VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 25.02.2011 - 1 A 218/09 HAL - asyl.net: M18853
https://www.asyl.net/rsdb/M18853
Leitsatz:

Bei einem insulinpflichtigen Diabetes, bei der durch das Bundesamt ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG festgestellt wurde, ist eine Befristung der Wirkung der Ausweisung ohne Ausreise geboten, da dem Staat eine grundgesetzliche Schutzpflicht für Leben und Gesundheit zukommt.

Schlagwörter: Befristung der Wirkung der Ausweisung, Schutzpflicht des Staates, Leben, Gesundheit, Passpflicht, körperliche Unversehrtheit
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, GG Art. 2 Abs. 2, AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Befristung der Ausweisung mit sofortiger Wirkung und damit auch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach 25 Abs. 3 AufenthG. [...]

Das Verpflichtungsbegehren des Klägers ist begründet. Dem Grunde nach besteht der Anspruch auf Befristung. Anhaltspunkte dafür, dass hier ein Fall vorliegt, der ausnahmsweise eine Befristung ausschließt (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG), sind nicht ersichtlich und auch nicht geltend gemacht worden.

Vorliegend hat der Kläger auch einen Anspruch darauf, dass die Befristung abweichend von § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG ausnahmsweise mit sofortiger Wirkung ohne vorherige Ausreise erfolgt. Zwar steht die Bemessung der Dauer der Frist grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde. Hier liegt aber der Fall einer Ermessensreduzierung auf Null vor. Dies ist in begründeten Ausnahmefällen geboten, wenn höherrangiges Recht hierzu zwingt (BVerwG, Urteil vom 4. September 2007 - 1 C 43.06 -, Juris). Dies hat das Bundesverwaltungsgericht zwar bisher nur hinsichtlich den sich aus Art. 6 GG ergebenden Schutzwirkungen entschieden und ausgeführt, dass diesen auch im Rahmen der Bemessung der Befristung nach 11 Abs. 1 AufenthG Rechnung zu tragen sei. Dies muss grundsätzlich aber auch in anderen Fällen, in denen sich der Betroffene auf grundrechtlichen Schutz berufen kann, gelten. Ist wie hier die körperliche Unversehrtheit betroffen, ist die Sperrwirkung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG ausnahmsweise gleichfalls so zu befristen, dass der Aufenthalt sogleich genehmigt worden kann.

Zwar gewährt der grundrechtliche Schutz des Grundgesetzes unmittelbar keinen Anspruch. Die Ausländerbehörde hat aber die durch höherrangiges Recht geschützten Belange des Ausländers bei allen aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen In Ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dieser verfassungsrechtlichen Pflicht des Staates zum Schutz von Leben und Gesundheit entspricht ein Anspruch des Trägers des Grundrechts aus Art. 2 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über den Aufenthalt diese berechtigen Interessen angemessen berücksichtigen. Kann dem Betroffenen danach wegen der Gefahr für Leib und Leben ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zugemutet werden, so drängt die Pflicht des Staates, das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen, im Regelfall einwanderungspolitsche Belange zurück. Dementsprechend Ist im Einzelfall zu würdigen, welche Folgen eine (vorübergehende) Ausreise für den Betroffenen hätte.

Für den hier zu entscheidenden Fall folgt daraus, dass die Befristung mit sofortiger Wirkung zu erfolgen hat und eine vorherige Ausreise des Klägers nicht verlangt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1999 - 1 C 13.99 -, Juris). Dem Kläger ist es nicht zuzumuten, das Bundesgebiet zu verlassen und seinen (ggf. auch nur vorübergehenden) Aufenthalt im Niger zu nehmen. Vom Kläger kann aufgrund seiner Erkrankung mit dem Erfordernis einer ununterbrochenen medikamentösen Behandlung nicht verlangt werden, auch nur vorübergehend aus der Bundesrepublik auszureisen. Aufgrund der in seinem Heimatland durch das Bundesamt bestätigten nicht gewährleisteten Medikamentenversorgung bestünde bei diesem, der die Medikamente täglich mehrmals benötigt, die Gefahr einer unmittelbaren lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung. Damit ist ihm nicht zuzumuten, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit im Niger zu nehmen, zumal das vom Kläger benötigte Visum nicht durch die Beklagten erteilt wird, so dass offen wär, wann eine genehmigte Rückkehr möglich wäre.

