentschaftswahlen. Es wurde sogar von einer Verbesserung der Lage im Vergleich zum Vorjahr gesprochen. So soll es deutlich weniger Anschläge geben. Im Allgemeinen ist die Lage in größeren Städten sicherer als in den ländlichen Gebieten.

Die letztgenannten Feststellungen weichen kaum von denen anderer Stellen ab. Das Gericht sieht keine Veranlassung, an deren Richtigkeit zu zweifeln. [...]

Nach alledem kann bezogen auf den Raum Kabul nicht davon die Rede sein, dass jeder dorthin zurückkehrende Afghane derzeit berechtigter Weise Sorge haben muss, alsbald Opfer eines Übergriffs oder Anschlags zu werden oder sonst aufgrund der dort herrschenden Verhältnisse in Lebensgefahr zu geraten oder Verletzungen zu erleiden, mithin individuell ernsthaft bedroht zu werden (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Juni 2008 – 20 A 2530/07.A und 20 A 2454/07.A, zitiert nach juris). Zwar kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden, dass ein Rückkehrer in diesem Sinne zum Opfer von Gewalttaten seitens regierungsfeindlicher oder sonstiger Akteure z. B. mit kriminellem Hintergrund wird. Dies allein reicht im vorliegenden Zusammenhang jedoch – wie oben dargestellt – nicht. Angesichts der geforderten hohen Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung bedarf es vielmehr einer gewissen Dichte gefährlicher Vorkommnisse, um von einer ernstlichen Bedrohung sprechen zu können. Hierbei ist die Häufigkeit entsprechender Ereignisse in Relation zur Größe des betrachteten Gebiets zu setzen (OVG, a.a.O.). Für Kabul fehlt es gegenwärtig an belastbaren Tatsachenfeststellungen, die darauf hindeuten, dass es im gesamten Stadtgebiet jederzeit und so häufig zu Gewalttaten kommt, dass jeder Rückkehrer hiervon mit hoher Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit betroffen sein wird. Die Zahl der Attentate ist nach den oben wiedergegebenen Erkenntnissen in den letzten Monaten des Jahres 2010 deutlich rückläufig gewesen. Nichts spricht dafür, dass sich hieran seither etwas geändert hat. Wenngleich es um herausragende Ereignisse wie Präsidentschaftswahlen zu einer Häufung von Gewaltakten kam, erscheint die Lage im Übrigen recht ruhig und es zeigen sich Anschlagsschwerpunkte im Bereich öffentlicher Einrichtungen sowie in der Nähe des Sitzes internationaler Organisationen. Diese Gebiete mit erhöhter Gefährdung sollte und kann ein Rückkehrer weitgehend meiden.

Was die Gefahr betrifft, als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland erkannt, für vermögend gehalten und deshalb Opfer von kriminellen Übergriffen zu werden, fehlt es bereits an aussagekräftigen Opferzahlen, um beurteilen zu können, wie wahrscheinlich ein solches Schicksal ist. Für eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht jedenfalls nichts. Die oben bereits angesprochene österreichische Kommission teilte in ihrem Bericht vom Dezember 2010 diesbezüglich mit, es sind kaum Fälle bekannt, bei denen Rückkehrer Opfer von Verbrechen wurden (4.2., S. 16). [...] Im Übrigen kann er der Gefahr, Opfer habgieriger krimineller Kreise zu werden, dadurch entgegenwirken, dass er sich nach einer Rückkehr den Verhältnissen in seiner Heimatstadt möglichst schnell anpasst. Mit entsprechender Kleidung sowie unauffälligem Benehmen wird er schwerlich als Rückkehrer auszumachen sein und nicht ohne Weiteres in den Verdacht geraten, vermögend zu sein. Ebenso wenig muss er andere darauf aufmerksam machen, dass er nicht besonders religiös ist. Die Millionenstadt Kabul mit ihrer Vielzahl ausländischer Helfer und Zuwanderern aus allen möglichen Ländern weist keine homogene Bevölkerung auf, was dem Rückkehrer die Eingliederung erleichtern dürfte, selbst wenn er zuvor im europäischen Ausland gelebt und dort eine gewisse Prägung erfahren hat.

