VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 03.06.2011 - 1 B 21/11 - asyl.net: M18652
https://www.asyl.net/rsdb/M18652
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Überstellung nach Italien.

1. Die Rechtsprechung des EGMR ist dahingehend zu berücksichtigen, dass vorläufiger Rechtsschutz in den Fällen möglich ist, in denen die beabsichtigte Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen kann. Dies kann auch bei einem Unterlassen (aufgrund entsprechender Schutzpflichten) gebotener Maßnahmen zur Existenzsicherung der Fall sein. Der Ausländer kann in diesen Fällen eine gründliche Prüfung seines Einwands bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren beanspruchen.

2. Dem Antragsteller droht mit erheblicher Wahrscheinlichkeit in Italien eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK dadurch, dass er dort ohne Unterkunft in extremer Armut und ohne medizinische Versorgung leben müsste und er sich auch nicht selbst helfen könnte.

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, Italien, Suspensiveffekt, Aufnahmebedingungen, Existenzminimum, unmenschliche Behandlung, Konzept der normativen Vergewisserung,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VwGO § 80 Abs. 5, EMRK Art. 3, EMRK Art. 2 Abs. 1, EMRK Art. 13
Auszüge:

[...]

Die angemessene Berücksichtigung der genannten Entscheidungen des EGMR führt dazu, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG auch in den Fällen des § 27a AsylVfG in einer durch die entsprechenden Grundrechte des Grundgesetzes (Art. 2 Abs. 2 GO und Art. 19 Abs. 4 GO) gebotenen verfassungskonformen Auslegung insoweit einschränkend auszulegen ist, als dass vorläufiger Rechtsschutz in den Fällen möglich ist, in denen der betroffene Ausländer sich gegen eine beabsichtigte Abschiebung in einen anderen Mitgliedsstaat wegen einer ihm dort drohenden gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung, die eben auch in einem Unterlassen aufgrund entsprechender Schutzpflichten gebotener Maßnahmen zur Existenzsicherung bestehen kann, wendet. Der Ausländer kann dabei eine gründliche Prüfung dieses Einwands bereits im vorläufigen Rechtsschutzverfahren beanspruchen, wenn in Betracht kommt, dass ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr laufen wird, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Angesichts des in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mal 1996 (a.a.O.) gesteckten recht weiten Rahmens für eine verfassungskonforme Auslegung über den Wortlaut des § 34a AsylVfG hinaus, der bereits Fälle des Art. 3 EMRK (der betroffene Staat wird selbst zum Verfolgerstaat) beinhaltet, dürfen auch insoweit die Grenzen einer zulässigen verfassungskonformen Auslegung noch eingehalten sein.

Der Antragsteller macht unter Bezugnahme auf zahlreiche einschlägige Erkenntnismittel geltend, dass es ihm nicht möglich sei, seine Asylgründe in Italien noch uneingeschränkt vorzubringen und mit dem Standard europäischen Flüchtlingsschutzes unvereinbare Einschränkungen in Italien bestünden.

Der Antrag ist begründet.

Das Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung des Bescheides vom 20. April 2011 überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Bescheides, weil überwiegende Anhaltspunkte dafür sprechen, dass der Bescheid rechtswidrig ist und dem Antragsteller durch eine sofortige Vollziehung des Bescheides schwerwiegende, unzumutbare und irreparable Nachteile entstehen können.

Die Abschiebungsanordnung der Antragsgegnerin ist voraussichtlich rechtswidrig, weil einer der oben genannten Ausnahmefälle vorliegt. Es liegen ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür vor, dass der Antragsteller im Falle seiner Abschiebung nach Italien tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Dem Antragsteller droht mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dadurch, dass er bei einer Rückkehr nach Italien ohne die Gewährung von Unterkunft in extremer Armut und ohne ein Mindestmaß medizinischer Betreuung leben müsste und er sich auch nicht selbst helfen könnte. Ob dem Antragsteller daneben auch kein hinreichender Zugang zum Asylverfahren eröffnet wäre und ob weitere in der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedsstaaten für die Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedsstaaten vorgegebenen Grundsätze im Falle des Antragstellers in Italien nicht eingehalten wären, braucht mangels Entscheidungserheblichkeit für dieses Verfahren nicht geklärt zu werden.

