VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.04.2011 - 11 S 189/11 - asyl.net: M18699
https://www.asyl.net/rsdb/M18699
Leitsatz:

1. Ein türkischer Staatsangehöriger, der das Bundesgebiet verlässt, um für einen nicht überschaubaren Zeitraum der ihm hier drohenden Strafverfolgung zu entgehen, verliert seine Rechte aus Art. 7 Satz 1 und 2 ARB 1/80. Ob Art. 16 Abs. 4 der Unionsbürger-RL 2004/38/EG dem entgegenstehen könnte, bleibt im vorliegenden Fall offen, weil die Unionsbürger-RL zum Zeitpunkt der Ausreise noch nicht in Kraft getreten war.

2. Die generalpräventive Ausweisung eines hier geborenen und aufgewachsenen Ausländers der zweiten Generation nach § 53 AufenthG (juris: AufenthG 2004) kann auch nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 mit Art. 8 EMRK (juris: MRK) in Einklang stehen, wenn eine ganz besonders schwerwiegende Straftat begangen worden ist, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährdet (Fortführung der Senatsrechtsprechung in Anknüpfung an das Urteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 -); hier bejaht für schwerwiegende bandenmäßige Betäubungsmittelkriminalität.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Verlust, Verlust des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts, Ausweisung, türkische Staatsangehörige, Generalpräventiver Zweck, nicht unerheblicher Zeitraum, Verwurzelung, Drogendelikt, Strafurteil, Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats, Verlassen, Abwesenheit, Straftat, tatsächiche Verbindung zum Arbeitsmarkt, Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt, Arbeitsmarkt, zwingende Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, Erlöschen, Schutz von Ehe und Familie, Ausländer der zweiten Generation, in Deutschland geboren, in Deutschland geborene Kinder, besonders schwere Straftat,
Normen: ARB 1/80 Art. 7 S. 1, ARB 1/80 Art. 7 S. 2, AufenthG § 53, EMRK Art. 8, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1Nr. 1,
Auszüge:

[...]

I.)

Das assoziationsrechtlich begründete Aufenthaltsrecht des Klägers ist erloschen, weil er seinen Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat, indem er Anfang April 2004 aus Deutschland geflohen ist, um sich auf Dauer seiner Strafverfolgung im Bundesgebiet zu entziehen.

1.) Der aufenthaltsrechtliche Status des Klägers beruhte bis April 2004 auf Art. 7 ARB 1/80. Sein Vater hatte ausweislich einer Arbeitsbescheinigung vom 29.09.1997 seit 1974 als Verzinkereihelfer bei ... GmbH gearbeitet. Der Kläger wurde als Sohn eines in der Vergangenheit dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers im Bundesgebiet geboren und lebte in der Folgezeit mehr als fünf Jahre ununterbrochen ordnungsgemäß mit seinen Eltern in familiärer Lebensgemeinschaft (vgl. zur Notwendigkeit des tatsächlichen Zusammenlebens während dieser Zeit EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/97 - <Kadiman> Rn. 35 ff. und vom 22.06.2000 - C-65198 - <Eyüp> Rn. 28 ff.), was zum Erwerb einer Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 führte. Dass ihm selbst nach Aktenlage erst am 02.10.1997 ein Aufenthaltstitel in Gestalt einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war, spielt insoweit keine Rolle. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - <Aydinli> Rn. 22) gelangen die Rechte aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80, auch ohne dass zuvor eine Genehmigung zum Zwecke der Familienzusammenführung erteilt worden ist, dann zur Entstehung, wenn der türkische Familienangehörige im Aufnahmemitgliedstaat geboren ist und stets dort gelebt hat. Aufgrund der nach dem Hauptschulabschluss erfolgreich am 18.07.2001 abgeschlossenen Lehre als Verpackungsmitteltechniker besaß der Kläger auch eine Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80. Der Erwerb dieser Rechte ist allerdings nicht mit Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (heute: Europäische Union) verbunden; ein türkischer Staatsangehörige besitzt nur im Aufnahmemitgliedstaat bestimmte Rechte (EuGH, Urteil 21.01.2010 - C-462/08 -<Bekleyen> Rn. 37 und vom 18.07.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 66).

2.) Der Kläger hat die Rechte aus Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich und Art. 7 Satz 2 ARB 1/80, die ein Aufenthaltsrecht implizieren (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - <Aydinli> Rn. 25, vom 11.11.2004 - C-467/02 -<Cetin-kaya> Rn. 31 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - <Ergat> Rn. 40; BVerwG, Urteil vom 06.10.2005 - 1 C 5.04 - juris Rn. 11), durch seine Flucht aus dem Bundesgebiet vor der ihm hier drohenden Strafverfolgung verloren.

Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 dient dem Zweck, günstige Voraussetzungen für die Familienzusammenführung im Aufnahmemitgliedstaat zu schaffen. Die Vorschrift will die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung familiärer Bande ermöglicht wird. Zur Förderung der dauerhaften Eingliederung der Familie des türkischen Arbeitnehmers gewährt die Vorschrift seinen Familienangehörigen nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern nach einer bestimmten Zeit das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung auszuüben. Die fortschreitende persönliche Integration des türkischen Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstat sollen erleichtert und gefördert werden (EuGH, Urteil vom 07.07.2005 - C-373/03 - <Aydinli> Rn. 22 ff. und vom 17.04.1997 - C-351/95 - <Kadiman> Rn. 34; Renner, Ausländerrecht, 9. Aufl. 2011, § 4 AufenthG Rn. 162; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 33).

