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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.05.2011 - 11 K 2967/10 - asyl.net: M18784
https://www.asyl.net/rsdb/M18784
Leitsatz:

1. Nicht jede Teilnahme an einer nicht von der PKK ausgerichteten Veranstaltung, bei der die Zustände in der Türkei kritisiert werden, stellt eine Unterstützung der PKK dar. Auch bloße Anwesenheit von PKK-Anhängern bei einer solchen Veranstaltung macht diese nicht per se zu einer PKK-Veranstaltung.

2. Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit führt nicht zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80. Die hiervon abweichende Auffassung des VGH Kassel (B. v. 9.2.2004 12 TG 3548/03) und des VGH München (U. v. 26.4.2007 - 24 BV.03.2091) ist mit der neuen Rechtsprechung des EuGH nicht vereinbar.

3. Bei einer nach Ermessen ergehenden Ausweisung wegen des Ausweisungsgrundes des § 54 Nr. 5 AufenthG hat die Ausländerbehörde die Qualität der Unterstützungshandlungen und die Gefährdungslage mit dem jeweils gebotenen Gewicht in die Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte einzustellen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisungsgrund, Ausweisung, Terrorismus, Untersützungshandlungen, Unterstützung, PKK, gegenwärtige Gefährlichkeit, Regelausweisung, Regelausweisungstatbestand, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Sicherheitsbefragung, Sicherheitsgespräch, Flüchtlingsstatus, anerkannter Flüchtling
Normen: AufenhtG § 54 Nr. 5, AufenthG § 54 Nr. 6, AufenhtG § 56 Abs. 1 S. 3, AufenthG § 56 Abs. 1 S. 5, ARB 1/80 Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich, ARB 1/80 Art. 7
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. [...]

Der Beklagte hat aber im angefochtenen Bescheid überzeugend dargelegt, dass die PKK bis in die Gegenwart als eine Vereinigung angesehen werden kann, die den Terrorismus unterstützt. Zur Vermeidung von Wiederholungen kann insoweit auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen werden (§ 117 Abs. 5 VwGO). Diese Einschätzung wird in der Rechtsprechung überwiegend geteilt (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.03.1999 - 9 C 23/98 - BVerwGE 109, 12; Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26/03 - BVerwGE 123, 114 und Beschl. v. 25.11.2008 - 10 C 46/07 - NVwZ 2009, 592; VGH München, Urt. v. 21.10.2008 - 11 B 06.30084 - juris -; VGH Mannheim, Urt. v. 21.07.2010 - 11 S 541/10 - juris - und Beschl. v. 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - juris -; VG Stuttgart, Urt. v. 25.01.2010 - 11 K 3543/09 - juris). [...]

Entgegen der Auffassung des Regierungspräsidiums Stuttgart hat der Kläger die PKK nicht unterstützt.

Als tatbestandserhebliches Unterstützen im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG ist jede Tätigkeit anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten der Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt, auswirkt. Auf einen beweis- und messbaren Nutzen für die Verwirklichung der missbilligten Ziele kommt es ebenso wenig an wie auf eine subjektive Vorwerfbarkeit. Allerdings muss auch die eine Unterstützung der Vereinigung, ihre Bestrebungen oder ihre Tätigkeit bezweckende Zielrichtung des Handelns für den Ausländer regelmäßig erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen zu den latenten Gefahren der Vorfeldunterstützung des Terrorismus nicht nur ganz unwesentlich oder geringfügig beiträgt und deshalb selbst potenziell gefährlich erscheint (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.03.2005 - 1 C 26/03 - BVerwGE 123, 114).

Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend eine Unterstützung der PKK durch den Kläger nicht feststellbar. Der Beklagte hält dem Kläger vor, er sei Teilnehmer von sieben Veranstaltungen von PKK-Anhängern gewesen und habe dadurch diese Organisation unterstützt. Diese Aktivitäten des Klägers sind aber entweder nicht erwiesen oder sie sind nicht als schädliche Unterstützungshandlung zu bewerten. Im Einzelnen:

Der Kläger soll nach dem Vortrag des Beklagten am 14.05.2006 in der Gaststätte ... in Stuttgart, am 24.02.2008 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart, am 01.02.2009 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart und am 07.06.2009 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart an Veranstaltungen von Anhängern der PKK teilgenommen haben. Dies hat der Kläger im Verwaltungsverfahren, aber auch in der mündlichen Verhandlung bestritten. Die Erkenntnisse des Beklagten über die angeblichen Teilnahmen des Klägers an den Veranstaltungen am 14.05.2006, am 24.02.2008, am 01.02.2009 und am 07.06.2009 gehen auf Wahrnehmungen einer Gewährsperson des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg zurück. Diese Gewährsperson ist als unmittelbarer Zeuge nicht erreichbar. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass auch Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, die auf geheim gehaltenen Quellen beruhen und als "Zeugenaussage vom Hörensagen" in den Prozess eingeführt werden, grundsätzlich berücksichtigt werden können. Die gerichtliche Beweiswürdigung der Angaben eines Zeugen vom Hörensagen unterliegt aber besonderen Anforderungen, die auf dem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip abzuleiten sind. Danach ist der Beweiswert seiner Angaben besonders kritisch zu prüfen. Denn das Zeugnis vom Hörensagen ist nur begrenzt zuverlässig, weil sie die jedem Personenbeweis anhaftenden Fehlerquellen im Zuge der Vermittlung der Angaben verstärken und weil das Gericht die Glaubwürdigkeit der Gewährsperson nicht selbst einschätzen kann. Die Angaben der Gewährsperson genügen danach regelmäßig nicht, wenn sie nicht durch andere wichtige Gesichtspunkte - die etwa im Blick auf Einlassungen des Betroffenen oder in Gestalt objektiver Umstände gegeben sein können - gestützt oder bestätigt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.05.1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250; Beschl. v. 11.04.1991 - 2 BvR 196/91 - NJW 1992, 168; Beschl. v. 19.07.1995 - 2 BvR 1142/93 - NJW 1996, 448 und Beschl. v. 21.08.1996 - 2 BvR 1304/96 - NJW 1997, 999). Diese für den Strafprozess entwickelten Grundsätze gelten auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 02.05.1984 - 10 S 1739/82 - NJW 1984, 2429; Urt. v. 27.03.1998 - 13 S 1349/96 - EzAR 277 Nr. 10 und Urt. v. 11.07.2002 - 13 S 1111/01 - juris -).

Nach diesen Maßstäben genügen die Angaben der Gewährsperson des Landesamtes für Verfassungsschutz nicht, die angeblichen Teilnahmen des Klägers an den Veranstaltungen am 14.05.2006, am 24.02.2008, am 01.02.2009 und am 07.06.2009 zu erweisen, weil sie nicht durch andere wichtige Gesichtspunkte gestützt oder bestätigt werden. Der Kläger hat während des gesamten Verfahrens bestritten, an diesen Veranstaltungen teilgenommen zu haben. Andere Indizien als die Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg im Hinblick auf eine Teilnahme des Klägers an den besagten Veranstaltungen gibt es nicht. Der in der mündlichen Verhandlung als Zeuge vernommene Herr K hat nicht bestätigen können, dass der Kläger Teilnehmer der Veranstaltung vom 14.05.2006 gewesen ist.

Der Kläger hat aber unstreitig an den ihm vorgehaltenen Veranstaltungen vom 04.02.2007 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart, am 25.02.2007 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart und an einer Veranstaltung am 30.11.2008 im Kulturhaus Arena in Stuttgart teilgenommen. Insoweit sind aber weder in subjektiver noch in objektiver Hinsicht Unterstützungshandlungen im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG feststellbar.

