VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 29.06.2011 - A 4 K 412/10 - asyl.net: M18729
https://www.asyl.net/rsdb/M18729
Leitsatz:

Krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG (psychische Erkrankung). Offen bleiben kann, inwieweit die Erkrankungen des Klägers in der Russischen Föderation prinzipiell behandelt werden könnten und ob der Kläger dies finanzieren könnte. In diesem Ausnahmefall besteht ein Abschiebungsverbot, weil der Kläger der festen subjektiven Überzeugung ist, man wolle ihn in der Russischen Föderation töten, weshalb er nicht auf eine eventuelle Behandlungsmöglichkeit dort verwiesen werden kann.

Schlagwörter: krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Russische Föderation, psychische Erkrankung, Polen, Wiederaufnahme des Verfahrens, paranoides Syndrom, Depression, wahnhafte Störung, Suizidgefahr, medizinische Versorgung, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Auszüge:

[...]

Dagegen hat der Kläger aufgrund seiner psychischen Erkrankungen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. [...]

Ausweislich des von Prof. Dr. ..., Universitätsklinikum Freiburg, unter dem 27.12.2010 erstellten psychiatrischen Gutachtens, das der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, leidet der Kläger an einem paranoiden Syndrom i.S. einer isolierten wahnhaften Störung, an einem mittelschweren bis schweren depressiv-ängstlichen Syndrom i.S. einer mittelschweren bis schweren depressiven Episode sowie an einer Abhängigkeit von Alkohol. Eine Abschiebung führe, so Prof. Dr. ... als massiver Stressor voraussichtlich zur Verschlechterung der depressiven Symptomatik und einer möglichen Eskalation, und zwar auch unabhängig vom Zielstaat der Abschiebung. Ebenso führe eine Abschiebung als solche möglicherweise bereits zu einer Zunahme der Alkoholintoxikation. Entscheidend für den Gutachter bei der Frage nach gesundheitlichen Folgen einer Abschiebung aber ist, dass der Kläger zusätzlich an einer wahnhaften Störung leidet, die spezifisch auf die Russische Föderation gerichtet ist; insoweit wäre bei einer Abschiebung in die Russische Föderation mit besonderen gesundheitlichen Folgen wie einer Zunahme von Ängsten, der Verstärkung des Wahns und möglicherweise einer Steigerung der Suizidalität zu rechnen. Auch der Aufenthalt in Russland, nicht nur der Abschiebevorgang selbst, ist, so der Gutachter in der mündlichen Verhandlung, als massiver Stressor und damit auch als Suizidfaktor zu bewerten. Die Wahnidee der Verfolgung und die massive Angst, bei Rückkehr in seine Heimat getötet zu werden, seien in Russland deutlich präsenter als in anderen Ländern; ein Aufenthalt in gerade dem Land, in dem der Kläger konkret befürchte, getötet zu werden, könne nicht nur zu einer Verstärkung des Wahns führen, sondern sei auch als zusätzlicher negativer Faktor zu bewerten im Hinblick auf eine - ggf. nur gegen den Willen des Klägers mögliche - Behandlung der Wahnerkrankung. Die derzeit durchgeführte psychotherapeutische Behandlung des Klägers sieht der Sachverständige, wie er in der mündlichen Verhandlung erläuterte, als durchaus günstig an bezüglich der Abhängigkeitssymptomatik und der Depression; ein Abbruch dieser Behandlung - die nach Auffassung des Gutachters im Hinblick auf die Wahnerkrankung idealerweise durch eine medikamentöse Behandlung ergänzt würde - könne dazu führen, dass die Realitätskontrolle noch schwieriger würde, die depressive Symptomatik sich verstärke und möglicherweise Alkoholintoxikation oder auch selbstschädigende Handlungen zunähmen. Selbst wenn entsprechende Therapien in Russland grundsätzlich verfügbar seien, könne speziell im Falle des Klägers die spezifisch russische Umgebung mit den erneut getriggerten wahnhaften Erlebnissen zu besonderen Schwierigkeiten bei der Behandlung der Erkrankungen führen.

Bei Zugrundelegung des schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens von Prof. Dr. ..., das dieser in der mündlichen Verhandlung plausibel und detailliert erläuterte, sowie des persönlichen Eindrucks vom Kläger in der mündlichen Verhandlung ist ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG belegt. Die Kammer ist davon überzeugt, dass sich die psychischen Erkrankungen des Klägers alsbald nach einer Rückkehr in die Russische Föderation richtungsweisend - bis hin zu einem möglichen Suizid - verschlechtern werden und dies speziell im Falle des Klägers nicht durch eine entsprechende Behandlung in der Russischen Föderation aufgefangen werden kann.