Die Regelung in Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 stellt gegenüber Satz 1 eine Privilegierung dar, die unter den Familienangehörigen der türkischen Arbeitnehmer die Kinder besonders behandeln will, indem sie ihnen den Eintritt in den Arbeitsmarkt nach Abschluss einer Berufsausbildung zu erleichtern sucht, damit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß dem Zweck dieses Beschlusses schrittweise verwirklicht wird (EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462/08 - <Bekleyen> Rn. 25 ff. und vom 16.02.2006 - C-502/04 - <Torun> Rn. 23). Die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechte aus Art. 7 Satz 1 und Satz 2 ARB 1/80 ist Ausdruck der fortgeschrittenen Integration der Kinder türkischer Arbeitnehmer. Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 hängt lediglich von der Voraussetzung ab, dass das Kind des betreffenden türkischen Arbeitnehmers während seines rechtmäßigen Aufenthalts eine Berufsausbildung abgeschlossen hat und ein Elternteil in diesem Staat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war (vgl. Renner, a.a.O. § 4 AufenthG Rn. 171 ff. und GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 111 jew. m.w.N.).

Nach der Rechtsprechung des EuGH gelten allerdings unabhängig davon, ob der konkrete Ausgangssachverhalt unter den ersten oder den zweiten Satz des Art. 7 ARB 1/80 fällt, für den Verlust der erworbenen Rechte dieselben Voraussetzungen (Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 45 und vom 16.02.2006 - C-502/04 - <Torun> Rn. 24 f.). Sowohl die Rechtsposition nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 als auch diejenige nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich - und damit das Aufenthaltsrecht - erlöschen, wenn der türkische Staatsangehörige den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (st. Rspr. des EuGH; vgl. etwa Urteil vom 22.12.2010 - C-303/08 - <Bozkurt> Rn. 42, vom 04.02.2010 - C-14/09 - <Genc> Rn. 42, vom 18.12.2008 - C-337/07 - <Altun> Rn. 62, vom 25.09.2008 - C-453/07 - <Er> Rn. 30 f., vom 18.07.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 45, vom 16.02.2006 - C-502/04 - <Torun> Rn. 25, vom 07.07.2005 - C-373/03 - <Aydinli> Rn. 27, vom 11.11.2004 - C-467/02 - <Cetinkaya> Rn.36 und vom 17.04.1997 - C-351/95 - <Kadiman> Rn. 48). Unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe auszugehen ist, obliegt in erster Linie der Feststellung der nationalen Gerichte (vgl. auch EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 43) und bestimmt sich anhand von Sinn und Zweck des Art. 7 ARB 1/80 (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 ff. Rn. 27; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 4; NdsOVG, Beschluss vom 11.01.2008 - 11 ME 418/07 - juris Rn. 5 f.; VG Ansbach, Urteil vom 25.02.2010 - AN 5 K 09.01143 - juris Rn. 25 f.; Renner, a.a.O., § 4 Rn. 162; Kurzidem, Das assoziationsrechtliche Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger im Spiegel der neueren Rechtsprechung, ZAR 2010, 121, 124 f.). Der Umstand, dass der Verlustgrund auf beide Sätze des Art. 7 ARB 1180 Anwendung findet, schließt es indessen nicht aus, dass es, je nachdem wie verfestigt die Lebensverhältnisse des Ausländers im Bundesgebiet sind, im Einzelfall geboten sein kann, bei dessen Prüfung die innerhalb des Art. 7 ARB 1/80 erreichte "Stufe" mit in den Blick zu nehmen. Wer als - insbesondere hier geborenes und aufgewachsenes - Kind eines Migranten den "Integrationsgrad" des Satzes 2 erreicht hat, läuft bei gleich langem Auslandsaufenthalt weniger Gefahr, den Integrationszusammenhang mit dem Aufnahmemitgliedstaat zu verlieren als derjenige, der sich - z.B. als nachgezogener Ehepartner - nach dreijährigem ordnungsgemäßen Aufenthalt gerade erst auf Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 berufen kann. Allerdings ist das Merkmal des "nicht unerheblichen Zeitraums" nicht allein nach der tatsächlich außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats verbrachten Zeit zu würdigen, sondern im Zusammenhang mit den Gründen und Absichten für die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, denn der Verlustgrund knüpft daran an, dass der rechtliche Besitzstand, den der türkische Staatsangehörige nach Art. 7 Satz 1 oder 2 ARB 1/80 erworben hat, deshalb verloren geht, weil er diesen freiwillig verlassen (vgl. auch EuGH, Urteil vom 16.03.2000 - C-329197 - <Ergat> Rn. 51) und "die Bande, die ihn mit diesem Mitgliedstaat verbunden haben, selbst gelöst hat" (so die Formulierung in den Schlussanträgen des Generalanwalts vom 11.01.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 33).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der Kläger sein Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 und Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 verloren. Nach der Verhaftung von Mitgliedern der Bande am 07.04.2004, von der der Kläger noch am gleichen Tag erfuhr, und einem anschließenden dreitägigen Aufenthalt in Hotels in ... flüchtete er in die Niederlande, um sich auf unabsehbare Zeit außerhalb Deutschlands aufzuhalten und sich so seiner Festnahme zu entziehen. Dies ergibt sich sowohl aus seiner Aussage während seinen polizeilichen Vernehmungen als Beschuldigter (unter anderem am 17.11.2005) als auch aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat. Es sei ihm darum gegangen wegzukommen. Er habe damals Angst vor dem Gefängnis gehabt und sich auf keinen Fall stellen wollen. Für die ihm seinerzeit vorgeworfenen Straftaten beträgt die Verfolgungsverjährung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB zwanzig Jahre, da die Taten nach §§ 29a Abs. 1 und 30a Abs. 1 BtMG i.V.m. § 38 Abs. 2 StGB im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind. Auch wenn ihm dies möglicherweise nicht so dezidiert bekannt gewesen sein dürfte, war ihm aber aufgrund einer Parallelwertung in der Laiensphäre durchaus bewusst, für einen langen Zeitraum damit rechnen zu müssen, für die von ihm verübten gravierenden Straftaten belangt zu werden und bei einer Verurteilung eine langjährigen Gefängnisstrafe zu erhalten. Der späteren Anklage ist ein (auch bandenmäßiges) Handeltreiben mit Marihunana in einer Gesamtgrößenordnung von etwa 230 kg und von Kokain mit 0,5 kg zugrunde gelegt worden. Tatsächlich waren jedoch - was der Staatsanwaltschaft bei der Anklageerhebung so nicht bekannt gewesen ist - unter Beteiligung des Klägers bis zu seiner Flucht mehr als 1,5 t Marihuana und mehrere Kilogramm Kokain und Ecstasy-Tabletten umgesetzt worden. Unter diesem Eindruck traf er von sich aus die Entscheidung, seinen Wohnsitz im Bundesgebiet aufzugeben und sich für unabsehbare Zeit im Ausland aufzuhalten, um hier nicht strafrechtlich belangt zu werden. Dass der ihm persönlich bekannte Lieferant von Betäubungsmitteln ... sich in den Entscheidungsprozess des Klägers "eingeschaltet" und ihm gesagt habe, "er solle zusehen, dass er nach Amsterdam komme" - so die Angaben des Klägers in seiner polizeilichen Vernehmung vom 17.11.2005 - stellt die Verantwortung des Klägers für seine Entscheidung, in das Ausland zu fliehen, nicht in Frage. Insbesondere sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass auf ihn - etwa durch seine Lieferanten - in einer Weise Zwang ausgeübt worden wäre, die seine freie Willensbetätigung beeinträchtigt hätte.

