LSG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 26.05.2011 - L 1 AY 16/10 - asyl.net: M18803
https://www.asyl.net/rsdb/M18803
Leitsatz:

Kostenfreiheit für Widerspruchsverfahren nach dem AsylbLG. § 64 Abs. 1 SGB X ist auf das Verwaltungsverfahren nach dem AsylbLG entsprechend anzuwenden, da der Gesetzgeber zur Überzeugung des Senats die Kostenfreiheit versehentlich nicht geregelt hat und insoweit eine Gesetzeslücke vorliegt.

Schlagwörter: Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Kosten, Widerspruchsverfahren, Analogie, Treu und Glauben, Existenzminimum,
Normen: SGB X § 64 Abs. 1, SGB I § 11, GG Art. 3 Abs. 1, SGB X § 64 Abs. 3 S. 2, SGG § 183, BGB § 242, AsylbLG § 6 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte gegenüber der Klägerin Kosten eines Widerspruchsverfahrens betr. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von 144,50 € festsetzen darf. [...]

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat den Bescheid des Beklagten vom 20.08.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2009 zu Recht aufgehoben. Der Beklagte war nicht berechtigt, gegenüber der Klägerin Kosten des Widerspruchsverfahrens nach dem AsylbLG festzusetzen. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Unerheblich ist, dass die Kostengrundentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 20.07.2009) bestandskräftig (§ 77 Sozialgerichtsgesetz - SGG) geworden ist. Im Rahmen der hier zu überprüfenden Kostenfestsetzung ist eigenständig zu prüfen, ob eine Rechtsgrundlage gegeben ist (vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom 25.02.1999 - 12 L 4133/98 -, Juris Rdnr. 30).

Eine Rechtsgrundlage zur Festsetzung von Kosten des Widerspruchsverfahrens gegenüber der Klägerin nach Maßgabe der Vorschriften des Landesgebührengesetzes besteht deshalb nicht, weil das Verfahren kostenfrei ist. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus § 64 Abs. 1 SGB X. Hiernach werden für das Verfahren bei den Behörden nach diesem Gesetzbuch keine Gebühren und Auslagen erhoben. Diese Vorschrift fasst die verschiedenen Kostenvorschriften des Sozialrechts zusammen und gilt auch - wie vorliegend - für das Widerspruchsverfahren (vgl. BT-Drucks. 8/2034).

Zutreffend ist, dass das Verfahren nach dem AsylbLG grundsätzlich nicht dem Sozialgesetzbuch unterliegt. Das AsylbLG ist weder Teil des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) und gilt - weil in dieser Norm nicht aufgeführt - nach § 68 SGB I auch nicht als besonderer Teil des Sozialgesetzbuches. Lediglich in den im AsylbLG besonders genannten Einzelfällen (§ 2 Abs. 1, § 7 Abs. 4, § 9) wird auf bestimmte Vorschriften des Sozialgesetzbuches verwiesen. Hieraus ergibt sich allerdings lediglich, dass das AsylbLG nicht dem formellen Sozialrecht zuzuordnen ist. Im übrigen fehlt es den Leistungen nach dem AsylbLG an deren Sozialleistungsqualität im Sinne des Sozialgesetzbuches. Der Begriff der Sozialleistung ist in § 11 SGB I definiert. Gegenstand der sozialen Rechte sind danach die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen (Sozialleistungen). Sozialleistungen sind also solche Leistungen, die der Verwirklichung eines der in §§ 3 bis 10 SGB I genannten sozialen Rechte dienen, im Sozialgesetzbuch geregelt sind und die dem Träger der sozialen Rechte dadurch zu Gute kommen, dass bei ihm eine vorteilhafte Rechtsposition begründet wird (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 23/07 R -, SozR 4-2500 § 264 Nr. 2 Rdnr. 19). Die Regelung des § 64 Abs. 1 SGB X ist damit nicht unmittelbar auf das AsylbLG anwendbar.

Gleichwohl besteht eine Kostenfreiheit für das Verfahren nach dem AsylbLG. Denn es liegt zur Überzeugung des Senats eine Gesetzeslücke vor, die durch eine entsprechende Anwendung des § 64 Abs. 1 SGB X auf das Verwaltungsverfahren nach dem AsylbLG auszufüllen ist.

Gerichte sind zur Ausfüllung von Regelungslücken bei drei Konstellationen berufen: 1. bei Schweigen des Gesetzes, weil es der Gesetzgeber der Rechtsprechung überlassen wollte, das Recht in Detailfragen zu finden, 2. bei Schweigen des Gesetzes aufgrund eines Versehens oder Übersehens eines Tatbestandes, 3. bei Veränderungen der Lebensverhältnisse nach Erlass des Gesetzes, die der Gesetzgeber deshalb noch nicht berücksichtigen konnte (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 07.10.2009 - B 11 AL 31/08 R -, SozR 4-4300 § 335 Nr. 2 Rdnr. 19).