Zwar lässt sich wohl davon ausgehen, dass die medizinische Grundversorgung in der Russischen Föderation auf einfachem Niveau im Grundsatz gewährleistet ist (AA, Lagebericht vom 07.03.2011) und auch die Behandlung psychischer Erkrankungen zumindest in größeren Städten grundsätzlich. möglich ist (Botschaftsbericht vom 07.05.2007; Botschaftsbericht vom 06.05.2010; BAMF, Auskunft vom 16.07.2010); dies setzt jedoch voraus, dass die Patienten in der jeweiligen Stadt registriert sind bzw. sie von der Poliklinik am Ort in eine andere Klinik überwiesen worden sind (Botschaftsbericht vom 06.10.2005; SFH, Russische Föderation: Behandlung von PTBS, 20.04.2009), wobei das Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes insbesondere in großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg stark eingeschränkt ist (AA, Auskunft vom 20.08.2004). Die Angaben zu Behandlungskosten schwanken zwischen grundsätzlichem Anspruch auf kostenfreie Behandlung und bis zu 50 € pro Sitzung (Botschaftsbericht vom 06.10.2005: AA, Auskunft vom 20.08.2004; IOM, Länderinformationsblatt Russische Föderation vom 17.08.2010), wobei in der Praxis regelmäßig selbst bei theoretischem Anspruch auf kostenfreie Behandlung "Zuzahlungen" eingefordert werden (Botschaftsbericht vom 06.10.2005).

Vorliegend kann jedoch offen bleiben, inwieweit die Erkrankungen des Klägers in der Russischen Föderation prinzipiell behandelt werden könnten und inwieweit eine Behandlung dem Kläger auch finanziell möglich wäre. Denn die Kammer ist mit Blick auf und in Würdigung des psychiatrischen Sachverständigengutachtens zu der Überzeugung gelangt, dass es sich im Fall des Klägers um einen Ausnahmefall handelt und er daher aufgrund seines individuellen spezifischen Krankheitsbildes nicht auf eventuelle Behandlungsmöglichkeiten verwiesen werden kann. Für die Kammer ist dabei insbesondere der Umstand entscheidend, dass der Kläger zugleich an mehreren Erkrankungen leidet, die sich durch eine Rückführung nach Russland verschlechterten und auch gegenseitig negativ beeinflussten. Wie der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung eindrücklich erläutert hat, führte eine Rückkehr des Klägers in seinen Heimatstaat, der ihn, so seine feste subjektive Überzeugung, töten wolle, zu einer Verstärkung nicht nur der Depression sowie seiner Alkoholabhängigkeit, sondern insbesondere seiner Wahnerkrankung mit der Folge der massiven Zunahme von Ängsten, der Verstärkung der Wahnvorstellungen sowie der Zunahme von Alkoholintoxikation und von Suizidalität. Nachvollziehbar ist für die Kammer auch, dass eine Behandlung nicht nur der Wahnerkrankung selbst, sondern auch der Depression sowie der Alkoholabhängigkeit, selbst wenn sie theoretisch verfügbar wäre, in einem Umfeld, in dem der Erkrankte sich beständig in Todesgefahr wähnt, nur unter massiven Schwierigkeiten erfolgreich sein könnte. Hinzu kommt, dass die Kammer auch nach dem Eindruck vom Kläger in der mündlichen Verhandlung ernsthafte Zweifel daran hat, ob der Kläger gesundheitlich überhaupt dazu in der Lage wäre und die entsprechende Krankheitseinsicht hätte, um die Voraussetzungen für eine - wenigstens theoretisch kostenfreie - Behandlung zu schaffen, insbesondere sich von den Behörden registrieren zu lassen und Arzttermine wahrzunehmen. Vielmehr hat der Kläger in seinem Schlusswort eindrücklich und im Brustton der Überzeugung erklärt, die (von seinem Prozessbevollmächtigten zuvor aufgeworfene) Frage nach den Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen in Russland sei für ihn gar nicht so wichtig, entscheidend sei doch, dass Polizei, Staatsanwaltschaft und Regierung ihn töten wollten und sein Leben bei einer Rückkehr nach Russland daher keinen Pfifferling mehr wert sei. Wenn der Kläger aber schon in einem auch in seiner Wahrnehmung vergleichsweise sicheren Umfeld wie Deutschland und unter dem positiven gesundheitlichen Einfluss der Psychotherapie jede Krankheitseinsicht vermissen lässt und rein darauf fokussiert ist, in Russland umgebracht zu werden, ist ernsthaft zu befürchten, dass er in Russland in einem infolge der Abschiebung massiv verschlechterten psychischen Gesundheitszustand und in einem Umfeld, mit dem sein Wahn unmittelbar verknüpft ist, nicht in der Lage wäre, eine theoretisch gegebene Behandlungsmöglichkeit auch tatsächlich zu erreichen, sondern in kurzer Zeit in seelische und körperliche Verelendung verfiele bis hin zum Suizid. [...]