Zur Veranstaltung am 04.02.2007 hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, an diesem Tag hätten Angehörige im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart einer Verstorbenen gedacht. Die Angehörigen hätten für die Teilnehmer ein Essen ausgerichtet. Bei den Kurden sei es üblich, dass der Verstorbenen gedacht werde. Am 04.02.2007 habe es sich um eine solche Gedenkfeier für eine Verstorbene gehandelt. Für ihn seien die Werte seines Volkes sehr wichtig. Hierzu zähle auch, der Toten zu gedenken und zu beten. Da er die Angehörigen der Verstorbenen kenne, sei er zu dieser Gedenkfeier gegangen und habe den Angehörigen sein Beileid ausgesprochen. Er habe mit den Angehörigen zusammen gegessen und sei dann wieder gegangen. An eine bei der Veranstaltung gehaltene Rede könne er sich nicht erinnern.

Im Hinblick auf diesen vom Kläger geschilderten und von den Beklagten-Vertretern in der mündlichen Verhandlung nicht in Abrede gestellten Ablauf der Veranstaltung vom 04.02.2007 vermag das Gericht eine Unterstützung der PKK nicht zu erkennen. Die Teilnahme an einer Gedenkfeier für einen Verstorbenen ist nicht nur im kurdischen Kulturkreis, sondern auch in den durch das Christentum geprägten Staaten eine allgemein übliche und selbstverständliche Übung, an die keinerlei Nachteile geknüpft werden dürfen. Bei der vorliegenden Gedenkfeier für einen Verstorbenen am 04.02.2007 handelte es sich gerade nicht um eine typische "Märtyrergedenkveranstaltung", die als politische Plattform und zur Herstellung eines engeren ideologischen und emotionalen Zusammenhalts der PKK-Mitglieder und PKK-Sympathisanten genutzt wird (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 17.03.2011 - 11 S 460/11; VG Sigmaringen, Urt. v. 08.12.2009 - 1 K 2126/07 - juris -).

In Bezug auf die Veranstaltung vom 25.02.2007 im Mesopotamischen Kulturverein in Stuttgart gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, an diesem Tag habe der weithin bekannte kurdische Journalist Gunay Aslan eine Rede zur aktuellen Entwicklung im Mittleren Osten gehalten. Da er sich für die Entwicklung in seinem Heimatland interessiere, habe er an dieser Veranstaltung teilgenommen. Der Journalist habe von der Situation der Kurden im Nahen Osten berichtet und seine Einschätzung zur weiteren Entwicklung mitgeteilt. Er habe immer wieder betont, dass den Kurden kulturelle Rechte zustünden und sie diese einfordern dürften.

Dass diese Veranstaltung in irgendeinem Kontext zur PKK stand, ist für das Gericht nicht erkennbar. Dies gilt auch im Hinblick auf den vom Landesamt für Verfassungsschutz mitgeteilten Inhalt des Redebeitrags. Im Übrigen scheinen sowohl das Landesamt für Verfassungsschutz als auch das Regierungspräsidium Stuttgart zu verkennen, dass nicht jede Teilnahme an einer nicht von der PKK ausgerichteten Veranstaltung, bei der die Zustände in der Türkei kritisiert werden, zugleich eine Unterstützung der PKK darstellt. Auch die bloße Anwesenheit von PKK-Anhängern bei einer solchen Veranstaltung macht diese nicht per se zu einer PKK-Veranstaltung.

Zur Veranstaltung vom 30.11.2008 machte der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend, bei dieser Veranstaltung im Kulturhaus Arena in Stuttgart habe es viele Programmpunkte gegeben. Der Schwerpunkt der Veranstaltung habe bei Musikbeiträgen gelegen. Ob bei dieser Veranstaltung Reden gehalten worden seien, wisse er nicht. Er sei lediglich wegen der angekündigten Musikbeiträge zu dieser Veranstaltung hingegangen.