Vorliegend ist die zweite Variante gegeben. Aus dem Gesetz und aus den Gesetzesmaterialien zur Entstehung des AsylbLG ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass eine unterschiedliche Behandlung der Bezieher von Sozialhilfe einerseits und Leistungen nach dem AsylbLG andererseits hinsichtlich der kostenmäßigen Belastung bei der Durchführung von Verwaltungsverfahren gewollt war. Daher ist die diesbezügliche Kostenfreiheit für Empfänger von Sozialhilfeleistungen auch auf die Empfänger von Leistungen nach dem AsylbLG zu erweitern. Die Gesetzeslücke kann durch entsprechende Anwendung des § 64 Abs. 1 SGB X auf das AsylbLG geschlossen werden.

Die Methode der Analogie ist eine verfassungsrechtlich anerkannte Form der richterlichen Rechtsfortbildung. Sie ist allerdings von der dem Gesetzgeber vorbehaltenen Gesetzeskorrektur abzugrenzen. Die vom Verfassungsrecht gezogene Grenze verläuft im allgemeinen dort, wo die Gerichte ohne das Vorhandensein einer sich aus Systematik und Sinn des Gesetzes ergebenden Lücke allein unter Berufung auf allgemeine Rechtsprinzipien, die eine konkrete rechtliche Ableitung nicht zulassen, oder aus rechtspolitischen Erwägungen Neuregelungen oder Rechtsinstitute schaffen. Dem Gericht ist es verwehrt, sich unter Verkennung seiner eigenen Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz - GG -) aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz zu begeben. Stets darf demgemäß richterliche Rechtsfortbildung im Wege der Analogie nur dann eingesetzt werden, wenn das Gericht aufgrund einer Betrachtung und Wertung des einfachen Gesetzesrechts eine Gesetzeslücke feststellt. Eine derartige Lücke ist aber nicht bereits dann gegeben, wenn eine erwünschte Ausnahmeregelung fehlt oder eine gesetzliche Regelung aus sozial- oder rechtspolitischen Erwägungen als unbefriedigend empfunden wird. Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürfen die Gerichte diese - auch im Interesse der Rechtssicherheit für den einzelnen Bürger - nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so ggf. im Parlament gar nicht erreichbar war. Eine Lücke im Gesetz liegt daher nur da vor, wo es unvollständig und damit ergänzungsbedürftig ist und wo seine Ergänzung nicht etwa einer vom Gesetz gewollten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Es muss sich dabei um eine dem Plan des Gesetzgebers widersprechende, also eine "planwidrige Unvollständigkeit" handeln (vgl. BSG, Urteil vom 04.05.1999 - B 4 RA 55/98 R -, SozR 3-2600 § 34 Nr. 1, Juris Rdnr. 38). Die analoge Anwendung eines Gesetzes auf gesetzlich nicht umfasste Sachverhalte ist dann geboten, wenn auch der nicht geregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zugrunde liegenden Interessenlage hätte einbezogen werden müssen. Denn dieses Gebot beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (vgl. BSG, Urteil vom 23.11.1995 - 1 RK 11/95 -, SozR 3-2500 § 38 Nr. 1, Juris Rdnr. 16).

Eine solche Gesetzeslücke ist hier gegeben.

Das am 01.11.1993 in Kraft getretene AsylbLG ist Folge des im Gesetzgebungsverfahren so bezeichneten Asylkompromisses vom Dezember 1992 und sollte im Vergleich zum bisherigen Bundessozialhilfegesetz deutlich niedrigere Leistungen gewähren. Es sollte damit jeglicher Anreiz für Ausländer genommen werden, aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland zu kommen und durch die Umstellung auf Sachleistungen sollte den Schlepperbanden der Nährboden entzogen werden. Der Aufenthalt von Asylbewerbern sollte vorerst nicht deren Integration dienen, sondern ihnen eben nur die Durchführung ihres Asylverfahrens im Inland ermöglichen (vgl. Hohm in Schellhorn/Scheuhorn/Hohm, SGB XII, 17. Aufl., Vorbem. AsylbLG Rdnr. 6; Linhardt/Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG, Einführung AsylbLG B IV Rdnr. 10; vgl. auch Niedersächsisches OVG aaO Rdnr. 36). Aufgrund der bestehenden Berührungspunkte zwischen dem AsylbLG und dem Sozialhilferecht ist es jedoch berechtigt, vom AsylbLG als einem "Sonder-Sozialhilferecht" zu sprechen (vgl. Hohm aaO Rdnr. 4).