Der Kläger hat auch durch sein Verhalten in den Niederlanden während der 14 Monate bis zu seiner dortigen Verhaftung unter Beweis gestellt, dass er Deutschland mit seiner Flucht Anfang April 2004 nicht nur vorübergehend verlassen, sondern für sich unter dem Eindruck der hier drohenden Strafverfolgung langfristig und zeitlich völlig unbestimmt ein Leben außerhalb des Bundesgebiets vorgesehen hat. Die Beschaffung eines fremden türkischen Reisepasses unter Nutzung von Verbindungen zur Stuttgarter Rauschgiftszene, vor allem aber die Fortsetzung seiner Betäubungsmittelkriminalität dort verdeutlichen, dass er sich nicht nur vorübergehend auf ein Leben in einem anderen Land eingestellt hatte. [...]

Die Beurteilung, dass das Verhalten des Klägers zum Verlust seiner Rechte aus Art. 7 ARB/80 geführt hat, steht auch mit dem allgemeinen Zweck der Assoziation und vor allem des ARB 1/80 in Einklang. Der Beschluss vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation verfolgt auch das Ziel, die Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen im sozialen Bereich zu verbessern (vgl. die dritte Begründungserwägung), indem ihr arbeits- und aufenthaltsrechtlicher Status gegenüber früheren Regelungen verbessert wird. Dies spricht dafür, für das Verlassen des Mitgliedstaats dann "berechtigte Gründe" anzunehmen, wenn diese Ausdruck allgemein üblicher, sozialtypischer Verhaltensweisen sind, wie etwa Urlaub und Verwandtenbesuch (so zu diesen beiden Beispielen EuGH, Urteil vom 17.04.1997 - C-351/95 - <Kadiman> Rn. 48), oder durch staatsangehörigkeitsbezogene Rechte oder Pflichten bedingt sind, etwa die Ableistung von Wehrdienst (Senatsbeschluss vom 31.07.2007 - 11 S 723/07 - juris Rn. 3 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 5 ff.). Vor dem Hintergrund dieser Intention des ARB 1/80 besteht aber keine Veranlassung, einmal erworbene Rechte auch dann unangetastet zu lassen, wenn das Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates in der Absicht erfolgt, dessen Strafverfolgungsanspruch zu durchkreuzen; denn ein solches Verhalten ist weder schutzbedürftig noch schutzwürdig.

Diesem Ergebnis steht schließlich Art. 16 Abs.4 der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158 vom 30.04.2004) nicht entgegen. Nach dieser Regelung der Unionsbürgerrichtlinie führt nur die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zum Verlust des erworbenen Daueraufenthaltsrechts, ohne dass es nach dem Wortlaut auf die Art der Gründe ankommt. Es kann dahin gestellt bleiben, ob diese Bestimmung direkt - oder jedenfalls als Orientierungsrahmen (so BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 - Rn. 27; OVG Berlin, Urteil vom 11.05.2010 - OVG 12 B 26.09 - juris Rn. 37 f.; BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 9 ff.) - auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige überhaupt Anwendung findet (die Übertragung der Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsrechtliche türkische Staatsangehörige generell ablehnend Schlussanträge des Generalanwalts vom 14.04.2011 - C-371/08 - <Ziebell> Rn. 42 ff.) und welche inhaltliche Bedeutung ihr beizumessen wäre (vgl. zu dem letzten Aspekt auch EuGH, Urteil vom 23.11.2010 - C-145/09 - <Tsakouridis> Rn. 30 ff.). Die Unionsbürgerrichtlinie vom 29.04.2004 ist am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft getreten (Art. 41) und bis zum 30.04.2006 umzusetzen gewesen (Art. 40). Der Kläger hat jedoch seine Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 bereits vor dem Inkrafttreten dieser Richtlinie dadurch verloren, indem er Anfang April 2004 in die Niederlande geflohen ist. Die Anwendung von Art. 16 Abs. 4 der Unionsbürgerrichtlinie würde damit im vorliegenden Fall ins Leere gehen, weil ein Aufenthaltsrecht, an das die Regelung anknüpfen könnte, schon erloschen gewesen ist.

