VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 01.09.2010 - 16 K 3655/10.A - asyl.net: M18660
https://www.asyl.net/rsdb/M18660
Leitsatz:

1. Keine Gruppenverfolgung von Yeziden im Irak.

2. Es kann dahinstehen, ob die anhaltenden Sicherheitsprobleme einen bewaffneten Konflikt im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG darstellen. Jedenfalls mangelt es an einer individuellen Gefährdung des Klägers.

Schlagwörter: Flüchtlingsanerkennung, Irak, Kurden, Yeziden, Abschiebungsverbot, Gruppenverfolgung, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Sicherheitslage, Shekan-Gebiet,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist auch nicht als Mitglied der Gruppe der Yeziden von einer Gruppenverfolgung bedroht.

Ergibt sich die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers nicht aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen, so kann sie sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (vgl. BVerwG, NVwZ 1995, 175 m.w.N.). Die Annahme einer solchen Gruppenverfolgung setzt eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus. Danach ist eine so große Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungsmaßnahmen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, a.a.O., Seite 175 f.).

Diese Voraussetzungen sind für Yeziden derzeit jedenfalls ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft nicht erfüllt. Die Zahl der Yeziden im Irak wird mit etwa 200.000 geschätzt (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. April 2010 unter II. 2.2.2. (5)). Die Mehrzahl siedelt im nördlichen Irak, vor allem im Gebiet um die Stadt Sindschar sowie in Sheikhan. Yeziden sind wie alle Bewohner des Irak von der allgemeinen problematischen Sicherheitslage mit Entführungen, Plünderungen, Zerstörungen, Sprengstoff- und Bombenangriffen betroffen. Indessen ist zusätzlich zu beachten, dass sie wie auch andere religiöse Minderheiten seit dem Sturz des Saddam-Regimes gezielten Übergriffen von radikalen Islamisten ausgesetzt sind.

So verweist das Auswärtige Amt (Lagebericht vom 12.08.2009) auf Berichte über mehrere Dutzend Mordfälle an Yeziden im Jahr 2005 vor allem in den Städten Tal Afar und Sindschar. Täter seien danach Muslime gewesen, die Yeziden für ihr nicht den Regeln des Korans entsprechendes Verhalten hätten "bestrafen" wollen. Am 15. Februar 2007 sei es in der Stadt Scheichan (der Name Ain Sefne steht ebenfalls für diesen Ort) zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen muslimischen Kurden und Yeziden gekommen, bei denen religiöse Zentren der Yeziden, Privathäuser und Geschäfte niedergebrannt worden seien. In Mosul sei am 24. April 2007 ein mit yezidischen Arbeitern besetzter Bus von islamistischen Terroristen überfallen worden, wobei alle 24 Insassen ermordet worden seien. In Sindschar wurden im August 2007 yezidische Dörfer angegriffen, wobei mehrere hundert Yeziden starben (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, EZKS, Auskunft vom 26. Mai 2008 an das Verwaltungsgericht Köln).

Aus den dem Gericht vorliegenden Auskünften des Europäischen Zentrums für kurdische Studien (a.a.O.), der Gesellschaft für bedrohte Völker (vgl. insbesondere Memorandum vom November 2007), des GIGA / Institut für Nahost-Studien (insbesondere Auskunft vom 7. September 2007) und des UNHCR (insbesondere Auskunft vom 28. Juli 2007) ergibt sich indessen, dass die Gefährdung der Yeziden nicht einheitlich für den gesamten Irak und auch nicht einheitlich für die Gebiete zu beurteilen ist, die formal dem Zentralirak zuzuordnen sind. Der nördliche Teil des Sheikhan-Gebietes (Distrikt Shekhan) gehört bereits de jure zu den kurdisch verwalteten nördlichen Provinzen (vgl. EZKS a.a.O., Bl. 1 ff.), in diesen Provinzen, so teilt der UNHCR mit seiner Auskunft vom 28. Juli 2007 mit, seien Yeziden in jüngster Zeit kaum von Übergriffen betroffen gewesen, zumindest sei in diesen Fällen in der Regel Schutz durch kurdische Behörden gewährleistet gewesen.