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln stellt sich die Situation für Flüchtlinge in Italien wie folgt dar:

Ein Asylantrag kann bei einer Polizeidienststelle an der Grenze oder bei dem lokalen Polizeipräsidium (Questura) gestellt werden. Anschließend wird der Antrag an eine der 10 Territorialkommissionen (erste Instanz) zur Anhörung weitergeleitet. Ein Antragsteller wird vom Asylverfahren ausgeschlossen, wenn er bereits anerkannter Flüchtling ist oder wenn es sich um einen wiederholten Antrag handelt, der keine neuen Elemente enthält. Falls der Antragsteller zum Asylverfahren zugelassen wird, erhält er eine Aufenthaltsgenehmigung für Asylsuchende, sofern gültige Identitätspapiere vorliegen. Fehlen diese, kann ein Antragsteller zur Abklärung der Identität in einer speziellen Einrichtung zur Klärung der Identität für 20 Tage untergebracht werden. Die Territorialkommission setzt sich aus vier Personen, unter anderem einem Vertreter das UNHCR, zusammen. Für die Durchführung einer Anhörung muss nur ein Mitglied anwesend sein. Mindestens drei Mitglieder müssen anwesend sein, damit die Territorialkommission einen Asylentscheid treffen kann. Das geltende Gesetz schreibt vor, dass über ein Asylgesuch innerhalb von 30 Tagen nach der Eingabe zu entscheiden ist. Deshalb ist auch die staatliche Unterstützung für Asylsuchende auf 45 Tage beschränkt. In der Regel dauert das Asylverfahren aber erheblich länger. Daneben gibt es in bestimmten Fällen beschleunigte Verfahren. Nach Erhalt eines negativen Asylentscheides kann Klage erhoben werden. Soweit die Klage keine aufschiebende Wirkung hat, kann das Gericht diese anordnen (Bericht des Schweizer Bundesamtes für Migration, Hintergrundbericht Mila, Italien Asylverfahren, vom 23. September 2009, S. 3/4).

Die Anerkennungsquote variiert beträchtlich von Kommission zu Kommission (Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht, Rückschaffung in den "sicheren Drittstaat" Italien, November 2009). Die meisten Asylsuchenden aus Eritrea, Äthiopien und Somalia erhalten in Italien irgendeine Form von Schutz und damit auch ein Aufenthaltsrecht. Der Flüchtlingsstatus wird relativ selten zugesprochen, der subsidiäre Schutz häufig und darüber hinaus auch ein besonderer humanitärer Schutzstatus (Bethke/Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien, Bericht vom 28. Februar 2011 über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010).