3.) Die Rechtsstellung aus Art. 6 Satz 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80, die der Kläger aufgrund seiner dreijährigen Ausbildung und der unmittelbar daran anschließenden etwa zweijährigen Beschäftigung innehatte, und die neben der Rechtsposition aus Art. 7 ARB 1/80 bestand (zum Nebeneinander von Art. 6 und 7 ARB 1/80 EuGH, Urteil vom 05.10.1994 - C-355/93 - <Eroglu> Rn. 16 ff.; GK-AufenthG, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 129 f.), ist ebenfalls erloschen. Der Kläger bezog nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Arbeitslosengeld. Spätestens Mitte 2003 traf er die Entscheidung, sein Einkommen durch Drogengeschäfte im "großen Stil" zu bestreiten und setzte diese entsprechend um. Dass der Kläger den Rauschgifthandel "berufsmäßig" betrieb, hat auch der Zeuge KHK K. in der mündlichen Verhandlung anschaulich bekundet. Bemühungen um Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit sind offensichtlich nicht mehr entfaltet worden. Von einer nur vorübergehenden Abwesenheit vom Arbeitsmarkt in dieser Zeit ist nicht mehr auszugehen (vgl. zu den Kriterien für die Beibehaltung der Arbeitnehmereigenschaft bei Arbeitslosigkeit Renner, a.a.O., § 4 Rn. 132 ff.). Damit hatte er seine Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt schon vor seiner Flucht in die Niederlande endgültig verloren gehabt. Selbst wenn man zugunsten des Klägers eine andere Sichtweise annehmen würde, ist jedenfalls - entsprechend den Ausführungen oben unter 1. 2.) - mit der Aufgabe seines Lebensmittelpunktes im Bundesgebiet Anfang April 2004 seine Rechtsstellung erloschen.

4.) Die Rechte aus Art. 6 oder Art. 7 ARB 1/80 sind auch nicht erneut zur Entstehung gelangt.

Der Kläger erhält seit dem 30.08.2009 eine von der Bundesagentur für Arbeit auf der Grundlage der §§ 77 ff. SGB III finanzierte berufliche Weiterbildungsmaßnahme zum Mediengestalter, die zum 31.08.2011 abgeschlossen sein soll, sowie nach § 117 Abs. 1 Nr. 2 SGB III Arbeitslosengeld. Teil dieser Weiterbildung ist auch eine praktische Tätigkeit in Firmen. Er absolviert sein Praktikum seit 02.11.2010 bis voraussichtlich Ende Juli 2011 bei einer Firma in ..., wo ihm nach Ende des Praktikums eine Festanstellung angeboten werden soll. Dies könnte dafür sprechen, dass der Kläger erneut dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik angehört. Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 sind aber jedenfalls deshalb nicht begründet worden, weil es an einer ordnungsgemäßen Beschäftigung fehlt. Die ordnungsgemäße Beschäftigung setzt eine gesicherte und nicht nur vorläufige Rechtsposition des Betroffenen auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus; außerdem muss die Beschäftigung im Einklang mit den aufenthaltsrechtlichen und arbeitserlaubnisrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats stehen (EuGH, Urteil vom 06.06.1995 - C-434/93 - <Bozkurt> Rn. 26 ff. und vom 24.01.2008 - C-294/06 - <Payir> Rn. 30 ff.; Renner, a.a.O., § 4 AufenthG Rn. 115). Der Kläger hält sich jedoch seit seiner ausschließlich in Vollstreckung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs zwangsweise durchgesetzten Rückkehr in das Bundesgebiet am 12.08.2005 ohne Aufenthaltserlaubnis hier auf. Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 ist infolge seiner Flucht aus dem Bundesgebiet seit April 2004 erloschen (siehe dazu unten 11.). In der Folgezeit wurde weder ein Aufenthaltstitel beantragt noch erteilt. Die dem Kläger seit seiner Haftentlassung fortlaufend verlängerten Duldungen sind aufgrund ihrer Rechtsnatur nicht geeignet, Ansprüche aus Art. 6 ARB 1/80 entstehen zu lassen, da sie nicht die Gewährung eines Aufenthaltsrechts beinhalten (GK-AufenthG, Art. 6 ARB 1/80 Rn. 132).

Auch eine Rechtsposition nach Art. 7 ARB 1/80 ist nicht neu erworben worden. Hat ein Familienangehöriger die Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 verloren und reist er später wieder in den früheren Aufnahmemitgliedstaat ein, so muss er erneut eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, deren Erteilung sich allein nach den aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen des Mitgliedstaats richtet (EuGH, Urteil vom 18.07.2007 - C-325/05 - <Derin> Rn. 67 und vom 16.03.2000 - C-329/97 - <Ergat> Rn. 49). Erst in Anknüpfung an einen dann rechtmäßigen Aufenthalt kann eine Berufung auf Art. 7 ARB 1/80 in Betracht kommen (vgl. näher EuGH, Urteil vom 21.01.2010 - C-462108 - <Bekelyen> Rn. 39, 45). Eine erneute Legalisierung des Aufenthalts des Klägers ist aber bis heute nicht erfolgt.

II.)

Rechtsgrundlage der verfügten Ausweisung ist § 53 AufenthG. Durch die rechtskräftige Verurteilung zu einer Gesamtstrafe von neun Jahren Freiheitsstrafe wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwölf tatmehrheitlichen Fällen sowie unerlaubten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechzehn tatmehrheitlichen Fällen ist sowohl der Tatbestand der Ist-Ausweisung nach § 53 Nr. 1 AufenthG als auch derjenige nach § 53 Nr. 2 AufenthG verwirklicht.

1.) Der Kläger genießt keinen besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, weil die unbefristete Aufenthaltserlaubnis vom 02.10.1997 im April 2004 nach § 44 Abs. 1 AuslG 1990 erloschen war und daher nicht gem. § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgelten konnte.

Nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990 erlischt die Aufenthaltsgenehmigung, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausreist. Eine entsprechende Regelung sah schon § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965 vor. Wie oben unter 1 2.) bereits dargelegt, wollte sich der Kläger mit seiner Flucht in die Niederlande Anfang April 2004 einer Strafverfolgung im Bundesgebiet auf unabsehbarer Zeit entziehen. In einem solchen Fall erfolgt die Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund (Senatsbeschluss vom 22.01.2004 - 11 S 192/04 - juris Rn. 8 ff.; ebenso GK-AufenthG, § 51 Rn. 47 und Renner, a.a.O., § 51 Rn. 9 jew. zur wortgleichen Bestimmung in § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG). Dies führte kraft Gesetzes mit dem Verlassen des Bundesgebiets zum Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG 1990, ohne dass es hierzu einer besonderen Feststellung bedurfte. Die Aufenthaltserlaubnis lebt auch nicht wieder auf, wenn der Betreffende später - und sei es nur kurze Zeit nach der Ausreise - "anderen Sinnes" wird und in die Bundesrepublik zurückkehrt (vgl. Senatsurteil vom 10.04.2002 - 11 S 2269/01).

Ob die Aufenthaltserlaubnis ungeachtet des Umstands, dass das Ausländergesetz 1965 - anders als das Ausländergesetz 1990 - keinen Verlusttatbestand für eine Aufenthaltserlaubnis enthielt, der allein an den Ablauf einer zeitlich bestimmten Frist für die Wiedereinreise anknüpfte, auch nach § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 erloschen ist, weil der Kläger nicht innerhalb von 6 Monaten nach seiner Ausreise (freiwillig) in das Bundesgebiet wieder eingereist ist, bedarf keiner Entscheidung mehr. Die Frage nach der Vereinbarkeit der Regelung in § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1990 mit den Stillhalteklauseln (Art. 41 Abs. 1 ZP und Art. 13 ARB 1/80) kann daher offen bleiben (dies bejahend BVerwG, Urteil vom 30.04.2009 - 1 C 6.08 - BVerwGE 134, 27 Rn 16 ff.).

Soweit § 44 Abs. 1a und 1b AuslG in der bis 31.12.2004 geltenden Fassung Ausnahmen vom Erlöschen der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis nach § 44 Abs.1 Nr. 2 und 3 AuslG vorsahen, griff diese Privilegierung beim Kläger nicht ein, da er die Voraussetzungen dieser Bestimmungen nicht erfüllte. Die gegenüber der Vorgängernorm personell und inhaltlich günstigere Regelung des § 51 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Erlöschensgrund bereits vor dem 01.01.2005 eingetreten war. Im Übrigen hätte diese auch nicht zu einem für den Kläger besseren Ergebnis geführt. Nach § 52 Abs. 2 Satz 1 AufenthG 2005 erlischt die Niederlassungserlaubnis eines Ausländers, der sich mindestens 15 Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, nicht nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7, wenn sein Lebensunterhalt gesichert ist. Unabhängig davon, ob für die Prognose zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Zeitpunkt der Ausreise (VG München, Urteil vom 27.11.2007 - M 4 K 07.3681 - juris Rn. 42 ff.), des - mit der Ausreise nicht zwangsläufig identischen - mutmaßlichen Erlöschens (OVG NRW, Beschluss vom 30.03.2010 - 18 B 111/10 - juris Rn. 8) oder der Wiedereinreise (BayVGH, Beschluss vom 15.10.2009 - 19 CS 09.2194 - juris Rn. 14) abzustellen wäre, hätte eine positive Prognose nicht getroffen werden können. Der Kläger finanzierte jedenfalls ab 2003 sein Leben ausschließlich aus den Gewinnen der Drogenkriminalität und hatte im Zeitpunkt der "Wiedereinreise" im Wege der Auslieferung einen langen Gefängnisaufenthalt zu erwarten, was der prognostischen Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgegensteht. [...]

Was das ebenfalls in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzufließende Verhalten des Klägers nach der Tat und seine Entwicklung bis heute anbelangt, ist der Senat aufgrund der oben dargelegten konkreten Umstände der Tat und nach dem Eindruck, den er aus dem Inhalt der Akten und der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, der Überzeugung, dass vom Kläger nach wie vor die in den Taten angelegte Wiederholungsgefahr ausgeht. Daher kann dahingestellt bleiben, ob bei der Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands nach § 53 AuslG nach nationalrechtlichem Maßstab eine Unverhältnismäßigkeit einer spezialpräventiven Ausweisung nur dann eintreten könnte, wenn die Wiederholungsgefahr gänzlich entfallen oder jedenfalls extrem gemindert wäre (vgl. GK-AufenthG, § 53 Rn. 62 i.V.m. Vor §§ 53 ff. Rn. 418 ff.) und ob - solange dies nicht festgestellt werden kann - auch der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK das der nationalen Norm immanente schwerwiegende spezialpräventive Ausweisungsinteresse mit diesem Gewicht zugrunde zu legen wäre. [...]