Allerdings handelte es sich bei der Veranstaltung vom 30.11.2008 um eine Feier des 30-jährigen Bestehens der PKK, die in spezifischer Weise Propagandacharakter gehabt haben dürfte. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Teilnahme an einer derartigen Veranstaltung durchaus dazu geeignet sein kann, den Zusammenhalt der Organisation und ihrer Anhänger zu befördern. Gleichwohl kann die Teilnahme des Klägers an dieser Veranstaltung nicht als Unterstützungshandlung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG angesehen werden. Ob vorliegend bereits die subjektive Zurechenbarkeit fehlt, da der Kläger lediglich wegen der Musikbeiträge die Veranstaltung aufgesucht und auch nur an diesen teilgenommen haben will, kann dahingestellt bleiben. Allein durch die Teilnahme an der Veranstaltung vom 30.11.2008 ist der Kläger jedenfalls nicht in eine innere Nähe und Verbundenheit zur PKK geraten. Eine solche innere Nähe läge nur dann vor, wenn zahlreiche Beteiligungen an Veranstaltungen der PKK feststellbar wären. Dies ist jedoch - wie dargelegt - im Falle des Klägers nicht der Fall. Liegen aber lediglich Verbindungen und Kontakte zu Organisationen, die den Terrorismus unterstützen oder selbst terroristisch handeln, oder zu deren Mitgliedern vor, ohne dass der Ausländer auch als Nichtmitglied durch sein Engagement eine innere Nähe und Verbundenheit zu dieser Vereinigung selbst zum Ausdruck bringt, fehlt es an einer Unterstützung im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG (vgl. VGH München, Urt. v. 25.03.2010 - 10 BV 09.178 - juris -).

Selbst wenn dem Kläger aber Unterstützungshandlungen für die PKK vorgehalten werden könnten, könnte die von § 54 Nr. 5 AufenthG zusätzlich geforderte gegenwärtige Gefährlichkeit vorliegend nicht festgestellt werden. Eine aktuelle sicherheitsbehördliche Einschätzung des Ausländers ist erforderlich, wenn - wie im vorliegenden Fall - sämtliche Anknüpfungstatsachen für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in der Vergangenheit liegen und der tatsächliche Unterstützungsbeitrag des Ausländers nicht mehr fortwirkt; ein Fortwirken ist insbesondere dann nicht mehr anzunehmen, wenn das Verhalten des Ausländers auf Grund Zeitablaufs auf das von der Vereinigung ausgehende Gefährdungsrisiko keinen Einfluss mehr hat (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19). Bei der Beurteilung einer gegenwärtigen Gefährlichkeit kommt der allgemeinen Entwicklung des Ausländers in den letzten Jahren bis zur mündlichen Verhandlung maßgebliche Bedeutung zu, insbesondere der Einbindung und Vernetzung des Ausländers in die Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt oder selbst terroristisch handelt (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 16.11.2007 - 11 S 695/07 - InfAuslR 2008, 159). Dass beim Kläger eine Einbindung und Vernetzung in Bezug auf die PKK besteht, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich und auch den vom Beklagten dem Kläger vorgehaltenen Unterstützungshandlungen nicht zu entnehmen. Der Kläger hatte keinerlei verantwortliche Tätigkeiten im Umfeld der PKK übernommen. Bei dieser Sachlage kann von einer gegenwärtigen Gefährlichkeit nicht ausgegangen werden.

Entgegen der Ansicht des Beklagten erfüllt der Kläger auch nicht den Regelausweisungstatbestand des § 54 Nr. 6 AufenthG. Nach dieser Bestimmung wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er in einer Befragung, die der Klärung von Bedenken gegen den weiteren Aufenthalt dient, der Ausländerbehörde gegenüber in wesentlichen Punkten falsche oder unvollständige Angaben über Verbindungen zu Personen oder Organisationen macht, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtigt sind.

