VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.04.2002 - A 2 S 712/01 - asyl.net: M1879
https://www.asyl.net/rsdb/M1879
Leitsatz:

Sind die Bindungen irakischer Staatsangehöriger aus dem Zentralirak in das verfolgungsfreie Gebiet im Nordirak in Bezug auf die Verschaffung des notwendigen Existenzminimums nicht für die Annahme einer ausreichenden kurdischen Solidarität ihnen gegenüber geeignet, steht dies der Annahme einer inländischen Fluchtalternative in den autonomen Gebieten des Nordirak nicht entgegen. Sie können dort nämlich bei ihrer Rückkehr durch Hilfsorganisationen und lokale Behörden in einer Weise versorgt werden, die zumindest zu keiner Verschlechterung ihrer allgemeinen Lebensumstände gegenüber den Zuständen im Zentralirak führen würde.(Amtlicher Leitsatz).

Schlagwörter: Irak, Zentralirak, Kurden, Familienangehörige, Ehemann, Oppositionelle, Sippenhaft, Verhör, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Illegale Ausreise, Antragstellung als Asylgrund, Strafverfolgung, Amnestie, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Gebietsgewalt, Existenzminimum, Soziale Bindungen, Hilfsorganisationen, UNHCR, Flüchtlingslager, Reisewege, Freiwillige Ausreise, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Extreme Gefahrenlage, Allgemeine Gefahr, Mangelernährung
Normen: AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

 

Die Kläger sind danach auf das verfolgungsfreie Gebiet im Nordirak zu verweisen. Die mündliche Verhandlung hat zwar nicht ergeben, dass sie über verwandtschaftliche Beziehungen in den Nordirak verfügen. Der Senat geht indessen davon aus, dass die Kläger wegen der geschäftlichen Beziehungen des Zeugen in den Nordirak jedenfalls ein "Leumundszeugnis" bekommen könnten, das ihnen bei einer Befragung durch die nordirakischen Stellen helfen und sie gegen den Verdacht - sofern er nicht wegen ihrer persönlichen Umstände ohnehin schon auszuschließen ist - schützen könnte, sie beabsichtigten sich als Agenten des Zentralirak zu betätigen (vgl. zum Risiko derartiger Verdächtigungen UNHCR vom 23.11.2001 für OVG Magdeburg). Selbst wenn diese Verbindung nicht für die Annahme ausreicht, dass die Kläger auf eine ausreichende kurdische Solidarität ihnen gegenüber rechnen können, die ihnen das notwendige Existenzminimum im Nordirak verschafft, kann doch davon ausgegangen werden, dass sie insoweit durch Hilfsorganisationen und lokale Behörden in einer Weise versorgt werden, die zumindest zu keiner Verschlechterung ihrer allgemeinen Lebensumstände gegenüber den Zuständen im Zentralirak, aus dem sie kommen, führen würde.

Die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel gehen übereinstimmend davon aus, dass sich die sozial-ökonomische Situation im Nordirak seit 1999 verbessert hat und die allgemeinen Lebensumstände dort günstiger als im Zentralirak sind (vgl. dazu Algemeen Ambtsbericht Noord-lrak/April 2001; AA, Lagebericht vom 5.9.2001; DOI vom 20.11.2001 für OVG Magdeburg).

Als Grund dafür wird übereinstimmend angegeben, dass die Lieferungen im Rahmen des "Oil-for-Food"-Programms im Norden eine wesentlich höhere Quote pro Kopf der Bevölkerung zulassen als im Zentral- und Südirak (Bevölkerungsanteil der Nordprovinzen 12,5 %, bereitgestellte Quote aus den "Oil-for-Food"-Erlösen ca. 13 % / Bevölkerungsanteil des Zentral- und Südirak 87 %, bereitgestellte Quote aus den "Oil-for-Food"-Erlösen seit Dezember 2000 etwa 59 %), dass sie direkt von den VN-Organisationen und ausländischen NROs betreut werden und erhebliche Gewinne aus Transitgebühren und Schmuggelaktivitäten hinzukommen.