Dagegen wird in mehreren Auskünften betont, dass die Gefährdung in der Stadt Mosul besonders hoch sei (EKZS, a.a.O., Bl. 19, und Deutsches Orientinstitut, Auskünfte vom 14. Februar 2005 und 12. September 2005. an die Verwaltungsgerichte Köln und Osnabrück).

Das Sheikhan-Gebiet südlich des de jure zum Nordirak zählenden Bereichs (also der Distrikt Al-Shikhan) gehört zu den sogenannten "umstrittenen Gebieten". Hierbei gehen die dem Gericht vorliegenden Auskünfte davon aus, dass es sich um de facto kurdisch verwaltete Gebiete handle (UNHCR, Auskunft vom 8. Juli 2007, Bl. 9, GIGA, Auskunft vom 7. September 2007, Bl. 5; so nach zurückhaltenderen Auskünften ["umstrittene Gebiete unter kurdischem Einfluss"] - vgl. etwa EZKS vom 26. Mai 2008, Bl. 11 ff. nun auch EZKS vom 17. Februar 2010, Bl. 11 Fn. 29). Danach ist die Sicherheitslage für Yeziden etwa im Sheikhan-Gebiet signifikant besser ist als im übrigen Gebiet des Zentralirak, auch als in sonstigen yezidischen Siedlungsgebieten wie dem Sindschar-Gebiet. Das Institut für Nahost-Studien (Auskunft vom 7. September 2007) führt aus, dass für Christen und Yeziden hinsichtlich der Sicherheit vor Übergriffen durch die muslimische Bevölkerung und hinsichtlich sonstiger Gefährdungen keine relevanten Unterschiede zwischen den Gebieten bestehe, die formell an die autonome kurdische Religion angeschlossen seien und den de facto unter kurdischer Herrschaft stehenden Gebieten. Im Sheikhan-Bezirk gebe es Yeziden, die dort völlig unangefochten lebten und keine Befürchtungen wegen ihrer yezidischen Religionszugehörigkeit haben müssten (Auskunft des Orient-Instituts vom 12. September 2005 an das Verwaltungsgericht Osnabrück). Auch nach Einschätzung des EZKS vom 26. Mai 2008, Bl. 17 gehört der Sheikhan zu den "eher sicheren umstrittenen Gebieten unter kurdischem Einfluss" (vgl. a.a.O., Auskunft vom 26. Mai 2008, Bl. 13). Dies hänge mit seiner direkten Anbindung an die de jure kurdisch verwaltete Region zusammen (a.a.O., Bl. 13). In der Auskunft vom 17. Februar 2010 wird die Sicherheitslage als vergleichsweise stabil beschrieben, in der Zeit von Februar 2007 bis September 2008 seien nur fünf Sicherheitsvorfälle registriert.

Im Unterschied hierzu wird die Lage in Sindschar durch das EZKS als außerordentlich prekär eingeschätzt. Hier war es im August 2007 zu den Angriffen gekommen, bei denen mehrere hundert Yeziden starben (a.a.O., Bl. 19). Gerade im Hinblick auf diesen Angriff teilt wiederum die Gesellschaft für bedrohte Völker mit (Memorandum vom November 2007, Bl. 9), es habe die erwartete Fluchtwelle von Yeziden aus dem Gebiet gleichwohl nicht gegeben, u.a. deshalb, weil die Regierung der kurdisch verwalteten Gebiete seit dem 14. August 2007 etwa 400 zusätzliche Polizeikräfte eingesetzt habe, um die yezidische Bevölkerung zu schützen und logistische Hilfe zu leisten. Hinsichtlich der Region Sheikhan wird ausgeführt, es sei von großer Bedeutung, "dass der Terror nicht auf die Region übergreift". Auch aus dieser Stellungnahme wird somit deutlich, dass trotz der auch im nördlichen Irak für Yeziden bestehenden Gefahren zu differenzieren ist. Es kann dagegen nicht festgestellt werden, dass ungeachtet der Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen für alle Angehörigen der Glaubensgemeinschaft, die vielfach die Mehrheit der Dorfbevölkerung darstellen, eine verdichtete Gefährdungslage im Sinne der zitierten Rechtsprechung besteht, bei der jeder Angehörige der Gruppe allein aufgrund seiner Religionszugehörigkeit jederzeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen muss.