Ob eine Angabe falsch oder unvollständig ist, richtet sich nach dem Erkenntnis- und Verständnishorizont des befragten Ausländers, so dass bloß objektiv falsche Angaben nicht tatbestandsmäßig sind (vgl. VGH München, Beschl. v. 19.02.2009 - 19 CS 08.1175 - juris -). Denn die Annahme eines die Ausweisung rechtfertigenden spezial- oder generalpräventiven Ausweisungsinteresses setzt voraus, dass der Ausländer selbst vollständig Kenntnis von dem wahren Sachverhalt hat und diesen Sachverhalt bewusst falsch oder unvollständig wiedergibt. Nur bewusst falsche oder unvollständige Angaben zu sicherheitsrelevanten Sachverhalten können den Verdacht begründen, der Ausländer wolle aus unlauteren, sicherheitsrelevanten Motiven heraus etwas verbergen. Von Bedeutung ist der Verständnishorizont des Ausländers auch insoweit, als bestimmte Begriffe mehreren Interpretationen zugänglich sind, so dass die Frage vom Ausländer anders verstanden werden kann als vom Befrager gemeint und umgekehrt (vgl. VGH München, Beschl. v. 19.02.2009 - 19 CS 08.1175 - juris -; Discher in: GK-AufenthG, § 54 Rdnr. 742).

Hiervon ausgehend vermag die Feststellung des Regierungspräsidiums Stuttgart im angefochtenen Bescheid, der Kläger habe anlässlich der Sicherheitsbefragung am 28.07.2009 wahrheitswidrige Angaben gemacht, nicht zu tragen. Der Kläger hat die Fragen zum Kontakt zur PKK sowie zum

Kontakt zu einer Person, die der PKK nahestand, jeweils mit "nein" beantwortet. Diese Antworten können entgegen der Ansicht des Beklagten nicht als falsch im Sinne des § 54 Nr. 6 AufenthG gewertet werden. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, er habe keine direkte Verbindung zur PKK. Nach seiner Ansicht liege ein "Kontakt" nur vor, wenn man Mitglied einer Organisation sei oder für die Organisation arbeite; dies sei bei ihm jedoch nicht der Fall. Nach diesem maßgeblichen Verständnis ist aber nach dem Akteninhalt und dem Vorbringen des Beklagten nicht erkennbar, dass der Kläger einen "Kontakt" zur PKK hatte. Im Hinblick auf Ziffer 6.1 der Sicherheitsbefragung (Kontakt zu einer Person, die der PKK nahestand) gab der Kläger in der mündlichen Verhandlung an, er wisse nicht, wer welcher Organisation nahestehe. Deshalb habe er diese Frage mit nein beantwortet. Nur wenn alle Kurden als PKK-ler eingestuft würden, müsse er davon ausgehen, dass er Kontakt zu Personen gehabt habe, die der PKK nahegestanden hätten. Bei diesem Verständnishorizont kann auch die Antwort des Klägers auf die Frage Ziffer 6.1 bei der Sicherheitsbefragung nicht als falsch eingestuft werden. Ein Weiteres kommt hinzu: Eine gesetzlich angeordnete Rechtspflicht, an einer Sicherheitsbefragung aktiv teilzunehmen, gibt es nicht (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19). War aber die Teilnahme an der Sicherheitsbefragung freiwillig, so setzt eine Ausweisung nach § 54 Nr. 6 AufenthG - über den Wortlaut der Norm hinaus - auch voraus, dass der Ausländer vor Beginn der Sicherheitsbefragung auf diese Freiwilligkeit hingewiesen wurde. Dies ist vorliegend nicht geschehen. Damit ist das Ergebnis der Sicherheitsbefragung rechtlich nicht verwertbar.

Selbst wenn aber die Regelausweisungstatbestände des § 54 Nr. 5 und Nr. 6 AufenthG insgesamt oder teilweise vorliegen würden, müsste der angefochtene Bescheid auf Grund von sonstigen Rechtsfehlern aufgehoben werden. Da der Kläger sich auf den besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AufenthG berufen kann, darf die Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgen (§ 56 Abs. 1 S. 2 AufenthG). Ob vorliegend schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen bzw. ein Ausnahmefall im Hinblick auf die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 S. 3 AufenthG besteht, kann dahingestellt bleiben. Die Regelausweisung ist jedenfalls zu einer Ermessensausweisung herabgestuft (§ 56 Abs. 1 S. 5 AufenthG). Zwar hat das Regierungspräsidium Stuttgart eine Ermessensentscheidung getroffen; die hierbei angestellten Erwägungen sind indes fehlerhaft, da der Beklagte von unzutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist.