Hinsichtlich der "Boultif/Üner-Kriterien", die sich auf das Privat- und Familienleben beziehen, ist zunächst festzustellen, dass sich der Kläger - mit Ausnahme der Zeit von Anfang April 2004 bis 12.08.2005 - seit seiner Geburt im Oktober 1981 bis heute in Deutschland aufhält und damit - den Aufenthalt in den Niederlanden abgezogen - tatsächlich etwa 28 Jahre hier verbracht hat. Nahezu 23 Jahre, nämlich bis April 2004, ist der Aufenthalt rechtmäßig gewesen. Er beherrscht die deutsche Sprache in Wort und Schrift und hat seine gesamte Erziehung und Sozialisation im Bundesgebiet erfahren. Hier leben seine mittlerweile verwitwete Mutter und seine Geschwister sowie deren Familien. Er hat nach dem altersentsprechenden Erwerb des Hauptschulabschlusses eine Berufungsausbildung erfolgreich absolviert und in unmittelbarem Anschluss hieran ein Arbeitsverhältnis in dem erlernten Beruf aufgenommen. Die Verbindung zum Arbeitsmarkt hat er jedoch von sich aus gelöst, indem er im großen Stil in den Drogenhandel eingestiegen ist. Derzeit durchläuft er eine staatlich geförderte berufliche Weiterbildung zum Mediengestalter Digital und Print - Fachrichtung Gestaltung und Technik, die mit einem allgemein anerkannten Abschluss enden wird. Die dem Senat vorliegenden Zeugnisse deuten darauf hin, dass er seine Prüfungen im Sommer diesen Jahres voraussichtlich bestehen wird. Auf die Schulden in Höhe von nach wie vor weit über 800.000 EUR aufgrund des im Strafurteil angeordneten Verfalls des Wertersatzes leistet der Kläger seit Anfang 2007 kontinuierlich monatliche Zahlungen, die regelmäßig an seine wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst werden. Ob die sich aus dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart - Vermögensabschöpfung - vom 03.02.2011 ergebende Perspektive, möglicherweise nach Ablauf seiner Bewährungszeit die Vollstreckung aus der Verfallsanordnung erlassen zu bekommen, realisiert wird, ist offen.

Die Kontakte zwischen dem Kläger und seinen Brüdern entsprechen dem unter Erwachsenen Üblichen. Der Kläger hat entsprechend der Auflage im Bewährungsbeschluss zunächst nach seiner Haftentlassung bei seiner Mutter gelebt, mittlerweile hält er sich jedoch tatsächlich bei seiner neuen Partnerin auf, die über eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG verfügt. Allerdings hilft er noch bei der Pflege seiner Mutter, indem er sie zum Arzt fährt oder die Einkäufe organisiert. Hilfe bei der eigentlichen Körperpflege leistet er keine, da er - wie er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat - dies als Mann nicht gegenüber seiner Mutter erbringen könne. Mit seiner jetzigen Partnerin, die 1981 im Bundesgebiet geboren ist und einen serbischen Reisepass hat, sowie deren vier und acht Jahre alten Kindern aus einer früheren Beziehung lebt er seit November 2010 in familiärer Lebensgemeinschaft. Eine standesamtliche Heirat streben beide an, sobald die hierfür erforderlichen Unterlagen vollständig vorliegen, wobei nach den Angaben des Klägers nur noch Dokumente von Frau D. aus dem Kosovo fehlen. Der Senat geht davon aus, dass der Kläger insbesondere auch zu dem im Juni 2006 geborenen Sohn von Frau D. eine enge Beziehung aufgebaut hat und er - wie sich aus dem vorgelegten Schreiben des Kindergartens vom 12.04.2011 ergibt - einen positiven Einfluss auf diesen hat. Auch der Bewährungshelfer führt in seiner Stellungnahme vom 01.04.2011 aus, nach seiner eigenen Beobachtung fühlten sich die Kinder mit dem Kläger sehr wohl und pflegten einen vertrauten Umgang mit ihm. Aus den Erklärungen des Klägers und seiner Partnerin im Berufungsverfahren ergibt sich, dass ihre familiäre Lebensgemeinschaft fortgeführt und intensiviert werden soll; beide wollen nach einer Fehlgeburt weiterhin ein gemeinsames Kind.

4.) In dem Land seiner Staatsangehörigkeit hat der Kläger bislang noch keinen Lebensmittelpunkt gehabt. Er kennt die Türkei allerdings aus Besuchs- und Urlaubsreisen. Nach seinen Angaben sei seine früher in Kayseri lebende Großmutter mittlerweile verstorben, zuletzt sei er mit einer damaligen Freundin 2002 in Alanya gewesen. Der Kläger beherrscht alltagstauglich Türkisch in Wort und Schrift. Wie die Protokolle aus der Überwachung der Telekommunikation zeigen, ist innerhalb der Familie Türkisch benutzt worden. Teilweise gilt dies auch für die Abwicklung der Rauschgiftgeschäfte; sowohl unter den Bandenmitgliedern als auch unter den Lieferanten und Abnehmern haben sich türkischstämmige Personen befunden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat letztlich auch eingeräumt, Türkisch in einer Weise zu sprechen und schreiben, die es ihm ermöglicht, sich dort zurecht zu finden. Aus der Beschreibung seiner Verlobungsfeier anlässlich des Untersuchungstermins bei der Gutachterin ergibt sich ferner, dass er türkische Bräuche und die dadurch vermittelte Tradition als wertvoll erlebt. Dass der Kläger in der Vergangenheit einem Leben in der Türkei nicht ablehnend gegenüber gestanden ist, verdeutlichen auch die Bemühungen seines damaligen Strafverteidigers um eine "Freigabe" zur Abschiebung noch vor dem Halbstrafenzeitpunkt und auch die entsprechenden eigenen Äußerungen des Klägers, wonach er eine zügige Abschiebung in die Türkei anstrebe. Dies liegt "in einer Linie" mit der jedenfalls im Mai 2005 auch nach außen verkündeten Absicht, in die Türkei zu gehen.