Die weitere Rechtsentwicklung zeigt, dass der Gesetzgeber versehentlich eine Kostenfreiheit für Leistungsempfänger nach dem AsylbLG nicht geregelt hat. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I S. 1706) hat der Gesetzgeber in die Vorschrift des § 64 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz SGB X aufgenommen, dass die Kostenfreiheit für gerichtliche Verfahren auch für die Träger der Leistungen nach dem AsylbLG gilt (in der Gesetzesbegründung wurde darauf verwiesen, dass gem. § 188 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) Gerichtskosten in Verfahren in dem Sachgebiet der Sozialhilfe nicht erhoben wurden. Die für Verfahren vor den Sozialgerichten anzuwendende Vorschrift des § 64 Abs. 3 Satz 2 befreie ausdrücklich lediglich die Träger der Sozialhilfe von den Gerichtskosten. Durch die Gesetzesänderung solle klargestellt werden, dass die Kostenfreiheit auch für die Träger der Leistungen nach dem AsylbLG gilt (BT-Drucks. 16/1410 zu Art. 6 Nr. 1 S. 33). Hierdurch hat der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck gebracht, dass er die Angelegenheiten des AsylbLG zu dem Recht der Sozialhilfe zählt und dass er die Leistungsträger den Sozialhilfeträgern kostenrechtlich gleichstellen will. Damit hat er eine Kostenfreiheit der Leistungsträger für das Gerichtsverfahren geregelt. Die Leistungsempfänger nach dem AsylbLG waren bereits nach § 183 SGG von der Tragung von Gerichtskosten befreit.

Ein sachlicher Gesichtspunkt, den Personenkreis der Empfänger von Leistungen nach dem AsylbLG mit Kosten des Verwaltungsverfahrens zu belasten, ist nicht ersichtlich. Der Gesetzgeber hat zur Überzeugung des Senats aus Versehen die Kostenfreiheit nicht auch für das Verwaltungsverfahren nach dem AsylbLG gem. § 64 Abs. 1 SGB X festgelegt. Diese Lücke ist durch entsprechende Anwendung zu schließen. Dies gebietet auch die Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 GG, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Bei einer wortgetreuen Anwendung des § 64 Abs. 1 SGB X wird nämlich bewirkt, dass Leistungsempfänger nach dem AsylbLG anders behandelt werden, als Personen, die Sozialhilfe erhalten. Diese müssen nämlich keine Kosten für das Verwaltungsverfahren tragen. Empfänger nach dem AsylbLG werden damit ohne hinreichend gerechtfertigten Grund schlechter behandelt (vgl. auch Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss des 1. Senats vom 11.07.2006 - 1 BvR 293/05 -, BVerfGE 116, 229 zu dem Einsatz von Schmerzensgeld für den Lebensunterhalt). Zur Überzeugung des Senats bewegt sich diese Lückenfüllung im Wege gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung innerhalb des Regelungsplans des Gesetzes, da die notwendigen Wertungen im Gesetz selbst - § 64 Abs. 3 Satz 2 1. Halbsatz SGB X und § 183 SGG - angelegt sind. Der Senat vermag der Auffassung des Niedersächsischen OVG (aaO) nicht zu folgen, welches das Bestehen einer auszufüllenden Lücke verneint hat.

Im Übrigen könnte vorliegend auch zu erwägen sein, die angefochtene Entscheidung wegen einer Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) in Ausprägung der unzulässigen bzw. rechtsmissbräuchlichen Rechtsausübung (venire contra factum proprium) aufzuheben. Es spricht viel dafür, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin die von ihm festgesetzten Kosten als Leistungen nach § 6 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren. Nach dieser Vorschrift können sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind. Die Leistungen sind als Sachleistungen, bei Vorliegen besonderer Umstände als Geldleistung zu gewähren. Die Klägerin ist zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf die Leistungen nach dem AsylbLG (Bescheid vom 08.11.2010) in unerlässlicher Weise angewiesen. Sie ist nicht in der Lage, die geforderten Kosten zu zahlen, ohne dass ihr lebensnotwendiges Existenzminimum unterschritten wäre. Diese Kosten des Widerspruchsverfahrens könnten damit gem. § 6 Abs. 1 AsylbLG von dem Beklagten als Geldleistung zu gewähren sein (vgl. Hohm aaO Rdnr. 27). Ein Ermessensspielraum des Beklagten, in dessen Rahmen eine andere Entscheidung als die Übernahme dieser Kosten zu treffen wäre, ist nicht denkbar. Der Beklagte würde daher widersprüchlich handeln, von der Klägerin Kosten zu fordern, die er gleichzeitig ihr als sonstige Leistung wieder gewähren müsste. [...]