Die Angaben zur Dauer der persönlichen Anhörung im Asylverfahren sind unterschiedlich. Nach dem Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht vom November 2009 differiert die Dauer der Befragung von wenigen Minuten bis zu einer halben Stunde. Nach dem Tagungsbericht über die 13. Europäische Asylrechtstagung Italien vom 24. bis 28. Oktober 2010 in Palermo (alle Nachweise über diese Tagung auf der Internetpräsenz der Evangelischen Landeskirche in Baden unter www.ekiba.de/6313_14233.php) über ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der auf Sizilien tätigen Kommission dauert die Anhörung zwischen zwei und fünf Stunden, wird von einem Dolmetscher begleitet, die Antworten wurden rückübersetzt und vom Flüchtling unterschrieben, um sicherzustellen, dass er/sie alle Fragen verstanden hat. Nach der Anhörung erfolgt die Entscheidung innerhalb von drei Tagen mit einer qualifizierter Mehrheit der Kommissionsmitglieder. Nach dem Tagungsbericht über einen Erfahrungsaustausch mit im Flüchtlingsrecht tätigen Rechtsanwälten/-innen habe ein Rechtsanwalt deutlich gemacht, dass er die Zusammenarbeit mit der zuständigen Kornmission für sehr akzeptabel halte. Er habe den Eindruck, dass man den Flüchtlingen zuhöre. In den letzten Jahren sei das Verfahren deutlich transparenter geworden. Der Flüchtling erhalte einen Bericht über die Anhörung. Ein Anwalt könne auch Fragen stellen. In Zeiten hoher Zugangszahlen habe es aber hohen Druck gegeben und es seien Fehler entstanden. Auch seien Probleme mit dem Dolmetschen aufgetreten. Es habe sich gezeigt, dass nach Übernahme der Qualifikationsrichtlinie in das italienische Recht der subsidiäre Schutz nicht alle humanitären Fragen abdecken könne. Deshalb könne die Kommission eine Aufenthaltserlaubnis aus weiteren humanitären Gründen anregen (Bericht über die 13. Europäische Asylrechtstagung in Palermo).

Andererseits wird berichtet, dass die Situation für Bootsflüchtlinge am dramatischsten sei. Bootsankömmlinge erhielten oft kein reguläres Asylverfahren. Überlastete Questuren nähmen Asylanträge vielfach nicht an oder ließen sie sehr lange liegen, vor Ort gebe es keine Anwälte und keinen Richter, die Betroffenen erhielten meist keine Information über das Asylverfahren, zudem seien vielfach keine Übersetzer vor Ort. Je nach Kommission würden Asylanträge nicht individuell eingehend geprüft, sondern nach dem Herkunftsland entschieden. Asylsuchende aus Ländern, mit denen Italien ein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen habe, würden praktisch nie als Flüchtlinge anerkannt (Schweizerische Beobachtungsstelle, a.a.O., S. 4). Im Jahre 2009 fällten die italienischen Behörden die Entscheidung, aus Seenot gerettete Flüchtlinge ohne Prüfung ihrer Fluchtgründe und eines eventuellen Anspruchs auf internationalen Schutz nach Libyen zurückzubringen (amnesty international, Jahresbericht 2010 Italien).

Grundsätzlich ist vorgesehen, Asylsuchende zunächst in einem Aufnahmezentrum für Asylsuchende (CARA) unterzubringen. In Italien stehen 40 Aufnahmezentren mit rund 8.000 Plätzen zur Verfügung. Nach Schätzung der Fürsorgeorganisation SPRAR werden rund 60 % aller Asylsuchenden während ihres Verfahrens In einem CARA untergebracht. Die Aufenthaltsdauer in einem CARA betrug im Jahre 2009 maximal 35 Tage (Schweizer Bundesamt für Migration, Bericht vom 23. September 2009, S. 6). In dem Bericht der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht heißt es, dass die Aufnahmezentren insbesondere in Süditalien völlig überlastet seien. In den Identifikations- und Abschiebungszentren (CIE) werden diejenigen untergebracht, die illegal eingereist sind und kein Asylgesuch stellen können sowie Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt worden ist und die in ihren Heimatstaat oder einen Drittstaat abgeschoben werden sollen. Die Aufenthaltsdauer In einem CIE wurde im Jahre 2009 auf maximal 180 Tage erhöht (Schweizer Bundesamt für Migration, a.a.O., S. 5). In einem Bericht der Organisation Ärzte ohne Grenzen (Over the wall, A tour of Italy's migrant centers, Medicins sans Frontieres, Januar 2010) wird beschrieben, dass die Betreuung in den Zentren unterschiedlich sei, in manchen Zentren sei der Zugang zu qualifizierter medizinischer Hilfe und Rechtsrat schwierig, es bestünden keine einheitlichen Standards. Es ergibt sich aber auch aus dem Bericht, dass in den Zentren grundsätzlich medizinische und psychologische Hilfe möglich ist ebenso wie der Zugang zu weiteren Beratungsangeboten.