5.) Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls erweist sich die unbefristet verfügte Ausweisung des Klägers auch in Ansehung der Tatsache, dass er die für sein Privat- und Familienleben konstitutiven Bindungen dauerhaft verlieren wird, aufgrund der besonderen Schwere des Ausweisungsanlasses und der nach wie vor von ihm ausgehenden Gefahr sowie der Zumutbarkeit der Verweisung auf ein Leben in der Türkei als verhältnismäßig. Zwar wird der Kläger nicht mehr in den Alltagsablauf seiner pflegebedürftigen Mutter eingebunden sein; eine Übernahme der bisher durch ihn erbrachten Hilfestellungen, bei denen es sich im Übrigen nicht um direkte pflegerische Leistungen handelt, durch andere Personen, insbesondere hier lebende Brüder, ist jedoch möglich. Dass eine Beendigung des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet nicht nur für ihn, sondern für alle Familienangehörigen und auch für seine jetzige Partnerin und deren Kinder, die gerade erst eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben, mit einer Härte verbunden ist, liegt auf der Hand. Allerdings kommt den neuen, ohnehin erst seit wenigen Monaten praktizierten, Bindungen zu Frau D. und deren Kindern ohnehin kein qualifizierter Schutz zu, weil sie in Kenntnis des laufenden Ausweisungsverfahrens eingegangen worden sind. Auch ist der Kläger weder der Vater der Kinder noch hat er mit seiner Partnerin eine nach deutschen Recht anerkannte Ehe geschlossen. Der Kläger wird auch seine beruflichen und sozialen Positionen und Kontakte und all das, was sein Privatleben letztlich ausmacht, durch eine Aufenthaltsbeendigung unwiederbringlich verlieren. Dies ist ihm jedoch aufgrund des öffentlichen Interesses an seiner Ausweisung und der Tatsache, dass ihm ein Einleben in die ihm nicht gänzlich unbekannten Verhältnisse in der Türkei möglich ist, zuzumuten - zumal er schon seit seiner Überstellung aus den Niederlanden im August 2005 nicht mehr über einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet verfügt und er im Übrigen damals von sich aus durch seine Flucht seine Bindungen an das Bundesgebiet gelöst hat.

Der Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gebietet es ebenfalls nicht, schon zum Zeitpunkt der Ausweisung deren Wirkungen zu befristen. Aufgrund des Ausmaßes der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und ihrer derzeit nicht sicher zu prognostizierenden zukünftigen Entwicklung muss eine Befristung einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben. Das insoweit eher gering anzusiedelnde Gewicht der Interessen des Ausländers und seiner Angehörigen erfordert keine andere Entscheidung.

Ob aufgrund der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EU L 348/2008, S. 98 ff.), die nach Ablauf der Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2010 inzwischen unmittelbar anwendbar ist, jedenfalls mit Blick auf die Tatsache, dass sich der Kläger schon seit August 2005 nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und die Legalität des Aufenthalts daher nicht unmittelbar durch die Ausweisung beendet wird, die Wirkungen des Einreiseverbots schon jetzt und von Amts wegen zu befristen wären, kann dahin gestellt bleiben Denn eine "Rückkehrentscheidung" im Sinne des Art. 6 und Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie, die im Falle des gesetzlichen Erlöschens des Aufenthaltsrechts funktionell in der Abschiebungsandrohung liegt, ist nicht Gegenstand der Entscheidung im Berufungsverfahren.

IV.)

Unabhängig hiervon erweist sich eine Ausweisung des Klägers nach § 53 AufenthG aus dem dieser Bestimmung selbstständig neben der Spezialprävention zugrunde liegenden Zweck der Generalprävention selbst mit Blick darauf, dass es sich beim ihm um einen hier geborenen und aufgewachsenen Ausländer der zweiten Generation handelt, als verhältnismäßig (Art. 8 EMRK sowie Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG).

Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Ist-Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990, wonach diese auch zu einem generalpräventiven Einschreiten ermächtigt (BVerwG, Beschluss vom 30.12.1993 - 1 B 185.93 - juris Rn. 4 f. unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung zu §§ 45 ff. AuslG 1990 <BT-Drs.11/6321 vom 27.01.1990 - Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts, S. 49 ff.>), die Vorschrift inhaltlich in das Aufenthaltsgesetz übernommen und damit im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungs- und Wertungsprärogative zur Notwendigkeit und Wirksamkeit der Generalprävention § 53 AufenthG auch diesen Ausweisungszweck stillschweigend zugrunde gelegt (vgl. GK-AufenthG § 53 Rn. 22 f., Vor §§ 53 ff. Rn. 1300.2). Zwar hat der Senat mit Urteil vom 18.03.2011 (11 S 2/11 - juris) entschieden, dass seit Inkrafttreten des EU-Reformvertrags von Lissabon am 01.12.2009 eine Ausweisung bei in Deutschland nachhaltig "verwurzelten" Ausländern in der Regel nicht mehr tragend generalpräventiv begründet werden kann. Er hat jedoch in den Urteilsgründen auch ausgeführt, dies könne allerdings ausnahmsweise dann zulässig sein, wenn eine ganz besonders schwerwiegende Straftat verwirklicht worden ist, die in erheblichem Maße die Interessen des Staates oder der Gesellschaft gefährdet. Gemessen hieran steht Art. 8 EMRK in Ansehung der Bindungen des Klägers im Bundesgebiet einer generalpräventiv motivierten Ausweisung nicht entgegen, weil die von ihm verwirklichte schwerwiegende bandenmäßige Betäubungsmittelkriminalität in einem erheblichen Maße die Interessen des Staates bzw. der Gesellschaft gefährdet und im konkreten Fall das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels sein Privatinteresse an einem weiteren Verbleib überwiegt.

1.) Der der zwingenden Ausweisung nach § 53 AufenthG innewohnende Zweck, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten, ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Klägers nicht in einer die Verhältnismäßigkeit berührenden Weise schon dadurch entwertet oder gemindert, dass die Ausweisung bis heute nicht vollzogen ist, andere Bandenmitglieder nicht ausgewiesen worden sind bzw. eine generalpräventive Ausweisung im Kampf gegen die Betäubungsmittelkriminalität ein Fremdkörper in dem durch die strafrechtliche Anerkennung von Aufklärungshilfen geprägten System wäre.

