Flüchtlingsanerkennung wegen Konversion zum Christentum und längerem Aufenthalt in Deutschland. Mitglieder und sonstige Anhänger nicht traditioneller Religionsgemeinschaften sind Verfolgungen durch die Sicherheitsorgane und die Justiz in Aserbaidschan schutzlos ausgeliefert; vor allem evangelische Religionsgemeinschaften gelten als nationales Sicherheitsrisiko.
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Nach der aktuellen Auskunftslage (insbesondere: Prof. Dr. Luchterhandt vom November 2010 an den HessVGH zum Az. 3 A 1653/10 A; eine Verfolgung evangelischer Christen in Aserbaidschan schon vor dem genannten Gutachten für "nicht ausgeschlossen" haltend: BVerwG, B.v. 21.7.2010, Az. 10 B 41.09) sind Verfolgungsmaßnahmen von Seiten der Behörden gegenüber evangelischen Christen nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern kommen nicht selten vor. Nach den vorliegenden Informationen werden sie jedoch nicht oder zumindest nicht unmittelbar vom "Staatskomitee für die Arbeit mit den Religiösen Gebilden" veranlasst oder gesteuert. Vielmehr sind es die für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Staat zuständigen Behörden, die mit operativen Unterdrückungs- und Sanktionsmaßnahmen gegen religiöse Organisationen, deren Funktionsträger, Mitglieder und sonstigen Anhänger vorgehen, d.h. die dem Innenministerium unterstehende Polizei und der Staatssicherheitsdienst ("Ministerium für Nationale Sicherheit" - MNB). Die Polizei hat kein spezifisches Mandat auf religiösem Gebiet, sondern wird in Fällen mit religiösem Bezug nach Maßgabe ihrer allgemeinen Ermächtigung durch das Polizeigesetz vom 28. Oktober 1999 zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und zur Ermittlung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten tätig. Sie tritt dabei nach außen, wie die Praxis der Bekämpfung nicht-traditioneller Religionsgemeinschaften zeigt, allerdings am sichtbarsten in Erscheinung. Was die Staatsschutzorgane betrifft, darf man als sicher annehmen, dass sie sich für "Konversionen" wie im Fall des Klägers zu 1) interessieren und diese registrieren, denn die nicht-traditionellen, vor allem evangelischen Religionsgemeinschaften gelten aus zwei Gründen - potentiell und aktuell - als nationales Sicherheitsrisiko: Erstens, weil sie sich meist als Erweckungsbewegungen verstehen, missionarisch wirken wollen, deswegen stark nach außen ausstrahlen und dementsprechend intensive Aktivitäten in der Gesellschaft entfalten. Auf national-religiöse "Besitzstände" nehmen sie dabei - bewusst - keine Rücksicht. Zweitens sind die evangelischen Gemeinschaften auf vielfältige Weise und meist eng mit religiösen, aber auch politiknahen Einrichtungen und Organisationen im Ausland verbunden. Viele von ihnen sind Teil größerer, international aufgebauter Religionsgemeinschaften, deren Leitungen im Ausland, sei es in den USA oder in Europa, liegen, und darüber hinaus Teile von religiös-gesellschaftlichen Netzwerken. Daraus ergeben sich mehr oder weniger ausgedehnte und intensive grenzüberschreitende Beziehungen: Die in Aserbaidschan existierenden Gemeinden erhalten finanzielle und materielle Hilfen aus den USA und Europa, kooperieren mit ausländischen karitativen Organisationen und organisieren mit ihnen zusammen Hilfe für Bedürftige, sind Adressaten von Bücher- und Schriftentransfer, beherbergen und beschäftigen fremde Prediger, besuchen Konferenzen im Ausland, nehmen Auslandsaufenthalte zu sonstigen Zwecken wahr, unterhalten Kontakte zu ausländischen Botschaften in Baku usw. Die laufende Beobachtung dieser Vorgänge fällt in die Kompetenz des Ministeriums für nationale Sicherheit. Das ergibt sich aus dessen Statut vom 29. Juni 2004, und zwar erstens aus dem Aufgabenkatalog zur Gewährleistung der Sicherheit auf "politischem" Gebiet (Art. 16) und zweitens auf "wissenschaftlichem, kulturellem und geistlichem" Gebiet (Art. 22). Einschlägig sind insofern die Aufgaben "Unterbindung von Einmischungsversuchen in die inneren Angelegenheiten der Republik Aserbaidschan" (Art. 16.2.2.), "Festigung der gesellschaftlichen und politischen Stabilität und Gewährleistung ihrer Nachhaltigkeit" (Art. 16.2.3.), "Formierung einer gesamtnationalen Psychologie auf der Grundlage von Patriotismus und übernationaler Solidarität, Festigung der Einheit des Volkes" (Art. 16.2.7.), "Unterbindung von Aktivitäten, die gegen die Einheit des aserbaidschanischen Volkes, gegen die Bürgereinheit und die gesellschaftliche Solidarität gerichtet sind" (Art. 