In Italien wurde im Jahre 2002 das Unterstützungssystem (SPRAR) eingeführt. Dieses System ist staatlich finanziert, aber lokal und auf Projektbasis organisiert. Neben Unterkunft, wenn die Asylsuchenden nicht schon in einem CARA oder in einem CIE untergebracht sind, werden den Asylsuchenden andere Fürsorgeleistungen wie medizinische Versorgung, Bildungsmöglichkeiten und weitere Unterstützungsdienstleistungen wie Übersetzungen, Begleitung bei Amtsgängen usw. angeboten. Die Unterstützungsstruktur SPRAR ist auch in den CARA, den CIE und an den wichtigsten Grenzübergängen präsent (Schweizer Bundesamt für Migration; a.a.O., S. 5). Insgesamt gibt es ca 2.000 Aufnahmeplätze in dem System, in den Erstaufnahmeeinrichtungen 500. Die Asylsuchenden, die in den SPRAR-Einrichtungen aufgenommen werden, waren zuvor in einer Einrichtung von CARA. Sie können dann meist nach einem Monat in eine SPPAR-Aufnahmeeinrichtung, in der sie bis zu sechs Monaten bleiben können.

Die beschriebenen Hilfemöglichkeiten stehen jedoch nur einem geringen Teil der Flüchtlinge tatsächlich zur Verfügung. Das SPRAR-Hilfesystem ist nicht nur für Asylsuchende zuständig, sondern auch für anerkannte Flüchtlinge und sonstige Schutzbedürftige. Die Anzahl ist für ganz Italien begrenzt auf ca. 3.000 Plätze. Werden die betroffenen Flüchtlinge aus den Zentren entlassen oder erhalten erst gar nicht einen Platz, sind sie häufig auf sich allein gestellt. Es gibt keine Unterstützung durch Sozialleistungen, was allerdings der fehlenden sozialen Unterstützung für italienische Staatsangehörige entspricht (Bericht 13. Europäische Asylrechtstagung, a.a.O., Aufnahmebedingungen von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Italien). Im Jahr 2008 haben 31.100 Personen um Asyl nachsucht (Schweizer Bundesamt für Migration, a.a.O., S. 1).

Asylbewerber, die gemäß Dublin-Verfahren nach Italien zurückgebracht werden, treffen in der Regel am Flughafen Rom oder Mailand ein, dort werden sie von der Polizei in Empfang genommen. Falls sie kein Recht auf Asylgesuchstellung haben und abgeschoben werden sollen, werden sie direkt in ein CIE gebracht. Die anderen Personen werden in der Regel sich selbst überlassen. Personen, die vor ihrer Ausreise aus Italien ein laufendes Asylverfahren hatten, können gemäß Caritas Rom nach ihrer Rückkehr die Neuaufnahme ihres Asylverfahrens beantragen. Nach einer rechtskräftigen Ablehnung des Asylgesuchs kann ein zweites Asylgesuch beantragt werden, wenn neue Tatsachen geltend gemacht werden (Schweizer Bundesamt für Migration, a.a.O.)., S. 6).