Unter dem zeitlichen Gesichtspunkt kommt es nur darauf an, dass die Ausländerbehörde im Rahmen der Erfordernisse des Verwaltungsverfahrens die Ausweisung zeitnah verfügt. (vgl. hierzu auch VGH Bad.-Württ. Urteil vom 26.07.2001 - 13 S 2401/99 - juris Rn. 29). Das Regierungspräsidium leitete bereits am 25.08.2005 das Ausweisungsverfahren ein, gab dem Prozessbevollmächtigten des Klägers nach Erhalt des Strafurteils am 02.03.2006 Gelegenheit zur Stellungnahme und erließ am 04.10.2006 und damit ohne zeitliche Verzögerung die Ausweisungsverfügung. Dass diese bis heute nicht vollzogen ist und die Generalprävention erst aufgrund der Erkenntnis, dass der Kläger seine Rechte aus dem ARB 1/80 verloren hat, "ins Spiel kommt", ist Konsequenz des Rechtsschutzsystems und steht als solches der Eignung der generalpräventiven Wirkung nicht entgegen. Die Verhältnismäßigkeit wird im konkreten Fall auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der "Bandenchef" ...., der es im Gegensatz zum Kläger nicht abgelehnt hat, in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen zu werden, und auch die Brüder des Klägers ... und ..., die Rechtsstellungen nach dem ARB 1/80 besitzen, nach wie vor in Deutschland leben. Die gegen die Brüder ergangenen Ausweisungsverfügungen des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 28.04.2005 bzw. 03.05.2005 sind vom Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteilen vom 22.02.2006 - 16 K 1744/05 - und vom 05.07.2006 - 16 K 1821/05 - wegen eines formellen Fehlers rechtskräftig aufgehoben worden. Die Fälle sind schon aufgrund der unterschiedlichen Sachverhalte und der jeweils einschlägigen Rechtsgrundlagen nicht mit der hier vorliegenden Konstellation vergleichbar.

Was schließlich den Einwand der fehlenden "Systemkonformität" von Ausweisung und Aufklärungshilfe nach § 31 BtMG anbelangt, so kommt dem schon deshalb keine Bedeutung zu, weil sich der Gesetzgeber in Kenntnis des im Prinzip seit 1982 geltenden § 31 BtMG (Weber, BtMG, a.a.O., § 31 Rn. 4) zu einer Verschärfung des Ausweisungsrechts gerade im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität entschlossen hat. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 schuf in § 47 Abs. 1 Nr. 3 AuslG eine zwingende Ausweisung wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz, um dem aus dem Interesse an konsequenter Bekämpfung der Drogenkriminalität hergeleiteten Grundsatz Rechnung zu tragen, dass ausländische Drogentäter ihr Aufenthaltsrecht verwirken und aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden (so die Begründung des Gesetzentwurfs BT-Drs. 12/6853, S. 30). Der Gesetzgeber hat die Konsequenzen und die Anerkennung geleisteter Aufklärungshilfe nach Maßgabe des § 31 BtMG - wie in der Systematik angelegt - grundsätzlich auf das Strafrecht beschränkt.

2.) Auch Art. 8 EMRK hindert im vorliegenden Fall nicht daran, den Kläger aus generalpräventiven Gründen auszuweisen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte steht der Generalprävention als Ausweisungszweck zwar grundsätzlich kritisch gegenüber (Senatsurteil vom 18.03.2011 - 11 S 2/11 - juris Rn. 28), hat deren Zulässigkeit aber bisher nicht ausdrücklich verneint, sondern dies vielmehr als einen Aspekt der Einzelfallprüfung behandelt (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 06.12.2007 - Nr. 69735/01 - <Chair> InfAuslR 2008, 111 und vom 28.06.2007 - Nr. 31753/02 - <Kaya> InfAuslR 2007, 325; näher Hoppe, Neuere Tendenzen in der Rechtsprechung zur Aufenthaltsbeendigung - gibt es eine gemeinsame Linie in den Entscheidungen von EGMR, EuGH und BVerfG?, ZAR 2008, 251, 253 m.w.N.). Der Gerichtshof betont in seiner Rechtsprechung die verheerenden Folgen von Drogen auf das Leben der Menschen und "hat Verständnis dafür, dass die Behörden mit großer Bestimmtheit gegen jene vorgehen, die aktiv zur Verbreitung dieser Plage beitragen" (EGMR, Urteil vom 12.01.2010 - Nr. 47486/06 - <Khan>). Speziell was den bandenmäßigen Handel mit Betäubungsmittel anbelangt, hat der EuGH in dem zur Unionsbürgerrichtlinie ergangenen Urteil vom 23.11.2010 (C-145/09 - <Tsakouridis> Rn. 46 ff.) darauf verwiesen, dass dieser eine diffuse Kriminalität darstelle, die mit beeindruckenden wirtschaftlichen und operativen Mitteln ausgestattet sei und sehr häufig über internationale Verbindungen verfüge. Angesichts seiner verheerenden Folgen sei mit dem illegalen Drogenhandel eine Bedrohung der Gesundheit, Sicherheit und Lebensqualität der Unionsbürger sowie der legalen Wirtschaftstätigkeit, der Stabilität und der Sicherheit der Mitgliedstaaten verbunden.

Aufgrund der oben im Einzelnen dargelegten Intensität und des Umfangs des bandenmäßigen Drogenhandels, der im konkreten Fall auch mit den typischen Gefahren der Rauschgiftkriminalität tatsächlich verbunden gewesen ist, erweist sich die generalpräventive Ausweisung des Klägers, der in diesem illegalen "Geflecht" eine führende Stellung eingenommen hat, unter Berücksichtigung seiner persönlichen Belange und dem Interesse an einer weiteren Lebensführung im Bundesgebiet (vgl. insoweit oben unter III.) als verhältnismäßig. [...]