VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 01.04.2011 - VG 8 L 809/09 - asyl.net: M18681
https://www.asyl.net/rsdb/M18681
Leitsatz:

Der Gesetzgeber hat den Verbleib des Ausländers im Inland bei noch nicht erteilten Aufenthaltserlaubnissen durch die Vorschriften des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG abschließend und gestuft geregelt. Dieses Regelungssystem würde prozessual nachhaltig in Frage gestellt, wenn im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 60a Abs. 2 AufenthG eine Duldung erlangt werden könnte, ohne dass die Voraussetzungen des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG vorlägen. Das Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kann vom Ausland fortgeführt werden, auch wenn dies zu einer Trennung von der deutschen Ehefrau führt und in der Türkei zunächst der Militärdienst abzuleisten ist.

Schlagwörter: Abschiebung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, Schutz von Ehe und Familie, deutscher Ehegatte, Duldung, Visumsverfahren, Türkei, Militärdienst, psychische Erkrankung, Glaubhaftmachung, offensichtlich unbegründet, Fiktionswirkung, Aufenthaltserlaubnis
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, AufenthG § 81 Abs. 3, AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

[...]

Dieser Antrag auf Erlass einer Sicherungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist unbegründet. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf einen vorläufigen weiteren Verbleib im Bundesgebiet nicht hinreichend glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 1, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO -). Sein Vorbringen lässt keinen Sachverhalt erkennen, auf Grund dessen die anstehende Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen tatsächlicher oder rechtlicher Möglichkeiten oder aus anderen humanitären Gründen (Satz 3) weiter auszusetzen und eine Duldung zu erteilen wäre. Insbesondere ist eine Abschiebung nicht wegen der von ihm mit der deutschen Staatsangehörigen Frau ... eingegangenen Ehe rechtlich unmöglich. Zwar verpflichtet das verfassungsrechtliche Gebot des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz - GG - die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 2003 - 2 BvR 2108/00 -, NVwZ 2004, 606; Beschluss vom 4. Dezember 2007 - 2 BvR 2341/06 InfAuslR 2008, 239). Gleichwohl gewährt Art. 6 GG ebenso wie Art. 8 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - kein voraussetzungsloses Bleiberecht. Vielmehr hat es der Ausländer grundsätzlich hinzunehmen, zur Einholung eines erforderlichen Visums in das Ausland ausreisen zu müssen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Dezember 2007, a.a.O.; OVG Münster, Beschluss vom 26. April 2004 - 17 B 863/04 -, zit. nach juris). Selbst im Falle eines Nachzugsanspruchs kann der Ausländer auf die Einholung des erforderlichen Visums verwiesen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 18. Dezember 1995 - 1 B 152/95 -, InfAuslR 1996, 137). Die mit der Durchführung eines solchen Verfahrens verbundene familiäre Trennung ist regelmäßig hinzunehmen. Dies gilt auch für Asylsuchende, die sich zwar im laufenden Asylverfahren im Rahmen der Aufenthaltsgestattung berechtigt im Bundesgebiet aufhalten, indessen nach Beendigung des Asylverfahrens infolge ihrer Einreise ohne Visum darauf verwiesen werden können, eine Aufenthaltserlaubnis im Sichtvermerksverfahren einzuholen, wenn sie nicht aus anderen Gründen davon befreit sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juni 1997 - 1 C 1.97 - InfAuslR 1997, 352).

Im Falle des Antragstellers folgt die Ausreisepflicht aus dem ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. Februar 2009 unter Ziffer 4. Die unter dem 20. Januar 2009 ausgestellte Aufenthaltsgestattung ist zwischenzeitlich nach § 67 Abs. 1 Nr. 4 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG - erloschen. Nach dieser Vorschrift erlischt die Aufenthaltsgestaltung, wenn eine nach diesem Gesetz oder nach § 60 Abs. 9 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung vollziehbar geworden ist. Infolge der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 1 AsylVfG sowie der weiteren Ablehnung seines Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO vor dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) zum Aktenzeichen 3 L 62/09.A, Beschluss vom 14. Mai 2009, ist die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 26. Februar 2009 vollziehbar geworden. Die zwischenzeitlich erhobene Klage auf Anerkennung des Antragstellers als Asylberechtigten hat ebenfalls keine aufschiebende Wirkung, § 75 Satz 1 AsylVfG.

Andere besondere Umstände, die die tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung begründeten, sind nicht dargetan worden. Die Dauer eines Visumverfahrens ist auf einen beschränkten Zeitraum angelegt und würde einer anschließenden Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft nicht entgegenstehen, zumal die Ehe auch über einen längeren Zeitraum trotz der räumlichen Beschränkung der dem Antragsteller erteilten Aufenthaltsgestattung und Duldungen Bestand hatte. Es ist gleichfalls nicht erkennbar, dass der Antragsteller infolge der von ihm im Rahmen des Asylverfahrens geltend gemachten Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung oder überhaupt wegen des ihm drohenden Wehrdienstes in der Türkei gehindert wäre, absehbar in die Bundesrepublik Deutschland wieder einzureisen. Zum einen lässt sich dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 26. Februar 2009 entnehmen, dass der türkische Wehrdienst 15 Monate dauert, sich mithin in dem zeitlichen Rahmen hält, in dem die Ableistung des Wehrdienstes als allgemeine staatsbürgerliche Pflicht regelmäßig eine vorübergehende Trennung von der Familie nach sich zieht (OVG Münster, Beschluss vom 26. April 2004, a.a.O.). Zum anderen fehlt es an einer Glaubhaftmachung derjenigen Umstände, die für eine das Eheleben des Antragstellers möglicherweise gefährdende Bestrafung streiten, vgl. Bescheid des Bundesamtes vom 26. Februar 2009, S. 6. Dass seine Abschiebung wegen einer psychischen Erkrankung unmöglich wäre, hat der Antragsteller nicht substantiiert dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht. Die Bescheinigung von XENION gibt dafür nichts her. Das bereits im April 2010 angekündigte ausführliche Attest hat er nicht eingereicht.