Einer Abschiebung des knapp 31-jährigen Klägers stehen aber auch keine anderen allgemeinen Gefahren für die Schutzgüter des § 60 Abs. 7 AufenthG entgegen, wie sie z.B. durch einen Mangel an (beheizbarem) Wohnraum, Nahrung oder medizinischer Versorgung hervorgerufen werden können. Für einen aktuellen Bedarf an medizinischer Versorgung ist in seinem Falle nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich. Somit bedarf es keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, ob die vom Auswärtigen Amt im Lagebericht vom 27. Juli 2010 auch für die Stadt Kabul als für die Bevölkerung noch nicht hinreichend beschriebene medizinische Versorgung zu einer Extremgefahr führen kann, welche es verfassungsrechtlich gebietet, die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG zu durchbrechen und Abschiebungsschutz nach Satz 1 des Absatzes 7 der Norm zuzusprechen.

Was die Wohnraumsituation sowie die sonstige Grundversorgung für Rückkehrer betrifft, die – wie vom Kläger für seine Person vorgetragen – nicht in einen Familienverband oder ein sonstiges soziales Netzwerk zurückkehren können, sind anfängliche Schwierigkeiten zwar nicht von der Hand zu weisen. Das Gericht vermochte sich vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Erkenntnisse und angesichts der persönlichen Situation des Klägers aber nicht davon zu überzeugen, dass ihm wegen zu erwartender Versorgungsengpässe in seiner Heimatstadt Kabul mit der geforderten hohen Wahrscheinlichkeit alsbald schwerste Beeinträchtigungen im oben genannten Sinne drohen.

Nicht zu bestreiten ist, dass die Versorgungslage auch in der afghanischen Hauptstadt angespannt ist. Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, a.a.O., S. 33). Allerdings zeigte sich nach einer vergleichsweise guten Ernte 2009 eine signifikante Verbesserung der Gesamtversorgungslage im Land. Für 2010 wurde zum Berichtszeitpunkt wiederum eine überdurchschnittlich gute Ernte erwartet, wenn auch nicht auf dem Niveau des Vorjahres. Das Auswärtige Amt spricht von verbesserten Rahmenbedingungen, von welchen grundsätzlich auch Rückkehrer profitiert haben dürften. Die in Afghanistan verbreitete Armut führt nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes dennoch landesweit vielfach zu einer Mangelernährung. Hinzu kommen nach dem Lagebericht Schwierigkeiten, in den Städten Wohnraum zu angemessenen Preisen zu finden. Da staatliche soziale Sicherungssysteme praktisch nicht existieren, liegt die soziale Absicherung in Afghanistan traditionell bei den Familien und Stammesverbänden, so dass Afghanen, die außerhalb des Familienverbandes oder nach einer längeren Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehren, nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes auf größere Schwierigkeiten stoßen als Rückkehrer, die in Familienverbänden geflüchtet sind oder in einen solchen zurückkehren, da ihnen das notwendige soziale oder familiäre Netzwerk sowie die erforderlichen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlen. Sie können in ihrer Umgebung auf übersteigerte Erwartungen bezüglich ihrer finanziellen Möglichkeiten treffen, so dass von ihnen für alle Leistungen überhöhte Preise gefordert werden. Auch könnten sie auf Akzeptanzprobleme bei den durchgehend in Afghanistan verbliebenen Mitbürgern stoßen (Lagebericht, a.a.O.). Das Auswärtige Amt weist in seinem Bericht andererseits darauf hin, dass Afghanen, die in den Kriegs- und Bürgerkriegsjahren im westlichen Ausland Zuflucht gesucht haben, von dort in der Mehrzahl der Fälle höhere Finanzmittel, eine qualifiziertere Ausbildung und umfangreichere Fremdsprachenkenntnisse mitbringen als Afghanen, die in die Nachbarländer geflüchtet sind. Das verschafft ihnen bei der Wiedereingliederung einen deutlichen Vorteil.