Das Regierungspräsidium Stuttgart hat seiner Ermessensentscheidung zwar zu Recht zugrunde gelegt, dass der Kläger während seines langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet die Rechte aus Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 erlangt hat; der Beklagte ist jedoch fälschlicherweise davon ausgegangen, diese Rechtsposition sei mit der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit im April 2007 erloschen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 04.02.2010 - C-14/09 -, Hava Genc - (NVwZ 2010, 367) klar und eindeutig ausgeführt, dass es nur zwei Arten von Beschränkungen der Rechte geben kann, die der Beschluss Nr. 1/80 den türkischen Staatsangehörigen verleiht, die die Voraussetzungen dieses Beschlusses erfüllen: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen. Damit führt die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit nicht zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB 1/80 (ebenso zur Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80 BVerwG, Urt. v. 09.08.2007 - 1 C 47/06 - BVerwGE 129, 162). Die entgegengesetzte Rechtsprechung des VGH Kassel (Beschl. v. 09.02.2004 - 12 TG 3548/03 - NVwZ-RR 2004, 453) und des VGH München (Urt. v. 26.03.2007 - 24 BV 03.2091 - juris -), auf die sich das Regierungspräsidium Stuttgart bezogen hat, ist überholt. Ob aufgrund des ARB-Status des Klägers seine Ausweisung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 28 Abs. 3a der Unionsbürger-RL 2004/38/EG zulässig ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.08.2009 - 1 C 25/08 - NVwZ 2010, 392; VGH Mannheim, Beschl. v. 22.07.2008 - 13 1917/07 - juris), kann dahingestellt bleiben. Der Beklagte hätte jedenfalls berücksichtigen müssen, dass eine Ausweisung des Klägers eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraussetzt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. EuGH, Urt. v. 10.02.2000, C - 340/97, Nazli, Slg. 2000, I - 957 Rn. 57). Zudem hat das Regierungspräsidium Stuttgart übersehen, dass die Ausweisung des Klägers aufgrund seines ARB-Status weder tragend noch auch nur mittragend auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden darf (vgl. BVerwG, Urt. v. 06.10.2005 - 1 C 5/04 - BVerwGE 124, 243).

Bei seiner Ermessensentscheidung ist der Beklagte weiter davon ausgegangen, es sei der Ehefrau und den Kindern des Klägers zumutbar, die familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Kläger im Falle eines Verlustes der beim Kläger bestehenden Abschiebungsverbote in der Türkei fortzuführen. Mit dieser Annahme hat das Regierungspräsidium Stuttgart indes verkannt, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch der Ehefrau des Klägers den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat. Besitzt aber ein Familienmitglied den Status eines Flüchtlings, so ist diesem ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht zumutbar, so dass die familiäre Lebensgemeinschaft auch nur im Bundesgebiet gelebt werden kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81; BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 3/08 - NVwZ 2009, 1239).

Schließlich hat das Regierungspräsidium Stuttgart bei seiner Ermessensentscheidung übersehen, dass es die Qualität der Unterstützungshandlungen und die Gefährdungslage mit dem jeweils gebotenen Gewicht in die Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte einzustellen hat (vgl. VGH Mannheim, Beschl. v. 28.09.2010 - 11 S 1978/10 - InfAuslR 2011, 19; Beschl. v. 08.12.2010 - 11 S 2366/10 und Beschl. v. 16.12.2010 - 11 S 2374/10). Der Beklagte hat bei seiner Ermessensentscheidung die dem Kläger vorgehaltenen Unterstützungshandlungen und die hieraus jeweils folgende Gefährdungslage weder einzeln gewürdigt noch qualitativ gewichtet und somit wesentliche Gesichtspunkte bei der gebotenen umfassenden Abwägung nicht berücksichtigt. Die Ausweisung kann danach keinen Bestand haben; sie ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist deshalb aufzuheben (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). [...]