Dieses Ergebnis wird auch durch die weiteren Bestimmungen des AufenthG bestätigt. Die Inkaufnahme einer lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung ist grundsätzlich vom AufenthG nicht vorgesehen. Unabhängig vom Verbot der Abschiebung (§ 60a Abs. 2 AufenthG) ergibt sich insbesondere aus der Regelung des § 25 Abs. 5 AufenthG, dass trotz eines bestehenden Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu erteilen ist. Dadurch wird das Prinzip des grundsätzlichen Aufenthaltsverbots nach erfolgter Ausweisung durchbrochen. Darin enthalten ist zugleich die Befugnis für Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG, die Aufenthaltserlaubnis aus dem Inland heraus zu beantragen. Neben dieser bereits vom Gesetz selbst eröffneten Möglichkeit einer Befristungsentscheidung ohne vorheriges Verlassen des Bundesgebietes ist es sachgerecht, dies auch im Falle des Klägers, dem gleichfalls aus humanitären Gründen ein Verlassen der Bundesrepublik unmöglich ist, anzuerkennen.

Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird auch bestätigt durch die weiteren Umstände. Hier liegt zu Lasten des Klägers lediglich eine Ausweisungsverfügung nach § 55 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG wegen des Missbrauchs von Ausweispapieren und wegen des Verstoßes gegen die räumliche Beschränkung vor. Weitere Straftaten hat der Kläger nicht verwirklicht, sondern sich während seines weiteren Aufenthaltes im Bundesgebiet nach Aktenlage rechtstreu verhalten. Bei dieser Sachlage bestehen weder aus spezialpräventiven noch aus generalpräventiven Gründen Bedenken dagegen, dass hier die Wirkungen der Ausweisung ab sofort befristet wird. Hinsichtlich des Klägers ist nicht festzustellen, dass von dessen weiterem Aufenthalt eine Beeinträchtigung öffentlicher Interessen ausgeht.

Allerdings ist die Befristung der Ausweisung nicht auf einen rückwirkenden Zeitpunkt zu bestimmen. Grundsätzlich beginnt die Frist für die Befristung mit der Ausreise (§ 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) und damit unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung. Dies ist entsprechend auch bei einem Antrag auf Befristung der Ausweisung mit sofortiger Wirkung ohne vorherige Ausreise anzunehmen. Allein deswegen, weil hier die Ausreise ausnahmsweise entbehrlich ist, ist es nicht angemessen und erforderlich, für den Zeitpunkt der Befristung rückwirkend auf die Antragstellung abzustellen. Vielmehr gilt dann, dass diese auf den nächstmöglichen Zeitpunkt in der Zukunft gerichtet ist. Insbesondere besteht auch in diesem Fall keine Notwendigkeit den Zeitpunkt in die Vergangenheit zu verlegen. Der Antragsteller wird bereits dadurch begünstigt, dass er nicht ausreisen muss. Für das Erfordernis einer weiteren Besserstellung ist demgegenüber eine Rechtfertigung nicht ersichtlich. Als maßgeblichem Zeitpunkt dürfte daher der der letzten mündlichen Verhandlung anzunehmen sein, da auch erst zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass der Anspruch besteht.

Der Kläger hat auch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Dieser steht insbesondere nicht (mehr) die Sperrwirkung der Ausweisung entgegen.

Nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG soll einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Abschiebungsverbot u.a. nach § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt. Dies ist hier der Fall. Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 2. Dezember 2008 festgestellt, dass hinsichtlich des Klägers aufgrund seiner Erkrankung ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt. Auch liegen in der Person des Klägers keine Ausschlussgründe gem. § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vor und sind auch nicht geltend gemacht worden. Das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG ist hier wegen der Regelung in § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht zu prüfen. Das gilt auch hinsichtlich der Passpflicht. § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sieht für die dort genannten Fälle eine zusammenfassende Sonderregelung vor. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung erreichen, dass abschiebegeschützten Ausländern ein - wenn auch befristeter Aufenthaltstitel (§ 7 AufenthG) - erteilt wird. Dem widerspräche eine Mitwirkungspflicht zur Beschaffung eines Reisepasses oder eines Heimreisescheins bei der Vertretung des Landes, für das der Ausländer Abschiebeschutz genießt. Sind - wie hier - alle Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt, soll die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nur bei Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalles ist nach Ermessen zu entscheiden. Aber auch derartige Umstände sind weder dargetan noch nach Aktenlage ersichtlich, so dass der Anspruch des Klägers auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gegeben ist. [...]