Die Wartelisten für SPRAR-Plätze sind so lang, dass für viele Bedürftige keine realistische Perspektive auf Unterbringung in den Projekten besteht. Die Zahl der SPRAR-Plätze wurde 2009 gegenüber 2008 sogar roch reduziert. Die lokalen Partner, die die SPRAR-Projekte betreiben, tun dies freiwillig. Es gibt keine Verpflichtung der Kommunen, eine gewisse Zahl von Plätzen zur Verfügung zu stellen. Außerhalb des SPRAR Systems gibt es einzelne lokale kommunale und private Unterbringungsprojekte, die jedoch nicht die massenhafte Wohnungslosigkeit beseitigen können. Zum Teil handelt es sich dabei um reine Schlafunterkünfte, die nur in den Nachtstunden genutzt werden können. Diese Verhältnisse führen dazu, dass viele Asylsuchende und Asylberechtigte auf der Straße leben, auf Brachflächen oder in besetzten Häusern. Diese Orte sind jedoch nicht geeignet, um von den Betroffenen als fester Wohnsitz bei den Behörden angegeben zu werden. Ein fester Wohnsitz - die sogenannte residenza - ist jedoch Grundvoraussetzung für den Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung. Der Wohnsitz muss eine reale Adresse haben und die Behörden sind befugt, sich vor Ort davon zu überzeugen, dass der Antragsteller tatsächlich dort wohnt (Bethke/Bender, a.a.O., S. 9, 20).

Die betroffenen obdachlosen Flüchtlinge sind damit beschäftigt, kostenlose Essens-, Kleider- und Hygieneangebote oder kostenlose Schlafmöglichkeiten zu finden, insbesondere die kirchlichen Versorgungsangebote sind in den Städten Rom und Turin in der Lage, einen Teil der Nachfrage nach Nahrungsmitteln abzusichern. Allerdings sollen weniger durchsetzungsfähige Menschen berichtet haben, dass sie im Ringen um die begrenzten Angebote regelmäßig unterliegen und deshalb selbst ihre existenziellen Bedürfnisse nicht sicherstellen können. Bei Wohnraum stößt die nichtstaatliche Hilfe an ihre Grenzen. Dies hat dazu geführt, dass die betroffenen Flüchtlinge vielerorts leerstehende Häuser oder Brachflächen besetzt haben. So leben in der ehemaligen somalischen Botschaft in Rom in der Nähe des Hauptbahnhofes über 100 Personen, ca. 50 Personen übernachten in einer offenen Garage. Eine Wasserversorgung gibt es dort ebenso wenig wie Heizung oder Strom oder sanitäre Anlagen. In anderen Häusern leben 400 bis 500 Menschen ohne Heizmöglichkeit, die Menschen schlafen dort auf Matratzen, Pappkartons oder untergelegten Decken. Einige Bewohner berichteten, dass die italienischen Behörden ihre Kinder in Obhut genommen hätten, weil die kindgerechte Unterbringung an diesen Orten nicht sichergestellt sei und die Eltern keinen besseren Wohnraum nachweisen konnten (Bethke/Bender, a.a.O., S. 11 bis 15). Weit über 100 Personen haben sich in Rom auf brachliegenden Flächen provisorische Behausungen aus Wellblech, Brettern und Plastikplanen gebaut. Eine große Anzahl von Flüchtlingen lebt ganz ohne Obdach (Bethke/Bender a.a.O., S. 19).

Die besetzten Häuser und die Brechflächen sind auch Anlaufstelle für eine große Anzahl von Personen, die im Rahmen der Dublin II-VO nach Italien zurücküberstellt werden. Der UNHCR Rom bezeichnete die ehemalige somalische Botschaft schon im Jahre 2004 als typische Unterkunft für aus anderen europäischen Ländern nach Italien rücküberstellte Personen. Da ihnen ohnehin kein Anspruch auf Wohnraum oder existenzsichernde Sozialleistungen zusteht, werden die Betroffenen sich selbst überlassen.