Der Kläger kommt aus einem Ort, der unter kurdischer Kontrolle steht. Dabei kann dahinstehen, ob es neben dem Ort ... in der Provinz Shekhan noch einen weiteren Ort gleichen Namens in der Nähe von al-Khosh gibt. Jedenfalls stehen nach Auskunft des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien vom 17. Februar 2010 die Subdistrikte al-Khosh und al-Fayda des Distrikts Tel-Kef unter de facto kurdischer Kontrolle. Damit fehlt für den Kläger jedenfalls in seinem Heimatort ein tragfähiger Anhaltspunkt für eine Gefährdung wegen seiner Religionszugehörigkeit.

Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 S. 2 AufenthG können ebenfalls nicht festgestellt werden. [...]

Die anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge begründen kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Nach dieser Vorschrift werden Angehörige der Zivilbevölkerung geschützt, die im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt sind. Es kann dahinstehen, ob die anhaltenden Sicherheitsprobleme einen bewaffneten Konflikt im Sinne dieser Vorschrift darstellen (vgl. BVerwGE 131, 198 = NVwZ 2008, 474). Jedenfalls mangelt es an einer individuellen Gefährdung des Klägers. Der Schutz des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG entspricht dem sog. "subsidiären Schutz" vor ernsthaftem Schaden gem. Art. 15 der Richtlinie 2004/83/EG. Dieser ist in gleicher Weise für individuelle Bedrohungen vorgesehen. Erwägung 26 der Richtlinie belegt, dass Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt sind, grundsätzlich keine Bedrohung im Sinne der Richtlinie darstellen. Allerdings erfasst die Vorschrift auch den Fall einer außergewöhnlichen Situation, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die betroffene Person der Gefahr individuell ausgesetzt wäre (vgl. EuGH, InfAuslR 2009, 138). Der Grad der willkürlichen Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, ist umso geringer, je mehr er belegen kann, dass er aufgrund der seine persönliche Situation prägenden Umstände spezifisch betroffen ist (vgl. EuGH, a.a.O.). Die Lage im Irak ist nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften nicht von einer so hohen Unsicherheit geprägt, dass jeder Rückkehrer unmittelbar konkret an Leib und Leben gefährdet wäre.

Individuelle Umstände, die eine solche Gefährdung begründen könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich.

Eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann nicht festgestellt werden.

Die anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge begründen - soweit sie unterhalb der Schwelle einer Auseinandersetzung gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG bleiben - auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG werden Gefahren in einem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60a AufenthG berücksichtigt. Daraus und aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG kann entnommen werden, dass allein individuelle Gefahren im Rahmen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG berücksichtigt werden sollen (vgl. BVerwG, DVBl 1996, 203 (204) zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG und BVerwGE 131, 198 = NVwZ 2008, 474).

Allenfalls in Fällen, in denen trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, die oberste Landesbehörde gleichwohl von ihrer Ermessensermächtigung nach § 60a AufenthG keinen Gebrauch gemacht haben, gebieten es die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem einzelnen Ausländer unabhängig von einer Ermessensentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG Abschiebungsschutz zu gewähren (vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG BVerwG a.a.O.). Unabhängig von der Frage einer solchen Verdichtung bedarf es einer Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG im Wege verfassungskonformer Auslegung zur Zeit nicht. Denn gegenwärtig werden aufgrund eines Beschlusses der Innenministerkonferenz in der Regel keine Abschiebungen in den Irak vorgenommen. [...]