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VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Beschluss vom 15.07.2011 - 3 L 837/11.DA.A - asyl.net: M18748
https://www.asyl.net/rsdb/M18748
Leitsatz:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen Dublin-Überstellung. Es bestehen hinreichende Gründe für die Annahme, dass das BAMF sein Ermessen hinsichtlich eines Selbsteintritts überhaupt nicht ausgeübt hat, da es nicht berücksichtigt hat, dass die Antragstellerin mit einem türkischen Staatsangehörigen verheiratet ist, der über Aufenthaltserlaubnisse verfügt (§§ 4 Abs. 5, 23 Abs. 1 AufenthG) und im Mai 2011 von einem ehelichen Kind entbunden wurde, das einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG haben könnte (mit Bezug auf EuGH, Urteil vom 9.12.2010 - Toprak und Oguz, C-300/09 und C-301/09 - asyl.net, M17944).

Schlagwörter: Dublin II-VO, Dublinverfahren, vorläufiger Rechtsschutz, einstweilige Anordnung, Selbsteintritt, Ermessen, Eltern-Kind-Verhältnis, Familieneinheit, Schutz von Ehe und Familie, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a Abs. 2, VO 343/2003 Art. 3 Abs. 2, VwGO § 123 Abs. 1, VwVfG § 40, ARB 1/80 Art. 13, DVAuslG § 2 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, der hier allein in Betracht kommt, kann das Gericht auf Antrag auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs und der Grund für eine notwendige vorläufige Sicherung sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 123 Abs. 3 VwGO).

Diese Voraussetzungen liegen vor, denn die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Es spricht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich die Ablehnung des Asylantrags im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28.01.2011, wonach der Asylantrag unzulässig ist und die Abschiebung nach Rumänien angeordnet wird, im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweisen wird.

Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin, mit dem sie es abgelehnt hat, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2001 (ABl. L 50/1) (Dublin II Verordnung) auszuüben, erscheint ermessensfehlerhaft. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung enthält eine Ausnahmevorschrift von Art. 3 Abs. 1 Satz 1, wonach die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag prüfen, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates stellt. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 bestimmt, dass abweichend von Absatz 1 jeder Mitgliedstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen kann, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Danach liegt es im Ermessen der Antragsgegnerin, ob sie anstelle des zuständigen Mitgliedsstaates das Asylverfahren selbst durchführt. Die Ausübung des Ermessens richtet sich dabei nach den Vorschriften des nationalen Verwaltungsrechts. Nach § 40 VwVfG hat die Behörde ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Vorliegend bestehen hinreichende Gründe für die Annahme, dass die Antragsgegnerin ihr Ermessen überhaupt nicht ausgeübt hat, denn sie führt lediglich aus, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die sie veranlassen könnten, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, lägen nicht vor. Dabei lässt die Antragsgegnerin unberücksichtigt, dass die Antragstellerin mit einem türkischen Staatsangehörigen verheiratet ist, der über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG sowie daneben nach § 23 Abs. 1 AufenthG verfügt. Die Antragstellerin wurde am ... 2011 von einem ehelichen Kind entbunden. Sowohl für die Antragstellerin wie auch das Kind wurde Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gestellt. Im Lichte der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 09.12.2010 - C-300/09 und C-301/09 -, NVwZ 2011, 349) wird von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen sein, ob die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates als dynamisch anzusehen ist. Sollte dies der Fall sein, könnte für das gemeinsame Kind der Antragstellerin und ihres Ehemannes § 2 Abs. 2 DV AuslG 1990 Anwendung finden. Nach dieser Vorschrift bedürfen keiner Aufenthaltsgenehmigung die Staatsangehörigen unter 16 Jahren von Jugoslawien, Marokko, der Türkei und Tunesien, die einen Nationalpass oder einen als Passersatz zugelassenen Kinderausweis besitzen, 1. wenn sie sich nicht länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhalten wollen oder 2. solange ein Elternteil eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt. Da der Vater des Kindes der Antragstellerin. im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis ist, könnte das Kind Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Abs. 3 AufenthG bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres haben.

Der Anordnungsgrund ergibt sich aus dem Umstand, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter dem 12.07.2011 die Ausländerbehörde um Überstellung des am ... 2011 geborenen Kindes ... gemeinsam mit seiner Mutter, der Antragstellerin, nach Rumänien ersucht und mitgeteilt hat, dass die Verpflichtung Rumäniens zur gemeinsamen Übernahme längstens bis zum 26.07.2011 bestehe.

Angesichts des Tenors der vorstehenden Entscheidung geht das Gericht davon aus, dass die Antragsgegnerin dem Bevollmächtigten des Sohnes der Antragstellerin den dem Überführungsersuchen zugrunde liegenden Bescheid zustellen wird, so dass es einer Entscheidung über den Antrag, der Antragsgegnerin aufzugeben, eine Überführung des Kindes nach Rumänien nicht durchzuführen, solange der der Überführung zugrunde liegende Bescheid dem Bevollmächtigten des Kindes nicht zugestellt worden ist, nicht bedarf. [...]