Die gelegentlich behauptete bevorzugte Behandlung von Dublin-Rückkehrern gibt es praktisch nicht. Laut offiziellem Bericht der SPRAR wurden lediglich 12 % der Dublin-Rückkehrer in den Jahren 2008 und 2009 nach ihrer Ankunft in ein SPRAR-Projekt vermittelt, im Jahre 2009 erhielten von 2.608 Überstellten ca. 314 Personen einen Platz in einer Unterkunft (Bethke/Bender, a.a.O., S. 23). Personen, die in einem anderen europäischen Land wegen einer diagnostizierten posttraumatischen Belaetungsstörung in (zum Teil auch medikamentöser) psychiatrischer Behandlung gewesen waren, konnten diese nach der Überstellung nach Italien nicht fortsetzen. Der statistische Jahresbericht 2009 des SPRAR listet für ganz Italien drei Projekte mit insgesamt 17 Unterkunftsplätzen für besonders schutzbedürftige Personen mit psychiatrischem Behandlungsbedarf auf. Die 17 Plätze sind allerdings bei Nachfragen im Juni 2010 und im Oktober 2010 alle belegt gewesen, so dass für traumatisierte Dublin-Rückkehrer keine Möglichkeit einer Behandlung dort bestand. Wer keinen Wohnsitz nachweisen kann, hat auch große Schwierigkeiten. eine legale Arbeit zu finden (Bethke/Bender, a.a.O., S. 22),

Die genannten Probleme werden auch in der Bewertung des Schweizer Bundesamtes für Migration in seinem Bericht vom 23. September 2009 bestätigt. Dort heißt es, dass das einzige staatlich alimentierte Fürsorgesystem SPRAR nur einen Bruchteil der Asylsuchenden unterstützen kann. Die privaten Hilfsstrukturen seien zwar eine willkommene Ergänzung, jedoch schienen auch hier zu wenig Mittel verfügbar zu sein. Zudem sei die Situation unübersichtlich. Für Asylsuchende könne es mithin schwierig werden, Zugang zu finanzieller oder anderer Unterstützung zu erhalten. In großen Städten wie Rom oder Mailand gebe es gravierende Probleme mit obdachlosen Asylsuchenden. Auch illegale Barackensiedlungen seien an den Rändern der größeren Städte keine Seltenheit.

Die Lage dürfte sieh gegenwärtig durch die große Anzahl von Bootsflüchtlingen, die die italienische Insel Lampedusa erreichen und auf andere Orte in Italien verteilt werden sollen (vgl. Bericht Spiegel-Online, Tausende Flüchtlinge überfordern Lampedusa vom 22. März 2011), noch verschärfen.

Unbegleitete Minderjährige als auch Minderjährige mit nur einem Elternteil gelten als verletzliche Personen. Der Schutz dieser Flüchtlinge ist jedoch in Italien ganz unterschiedlich ausgestaltet.

Für unbegleitete Minderjährige sind in dem SPRAR-System lediglich 134 Plätze bestimmt. Die Mehrheit dieser Flüchtlinge wird allerdings in besonderen Jugendhilfeeinrichtungen betreut, für Unterkunft und Verpflegung ist gesorgt. Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge werden nicht abgeschoben, sie können in diesen Einrichtungen, die in ihrem Betreuungsangebot nicht unbedingt auf Flüchtlinge spezialisiert sein müssen, bis zum Alter von 18 Jahren und 3 Monaten bzw. 6 Monaten bleiben (Asylum procedure and reception conditions in Italy, Report on the situation of asylum seekers, refugees and persons under subsidiary or humanitarian protection, with focus an Dublin returnees, The Law Students' Legal Aid Office, Juss-Buss, Norway, Swiss Refugee Council, SFH/OSAR (Schweizerische Flüchtlingshilfe), Switzerland, May 2011, zu finden unter www.proasyl.de/de/news/detail/news/dramatische _zustaende_in_italien/download; Bethke/Bender, Zur Situation von Flüchtlingen in Italien, Bericht vom 28. Februar 2011 über die Recherchereise nach Rom und Turin im Oktober 2010, einzusehen im Internet unter www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2011/Italienbericht_FINAL -15MAERZ2011.pdf ; Studie von France Terre d‘Asile und CIR zur Lage von unbegleiteten Minderjährigen (zu finden unter www.i-red.eu). Unbegleitete Minderjährige müssen einen Vormund haben, dafür werden unbezahlte Freiwillige eingesetzt. Wegen des Personalmangels kann sich die Bestimmung eines Vormundes hinziehen. Viele unbegleitete Minderjährige erklären sich allerdings aus verschiedenen Gründen für volljährig oder verlassen die Betreuungseinrichtungen (vgl. Jass-Buss, SFH/OSAR (Schweizerische Flüchtlingshilfe), a.a.O. S. 24).