Auf den Kläger bezogen ist festzustellen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Lage sein wird, den Schwierigkeiten der Reintegration zu trotzen, ohne hierbei wegen der zuvor angesprochenen Versorgungsprobleme im Heimatland einer Extremgefahr ausgesetzt zu sein. Wenngleich er Afghanistan nach seinen letzten Angaben bereits im Alter von rd. zehn Jahren verlassen hat und sich seit 1995 in Deutschland aufhält, ist er doch seinerzeit nicht allein, sondern in einem Familienverband ausgereist. Mit ihm verließen seine Mutter und fünf Geschwister das Heimatland. Die Mutter sowie vier Geschwister leben auch heute noch und seinen Angaben nach mit Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland, drei Schwestern sogar als deutsche Staatsangehörige. Zudem sollen sich Geschwister in den Niederlanden bzw. Großbritannien aufhalten. Selbst wenn keiner dieser Familienangehörigen mit ihm zusammen nach Afghanistan zurückkehren wird und er dort tatsächlich auf keinerlei familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk treffen sollte, kann schon nach der vom Auswärtigen Amt beschriebenen afghanischen Tradition davon ausgegangen werden, dass seine soziale Absicherung über die weiter im europäischen Ausland verbleibenden nahen Familienangehörigen erfolgen wird, sofern er tatsächlich außer Stande sein sollte, sich nach einer Abschiebung selbst zu behelfen. Zumindest ist nicht damit zu rechnen, dass die Familie ihn sich selbst überlassen wird, wenn er im Heimatland in eine existenzbedrohende Krise geraten sollte, weil er nicht oder nicht sogleich über ausreichende Mittel verfügt, um sich mit Nahrung, warmer Kleidung, Wohnraum und Heizmaterial zu versorgen. Es steht zu erwarten, dass es ihm aus Kabul heraus möglich sein wird, sich telefonisch oder per Internet mit seinen Angehörigen in Verbindung zu setzen, sobald er Hilfe benötigt. Diese kann mittels Geldüberweisungen erfolgen. In Afghanistan gibt es 17 verschiedenen Banken, darunter zwei staatliche, einige ausländische und auch einige lokale Banken, wobei in jeder Provinz zumindest eine Bank existiert und die Mehrheit der Banken klassisches Banking unter anderem mit Geldüberweisungen und Geldautomaten betreibt (Bericht der österreichischen Fact Finding Mission vom Dezember 2010, Pkt. 7.6., S. 46). Da auch zu erwarten steht, dass der Kläger im Falle der Abschiebung nicht völlig mittellos ausreisen, er vielmehr zumindest über eine Erstausstattung an Kleidung und gewisse Barmittel verfügen wird, zudem seine Rückkehr auch schon von hier aus vorbereiten und mit in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen Kontakt mit dem Ziel aufnehmen kann, beratende oder gar tätige Integrationshilfen zu erhalten (zu Hilfsangeboten für Rückkehrer u. a. über das AGEF-Programm siehe den vorgenannten Kommissionsbericht Pkt. 4.7., S. 21 ff. [22]), kann davon ausgegangen werden, dass er trotz des langen Auslandsaufenthalts, fehlender Berufsausbildung und ohne die Beherrschung der afghanischen Schriftsprache vergleichsweise günstige Startbedingungen vorfinden wird. Immerhin ist er gerade knapp 31 Jahre alt und verfügt über Deutschkenntnisse, welche ihm die Arbeitsaufnahme bei deutschen oder zumindest deutschsprachigen Stellen in Kabul erleichtern könnte.

Bei der beschriebenen persönlichen Situation des Klägers bedarf es keines näheren Eingehens auf die von ihm in Bezug genommene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 14. Mai 2009 – A 11 S 610/08 -; ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 6. Mai 2008 – OVG 6 A 10749/07 -), wonach eine extreme allgemeine Gefahrenlage auch dann bestehen kann, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert oder in hinreichender zeitlicher Nähe zu seiner Rückkehr in einen unausweichlichen Prozess körperlichen Verfalls mit lebensbedrohlichen Folgen geraten würde. Allerdings sei angemerkt, dass es bereits an Erkenntnissen fehlt, die mit dem gebotenen Wahrscheinlichkeitsgrad auf ein solches Schicksal eines unfreiwillig nach Afghanistan zurückkehrenden alleinstehenden, arbeitsfähigen, männlichen afghanischen Staatsangehörigen, der dort nicht mit der Hilfe von Verwandten oder Bekannten bei einer (Wieder-) Eingliederung rechnen kann, schließen lassen (siehe hierzu auch dass das Urteil des OVG Koblenz aufhebende und die Sache zurückverweisende Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2010 – BVerwG 10 C 10.09 -). Jedenfalls gehört der Kläger auch wegen seines familiären Hintergrunds keinem solchermaßen von einer folgenschweren Mangelernährung gefährdeten Personenkreis an.

Soweit der Kläger auf die im Falle seiner Abschiebung drohende Trennung von seinem in Deutschland lebenden Kind sowie seine weitere Familienplanung hinweist, beruft er sich auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, welche nicht Gegenstand dieses asylrechtlichen, auf zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote beschränkten Verfahrens sind. [...]