Soweit der Antragsteller darüber hinaus geltend macht, ihm stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu, kann er damit im vorliegenden Verfahren nicht gehört werden. Der von ihm mit Schreiben vom 9. November 2009 eingelegte Widerspruch gegen die Versagung der beantragten Aufenthaltserlaubnis hat keine aufschiebende Wirkung nach § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Der abgelehnte Antrag hat nicht die Fiktion eines erlaubten Aufenthalts nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, einer ausgesetzten Abschiebung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG oder eines als fortbestehend geltenden Aufenthaltstitels nach § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst. Der Antragsteller hat diesen Antrag nämlich am 29. Juli 2009 und damit zu einem Zeitpunkt gestellt, als er sich bereits nur noch geduldet im Bundesgebiet aufhielt (seit 8. Juni 2009). Damit hielt er sich nicht rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 AufenthG im Bundesgebiet auf und er war auch nicht im Besitz eines Aufenthaltstitels nach §§ 4 und 81 Abs. 4 AufenthG, so dass ihm die Fiktionswirkungen einer Antragstellung nicht zugute kommen konnten.

Bei dieser Rechtslage kommt der Erlass einer Duldung zur Sicherung des behaupteten Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis regelmäßig nicht in Betracht. Denn ließe man neben den gesetzlich geregelten Fällen eines fingierten Aufenthaltsrechts bzw. einer fingierten Duldung, die ggfl. gemäß § 80 Abs. 5 VwGO durchzusetzen sind, eine im Wege einstweiliger Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu erstreitenden Duldung mit dem Ziel der Sicherung eines Aufenthaltsrechts generell zu, so würde dies eine vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Erweiterung des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG bedeuten (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2006 - OVG 7 S 65.05 - S. 2 des Entscheidungsabdrucks - E.A. -; Beschluss vom 25. April 2006 - OVG 11 S 18.06 - S. 4 E.A.; Beschluss vom 14. September 2006 - OVG 8 S 97.06/OVG 8 M 68.06 - S. 3 E.A; Beschluss vom 29. April 2009 - OVG 3 S 26.09 - S. 3 E.A.; Beschluss vom 22. März 2011 - OVG 2 S 24.11 -, S, 3 E.A; OVG Münster, Beschluss vom 30. August 1995 - 18 B 660/94 -; Beschluss vom 26. März 1998 - 18 B 2195/96 -; VGH Kassel, Beschluss vom 22. Mai 1996 - 10 TG 4207/95 - jeweils zit. nach juris; a.A. ohne Begründung OVG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 3, November 1998 - 4 B 124/98 - zit. nach juris; Beschluss vom 18. März 2004 - 4 B 395/03 -; Beschluss vom 25. Januar 2005 - 4 B 359/04 - S. 3 E.A.; OVG Bremen, Beschluss vom 27. Oktober 2009 - 1 B 224/09 -; VGH Mannheim, Beschluss vom 20. Oktober 2009 - 13 S 1887/09 - jeweils zit. nach juris). Der Gesetzgeber hat den Verbleib von Ausländern im Inland bei noch nicht erteilten Aufenthaltstiteln durch die Vorschriften des § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG abschließend und gestuft geregelt, so dass diese Rechtspositionen im Falle der Ablehnung auch über Rechtsschutzbegehren nach § 80 Abs. 5 VwGO gesichert werden können. Ansonsten bleibt es bei dem Grundsatz, dass sich ein Ausländer nur mit einem gültigen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhalten darf, § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

Dieses Regelungssystem würde prozessual nachhaltig in Frage gestellt, wenn im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 60 a Abs. 2 AufenthG eine Duldung erlangt werden könnte, ohne dass die Voraussetzungen des § 81 Abs. 3 oder 4 AufenthG vorlägen. Effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG bleibt dadurch gewährleistet, dass der Ausländer ohne Weiteres vom Ausland sein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis fortführen kann. Darüber hinaus kann eine Duldung zur Sicherung des aufenthaltsrechtlichen Anspruchs dann geboten sein, wenn die Abschiebung zu einer Vereitelung des Anspruchs führen würde, wie dies in Fällen des § 104a und § 25 Abs. 5 AufenthG zu gewärtigen wäre (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 17. 5. 1999 - 18 B 783/99 - InfAuslR 2000, 111 und Beschluss vom 30. August 2007 - 18 B 1349/07 - NVwZ 2008, 232; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. Juli 2010 - OVG 3 S 46.10 - S. 4 E.A.). Dass dem Antragsteller ein Anspruch nach diesen Vorschriften zustehen könnte, kann indes nach den vorstehenden Ausführungen nicht angenommen werden. Härtefällen wird ferner im Prüfrahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 und 3 AufenthG hinreichend Rechnung getragen. [...]