Der zunehmende Wohlstand kommt allerdings der Bevölkerung im Nordirak nicht in gleichem Maß zugute. Auch kann nicht die Rede von einer verhältnismäßigen Einkommens- und Wohlstandsverteilung sein. Heimatlose und alleinstehende Frauen mit Familien stehen im Allgemeinen unten an der Einkommensleiter. Hilfsorganisationen und lokale Behörden achten jedoch darauf, dass die wichtigsten Lebensbedürfnisse, wie Nahrung und Obdach, der am meisten verletzbaren Gruppen im Nordirak durch Gratisabgabe von Gütern und Dienstleistungen erfüllt werden. Heimatlose werden durch die lokalen Behörden, durch Nichtregierungsorganisationen, ICRC, IFRC und VN-Organisationen unterstützt. Dies gilt auch auch für sunnitische und schiitische Araber, die im Allgemeinen anders als etwa Kurden aus dem Zentralirak nicht über Verbindungen in den Nordirak verfügen. Auch die Heimatlosen haben einen Vorteil von den verbesserten sozialökonomischen Umständen im Nordirak. Hilfsaktivitäten, gerichtet auf Heimatlose, werden von VN-lnstanzen (WHO, UNDP, UNHCR, UNICEF, FAO usw.) und von Nichtregierungsorganisationen unternommen. Viele Heimatlose sind in alten Schulen, Fabriken, Hotels, verlassenen Kasernen, Fords, Baracken, Notwohnungen und Zelten untergebracht. Internationale Organisationen haben in den vergangenen Jahren an verschiedenen Stellen im Nordirak neue Unterkünfte gebaut, um Heimatlosen ein besseres Obdach zu bieten. Die große Zunahme von verfügbaren Fonds aus dem Oil-for-Food-Programm hat in dem vergangenen Zeitraum für einen Aufschwung an neuen Bauprojekten gesorgt. Auf dem Gebiet der Unterkünfte konnte deshalb in dem vergangenen Zeitraum ein substantieller Fortschritt gebucht werden. Dementsprechend müssen im Nordirak jetzt kaum noch Heimatlose in Zelten untergebracht werden (Algemeen ambtsbericht Noord-lrak; hinsichtlich der Aufnahme von Arabern in die Flüchtlingslager im Nordirak: mündliche Erläuterung des UNHCR-Gutachtens vom 23.11.2001 in der Sitzung des OVG Magdeburg vom 6.12.2001).

Auf Grund der insgesamt günstigeren Verhältnisse im Nordirak gestalten sich danach die allgemeinen Verhältnisse für die Teile der irakischen Bevölkerung, die auf den "Warenkorb" des "Oil-for-Food-Programms" zur Deckung ihres Nahrungs-Grundbedarfs angewiesen sind, dort besser als im Zentral- und Südirak (so ausdr.: DOI vom 20.11.2001 an OVG Magdeburg).

Soweit der UNHCR in seinem Gutachten vom 23.11.2001 (an OVG Magdeburg) darauf hingewiesen hat, in den nördlichen Provinzen sei verunreinigtes Wasser ein immer noch verbreitetes Problem und Wasserproben hätten ergeben, dass in den Stadtzentren von Arbil und Dohuk das Wasser zum Konsum ungeeignet sei, in den kleinstädtischen und ländlichen Gebieten im Nordirak gehe die bakteriologische Verunreinigung über die von der World-Health-Organisation (WHO) erstellten Grenzwerte hinaus, geht dieses Statement auf den diesem Gutachten angehefteten Bericht des Security Council vom 28.9.2001 zurück, nach dem immerhin 90 % der Bevölkerung mit vorbehandeltem Wasser versorgt werden kann, wobei allerdings Verunreinigung ein weit verbreitetes Problem ist. Es würden aber ständig Anstrengungen unternommen um die Situation zu verbessern. Demgegenüber ist davon die Rede, dass im Zentral- und Südirak das Wasser zum Teil in Tankwagen geliefert werden musste, wobei lediglich 25 bis 50 % des Bedarfs erfüllt werden konnte. In diesem Zusammenhang wird der Mangel von Laborausstattung und Chemikalien zur Wasserbehandlung erwähnt. 70 % der gelieferten Leitungen könnten derzeit wegen unzureichender Transport- und Konstruktionsausstattung nicht verlegt werden. Dem entspricht es, dass das Orient-Institut in seinem Gutachten vom 20.11.2001 (an OVG Magdeburg) darauf hinweist, dass das im "Warenkorb" enthaltene Babymilchpulver schlechterdings wertlos sei, wenn kein sauberes Wasser zur Zubereitung der Babynahrung zur Verfügung stehe, soweit das Sanktionenkomitee den Einkauf von Wasseraufbereitungsanlagen verhindere, weil diese etwa auch zu militärischen Zwecken benutzt werden könnten. Hingegen besteht nach Kenntnis des Deutschen Orient-Instituts in den kurdischen Nordprovinzen kein grundsätzliches Wasserproblem, vielmehr ist allgemein der Zugang zu Trinkwasser in dem nötigen Umfang vorhanden. Nach alledem ist die Versorgung im Nordirak keinesfalls schlechter als die im Zentralirak. Dies gilt auch für heimatlose Flüchtlinge.