1.6.2.8), "Regulierung von übernationalen und interkonfessionellen Beziehungen zur Verhütung von Separatismus, von politischem, ethnischem und religiösem Extremismus" (Art. 16.2.10.), sowie die "Unterbindung von Versuchen, die vorhandenen Divergenzen der Glaubensbekenntnisse und Unterschiede in den religiösen Anschauungen für politische Zwecke auszunutzen" (Art. 16.2.11.). Art. 22.2.1, des Gesetzes weist dem Ministerium die Aufgabe zu, "das geschichtliche und kulturelle Erbe, die Sprache, Bräuche und Traditionen und das nationale Eigenbewusstsein des aserbaidschanischen Volkes vor Bedrohungen von außen zu bewahren und zu entwickeln". Diese Bestimmungen haben gemeinsam, dass sie umfassende staatspolitische Ziele formulieren, die weit über die Aufgaben und Funktionen hinausgehen, die man in einem demokratischen Rechtsstaat, der zu sein Aserbaidschan vorgibt (Art. 7 der Verfassung), bei einem Ministerium für Staatssicherheit erwarten würde. Nach der Auskunftslage ist davon auszugehen, dass Ziele, Funktionen und Aufgaben das Ministerium für nationale Sicherheit der Republik Aserbaidschan als eine politische Geheimpolizei ausweisen. Dem entspricht es, dass Aufgabenvorschriften nach der in Aserbaidschan bestehenden Rechtsauffassung zugleich Ermächtigungsnormen darstellen und dass die Mitarbeiter des Ministeriums befugt sind, nicht nur Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die Sicherheit des Landes zu ergreifen, sondern bei der operativen Bekämpfung der vom Regime für staatsgefährdend gehaltenen Organisationen, Gruppen und Personen auch politisch gestaltend vorzugehen. Die Beobachtung, operative Kontrolle und gegebenenfalls auch Bekämpfung von Aktivitäten sowohl der registrierten als auch der nicht registrierten in Aserbaidschan tätigen religiösen Organisationen gehört demnach zu den Aufgaben des Ministeriums für nationale Sicherheit. Das gilt um so mehr, wenn Religionsgemeinschaften, wie es nach offizieller aserbaidschanischer Auffassung bei den nicht-traditionellen Gemeinschaften der Fall ist, schon allein durch ihre Existenz die in den zitierten Vorschriften des MNB-Statuts zu höchsten Schutzgütern des Staates erklärte innere Einheit von Volk, Gesellschaft und Staat sowie deren Stabilität stören, gefährden und beeinträchtigen. In der Person des Klägers liegen mehrere Faktoren vor, die ihn in qualifizierter Weise in das Blickfeld des Staatssicherheitsdienstes bringen müssen: Zum einen die religiöse Konversion und zum anderen auch der aus staatlicher Sicht unerwünschte längere Aufenthalt in Deutschland infolge seiner Flucht dorthin. Wenn der Kläger sich bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan einer dortigen evangelischen Glaubensgemeinschaft anschließen und sich dort ebenso engagieren würde wie es sich vorliegend aus dem Schreiben der landeskirchlichen Gemeinschaft vom 1. Mai 2011 für seine Glaubensausübung in der Bundesrepublik Deutschland ergibt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Staatssicherheitsdienst gegen ihn vorgehen und ihm Schwierigkeiten bereiten würde. Dies könnte nach der Auskunftslage sogar so weit gehen, dass gegen ihn Fälle fabriziert würden, die es den Behörden ermöglichen würden, den Kläger mit Sanktionen wegen Ordnungswidrigkeiten oder einer Straftat zu überziehen. Bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan hätte der Kläger nach der Auskunftslage mit folgenden Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen:
- Verhängung von Geldbußen, Arrest usw. wegen der Erfüllung von Ordnungswidrigkeitstatbeständen oder von Strafen wegen der angeblichen Begehung krimineller Handlungen, nämlich wegen religiöser Propaganda, wegen des Besitzes oder der Weitergabe nicht genehmigter religiöser Literatur, wegen der Ausübung sonstiger nicht genehmigter religiöser Aktivitäten, wegen "religiösen Extremismus";
- Hausdurchsuchungen und Beschlagnahme von religiöser Literatur, verbunden mit vieldeutigen Drohungen und Einschüchterungen;
- Anprangerungen in den lokalen Medien unter Nennung des Namens und der Wohnadresse;
- Diskriminierung im Kontakt mit den Behörden im Zusammenhang mit diversen sozialen, Wohnungs-, Renten- und sonstigen Alltagsproblemen.
Insgesamt ist ersichtlich, dass der religionspolitische Kurs unter dem Aliev-Regime ständig aufs Neue belegt, dass die nicht traditionellen Religionsgemeinschaften, ihre Mitglieder und sonstigen Anhänger den Verfolgungen von Seiten der Sicherheitsorgane und der Justiz schutzlos ausgeliefert sind. [...]