Minderjährige in Begleitung eines Elternteils werden in der Regel nicht in diesen Einrichtungen untergebracht. Es ist aber möglich, dass dieser Personenkreis einen verlängerten Aufenthalt in den verschiedenen Zentren für Flüchtlinge erhält. Sobald diese Verlängerung abgelaufen ist, haben sie diese Zentren jedoch unabhängig davon zu verlassen, ob sie schon einen Schutzstatus erhalten haben. Insbesondere verletzliche Personen sind häufig nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten, einige finden eine Unterkunft in einem besetzten Gebäude, andere leben auf der Straße in extremer Armut, ohne Aussicht, ihre persönliche Lebenssituation au verbessern (vgl. Juss-Buss, SFH/OSAR (Schweizerische Flüchtlingshilfe), a.a.O. S. 23).

Vor dem Hintergrund der geschilderten Erkenntnisse ist ernsthaft zu befürchten, dass der Antragsteller mit seiner Familie bei einer Abschiebung nach Italien infolge mangelnder Hilfen keine menschenwürdige Unterkunft oder notwendige medizinische Versorgung finden wird. Es ist zwar möglich, dass der Antragsteller ein Asylverfahren durchführen könnte bzw. bei Vorliegen neuer Tatsachen einen weiteren Asylantrag stellen könnte, falls ein Asylantrag bereits abgelehnt worden ist. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Antragsteller etwa in einem Aufnahmezentrum, einer SPRAR-Einrichtung oder einer Jugendhilfeeinrichtung betreut werden würde. Sollte die Familie aus einer Mutter mit zunächst 4 minderjährigen Kindern bereits In Italien in einem Zentrum für Flüchtlinge gelebt haben und dieses verlassen haben, worauf der Eurodac-Treffer hindeutet, hätten sie überhaupt keinen Anspruch auf erneute Aufnahme in einer solchen Einrichtung. Aber selbst wenn es gelingen sollte, einen Platz zu erhalten, wäre dort allenfalls ein zeitlich eng begrenzter Aufenthalt möglich. Angesichts der hohen Anzahl der gegenwärtig nach Italien kommenden Flüchtlinge und der stark begrenzten Aufnahmekapazitäten müsste die Familie auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ernsthaft damit rechnen, ohne Unterkunft in extremer Armut in Italien zu leben, selbst wenn es gelingen sollte, die Ernährung durch die Angebote karitativer Einrichtungen notdürftig sicher zu stellen.

Die Familie wird aller Voraussicht nach auch nicht in der Lage sein, sich anderweitig die für eine menschenwürdige Existenz erforderlichen Dinge, wie eine Unterkunft und notwendige medizinische Versorgung, zu beschaffen. Die Mutter muss sich um jetzt noch 3 minderjährige Kinder kümmern und ist damit in der Möglichkeit, sich selbst zu helfen, eingeschränkt. Ohne offizielle Unterkunft (residenza) ist auch eine Aussicht, eine Arbeit zu erhalten, um so den Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können, in sehr vielen Kommunen, die einen Nachweis der Unterkunft verlangen, stark eingeschränkt. Eine notwendige medizinische Versorgung wäre ebenfalls ohne offiziell anerkannten Wohnsitz nicht zugänglich; die Familie könnte allenfalls bei einem Unfall in den ersten Tagen nach dem Unfall in einem Krankenhaus mit einer Akutbehandlung rechnen (vgl. Bethke/Bender, a.a.O., S. 22). [...]