Ist die Bevölkerung im Irak gleichwohl allgemein den Gesundheitsgefahren ausgesetzt, die sich langfristig aus Fehl- und Mangelernährung ergeben, kann hieraus auch nicht die Verpflichtung des Bundesamts folgen, die tatbestandIichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG festzustellen. Denn erhebliche konkrete Gefahren für Leib und Leben, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, werden nach § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG lediglich bei der Entscheidung nach § 54 AuslG berücksichtigt. In diesen Fällen einer allgemeinen Gefahr gilt im Grundsatz - d.h. wenn keine extremen Gefahren vorliegen - die Sperrwirkung des § 54 i.V.m. § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG, d.h. ein Abschiebungsschutz kann ohne Erlass nach § 54 AuslG nicht gewährt werden, weil dies wegen der Vielzahl der Anwendungsfälle und der daraus resultierenden Präzedenzwirkung einer politischen Entscheidung der obersten Landesbehörde vorbehalten bleiben soll (BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95-, BVerwGE 99, 324 und dem folgend Treiber in GK-AuslR 2000, § 53 Rdnr. 245).

Die Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG entfällt jedoch dann, wenn nach Art. 1 und 2 GG bei entsprechender Gefahrenverdichtung Abschiebungsschutz zwingend verfassungsrechtlich geboten ist und § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG - mit auf Null reduziertem Ermessen - deshalb zwingend zur Anwendung kommen muss (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 und BVerfG, Beschluss vom 21.12.1994 - 2 BvL 81 und 21/92 -, InfAuslR 1995, 251). Eine extreme Gefahrenlage, bei deren Vorliegen die Sperrwirkung durchbrochen wird, setzt eine extrem hohe Gefahr in dem Sinne voraus, dass der Betroffene "durch die Abschiebung unmittelbar, nämlich sehenden Auges dem sicheren Tod aus(ge)liefert würde (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 17.10.1995, aaO). Eine derartige Gefahrenlage besteht allerdings nicht nur, wenn Tod oder schwerste Verletzungen, gewissermaßen noch am Tag der Ankunft im Abschiebestaat, sondern beispielsweise auch, wenn der Ausländer mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (BVerwG, Beschluss vom 26.1.1999 - 9 B 617.98 -, InfAuslR 1999, 265). Dies ist nicht schon anzunehmen, weil etwa die im Warenkorb des WFP enthaltenen Lebensmittel zu einer einseitigen Mangelernährung führen.

Schließlich scheidet der Nordirak für die Kläger auch nicht wegen fehlender zumutbarer Erreichbarkeit von vornherein als sicherer Landesteil in dem sie Zuflucht finden können, aus (dazu BVerwG, Urteil vom 16.1.2001 - 9 C 16.00 -). Die vom Senat angenommene Möglichkeit, den Norden des Iraks über die Türkei zu erreichen, ist nach wie vor eröffnet. Selbst wenn eine zwangsweise Abschiebung durch die Türkei wegen fehlender Bereitschaft der türkischen Behörden zur Ermöglichung des Transits zur Zeit nicht möglich ist (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5.9.2001), ändert allein diese Tatsache nichts an der grundsätzlichen Eignung dieser Rückreiseroute (dazu das o.a. Urteil vom 21.1.1999).